Thor Steinar - Fall

A. Sachverhalt

Die Klägerin verlangt von dem Beklagten aus abgetretenem Recht Räumung und Herausgabe eines Ladengeschäfts.

Mit Vertrag vom 1. Juni 2007 vermietete die C. Immobilien GmbH und Co. KG (i. F.: Vermieterin), vertreten durch die Klägerin, an den Beklagten in dem von Friedensreich Hundertwasser entworfenen Geschäftshaus in M. ein Ladengeschäft zum Verkauf von Textilien und Sortimenten im Outdoorbereich. Bestandteil des Vertrages war eine als Anlage 5 beigefügte Sortimentsliste vom 23. Mai 2007, die allgemeine Angaben zu dem beabsichtigten Bekleidungsangebot enthält, ohne eine Marke zu nennen. Der Beklagte beabsichtigte, in den Mieträumen nahezu ausschließlich Waren der Marke “Thor Steinar” zu verkaufen, die von der M. GmbH, deren Geschäftsführer der Beklagte war, vertrieben wird. Diese Marke wird in der Öffentlichkeit in einen ausschließlichen Bezug zur rechtsradikalen Szene gesetzt.

Nachdem die Klägerin von dem beabsichtigten Angebot der Marke “Thor Steinar” erfahren hatte, versuchte sie, den Beklagten zu einem Verzicht auf die Eröffnung des Ladens oder auf den Vertrieb des Warensortiments der Marke “Thor Steinar” zu bewegen.

Am 27. Juli 2007, dem Tag der Eröffnung des Ladens, unterzeichnete der Beklagte auf Wunsch der Klägerin eine Erklärung zum Mietvertrag, in der er versicherte, dass von seinem Gewerbe keine verfassungsrechtlich relevanten Aktivitäten ausgingen und er auch keine rechts- oder linksextremistische Parteien oder Gruppierungen finanziell unterstütze und unterstützen werde. Diese Erklärung wurde auch von dem Vertreter der Klägerin unterzeichnet.

Mit Schreiben vom 27. Juli 2007 kündigte die Vermieterin den Mietvertrag aus wichtigem Grund. Sie wiederholte die Kündigung mit Schreiben vom 2. August 2007 und erklärte darüber hinaus die Anfechtung des Mietvertrages wegen arglistiger Täuschung.

Die Vermieterin hat ihre Ansprüche auf Räumung und Herausgabe des Mietobjekts an die Klägerin abgetreten.

B. Worum geht es?

Die Anfechtung des Mietvertrages gemäß (§ 123 I BGB) setzt voraus, dass der Mieter die Vermieterin zur Abgabe einer Willenserklärung durch arglistige Täuschung bestimmt hat. Das setzt zunächst eine Täuschungshandlung des Mieters voraus. Da der Mieter weder ausdrücklich noch konkludent falsche Tatsachen behauptet hat, kommt nur eine Täuschung durch Unterlassen in Betracht. Ein Verschweigen von Tatsachen ist aber nur dann rechtserheblich, wenn eine Offenbarungspflicht besteht (vgl. § 13 StGB im Strafrecht). Der BGH hatte damit die folgende Frage zu entscheiden:

„Ist der Mieter verpflichtet, den Vermieter vor Abschluss eines Gewerberaummietvertrages über sein Warensortiment aufzuklären?“

 

C. Wie hat der Bundesgerichtshof entschieden?

Der BGH entscheidet im Thor Steinar-Fall (Urt. v. 11.8.2010 – XII ZR 192/08 (NJW 2010, S. 3362 ff.)), dass der Mieter verpflichtet sei, den Vermieter vor Abschluss eines Gewerberaummietvertrages über außergewöhnliche Umstände aufzuklären, mit denen der Vermieter nicht rechnen kann und die offensichtlich für diesen von erheblicher Bedeutung sind.

 

Der BGH stellt zunächst dar, dass eine Aufklärungspflicht grundsätzlich nicht bestehe:

„Zwar besteht bei Vertragsverhandlungen keine allgemeine Rechtspflicht, den anderen Teil über alle Einzelheiten und Umstände aufzuklären, die dessen Willensentschließung beeinflussen könnten (Staudinger/Singer/v. Finckenstein BGB Bearb. 2004 § 123 Rn. 10; MünchKommBGB/Kramer 5. Aufl. § 123 Rn. 16 bis 18; vgl. zum Kaufvertrag: BGH Urteile vom 13. Juli 1983 – VIII ZR 142/82 – NJW 1983, 2493, 2494 und vom 12. Juli 2001 – IX ZR 360/00 – NJW 2001, 3331, 3332). Vielmehr ist grundsätzlich jeder Verhandlungspartner für sein rechtsgeschäftliches Handeln selbst verantwortlich und muss sich deshalb die für die eigene Willensentscheidung notwendigen Informationen auf eigene Kosten und eigenes Risiko selbst beschaffen (BGH Urteil vom 13. Juli 1988 – VIII ZR 224/87 – NJW 1989, 763, 764 m. w. N.).“

 

Allerdings besteht nach der Rechtsprechung eine Rechtspflicht zur Aufklärung bei Vertragsverhandlungen auch ohne Nachfrage dann, wenn der andere Teil nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung redlicherweise die Mitteilung von Tatsachen erwarten durfte, die für die Willensbildung des anderen Teils offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind:

„Davon wird insbesondere bei solchen Tatsachen ausgegangen, die den Vertragszweck vereiteln oder erheblich gefährden können (BGH Urteile vom 13. Dezember 1990 – III ZR 333/89 – NJW-RR 1991, 439 und vom 8. Dezember 1989 – V ZR 246/87 – NJW 1990, 975, zu Kaufverträgen). Eine Tatsache von ausschlaggebender Bedeutung kann auch dann vorliegen, wenn sie geeignet ist, dem Vertragspartner erheblichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen.

Die Aufklärung über eine solche Tatsache kann der Vertragspartner redlicherweise aber nur verlangen, wenn er im Rahmen seiner Eigenverantwortung nicht gehalten ist, sich selbst über diese Tatsache zu informieren (vgl. Staudinger/Singer/v. Finckenstein BGB Bearb. 2004 § 123 Rn. 17 m. w. N.).“

 

In der Gewerberaummiete obliegt es danach grundsätzlich dem Vermieter, sich selbst über die Gefahren und Risiken zu informieren, die allgemein für ihn mit dem Abschluss eines Mietvertrages verbunden sind. Er muss allerdings nicht nach Umständen forschen, für die er keinen Anhaltspunkt hat und die so außergewöhnlich sind, dass er mit ihnen nicht rechnen kann. Er ist deshalb auch nicht gehalten, Internetrecherchen zum Auffinden solcher etwaiger außergewöhnlicher Umstände durchzuführen. Für die Frage, ob und in welchem Umfang eine Aufklärungspflicht besteht, kommt es danach wesentlich auf die Umstände des Einzelfalls an.

 

Im Thor Steinar-Fall sei der Mieter nach Treu und Glauben und den Grundsätzen eines redlichen Geschäftsverhaltens verpflichtet gewesen, die Vermieterin über den beabsichtigten Verkauf von nahezu ausschließlich Waren der Marke “Thor Steinar” zu informieren. Dazu beruft sich der Senat in erster Linie auf die rufschädigende Wirkung des Vertriebs der Marke:

„Das Mietobjekt lag in dem von dem Künstler Friedensreich Hundertwasser entworfenen, im Zentrum von M. gelegenen so genannten “Hundertwasserhaus”, das mit einer Gesamtmietfläche von 7000 qm von der Vermieterin als Geschäftshaus konzipiert war und aufgrund seiner besonderen Gestaltung eine Attraktion für Touristen und Kunden sein sollte.

Nach den revisionsrechtlich nicht angreifbaren Feststellungen des Berufungsgerichts wurde dieses Ziel durch den von dem Beklagten geplanten Verkauf von Waren der Marke “Thor Steinar”, die unstreitig in der öffentlichen Meinung ausschließlich der rechtsradikalen Szene zugeordnet werden, gefährdet.

Denn der Verkauf solcher Waren kann zur Folge haben, dass das Hundertwasserhaus in den Ruf gerät, Anziehungsort für rechtsradikale Käuferschichten zu sein und damit ein Ort, an dem – auch aufgrund von Demonstrationen – gewaltsame Auseinandersetzungen zu erwarten sind. Diese, das gesamte Anwesen treffende mögliche rufschädigende Wirkung ist geeignet, Kunden und Touristen fernzuhalten und damit andere Mieter im Anwesen zu einer Minderung oder Beendigung des Mietvertrages zu veranlassen und potentielle Mieter von dem Abschluss eines Mietvertrages abzuhalten. Der Verkauf von Waren der Marke “Thor Steinar” kann deshalb der Vermieterin erheblichen wirtschaftlichen Schaden zufügen.

Darüber hinaus ist die Vermietung von Räumen zum Verkauf von Waren, die in der öffentlichen Meinung ausschließlich der rechtsradikalen Szene zugeordnet werden, geeignet, den Vermieter in der öffentlichen Meinung in die Nähe zu rechtsradikalem Gedankengut zu stellen und sich auch deshalb geschäftsschädigend für ihn auszuwirken.

Im Hinblick auf diese möglichen gravierenden Auswirkungen war der beabsichtigte Verkauf von Waren dieser Marke für die Vermieterin von erheblicher Bedeutung.

Sie durfte darüber auch redlicherweise eine Aufklärung erwarten. Denn sie konnte ohne einen Hinweis auf die Marke nicht erkennen, dass der Beklagte in den Mieträumen Waren verkaufen wollte, die nahezu ausschließlich rechtsradikalen Kreisen zugeordnet werden. Sie hatte auch keine Veranlassung, dies anzunehmen. Denn bei dem Verkauf solcher Waren handelt es sich um einen außergewöhnlichen Umstand, mit dem sie nicht rechnen musste. Darüber hinaus bestand für sie aufgrund der verharmlosenden Angaben des Beklagten zum Sortiment kein Anlass zu einer Nachfrage.

Im Hinblick auf diese dem Beklagten bekannten Umstände musste es sich ihm aufdrängen, dass sich die Vermieterin insoweit über die Waren, die er zum Verkauf anbieten wollte, im Irrtum befand und dass der beabsichtigte Verkauf von Waren der Marke “Thor Steinar” für deren Entscheidung, den Mietvertrag abzuschließen, von erheblicher Bedeutung war.“

 

D. Fazit

Eine lehrreiche Entscheidung, die sehr schön die Grundsätze über zivilrechtliche Aufklärungspflichten darstellt.