Arglistige Täuschung (§ 123 I Alt. 1 BGB)

Arglistige Täuschung (§ 123 I Alt. 1 BGB)

Wer zur Abgabe einer Willenserklärung durch arglistige Täuschung bestimmt worden ist, kann die Erklärung anfechten (§ 123 I Alt. 1 BGB). Es liegt dann eine unzulässige Willensbeeinflussung des Erklärenden bereits im Stadium der Willensbildung vor. Eine derart manipulierte Willenserklärung soll der Erklärende durch Anfechtung beseitigen können, obgleich im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung keine Divergenz zwischen Willen und Erklärung vorliegt.1 § 123 BGB schützt somit die Freiheit der Willensbildung.2

Eine Willenserklärung ist unter folgenden Voraussetzungen gemäß § 123 I Alt. 1 BGB anfechtbar:3

1. Täuschung
2. Rechtswidrigkeit der Täuschung
3. Doppelte Kausalität
4. Arglist
5. Einhaltung der Anfechtungsfrist des § 124 I BGB

Täuschung

Der Erklärende muss getäuscht worden sein. Täuschung ist das bewusste Erregen, Aufrechterhalten oder Verstärken eines Irrtums durch Vorspiegeln falscher Tatsachen.

Die Täuschung muss sich auf äußere Tatsachen, d. h. sinnlich wahrnehmbare Umstände (z. B. Alter eines Kunstgegenstandes) oder auf innere Tatsachen (z. B. bestimmte Absichten) beziehen. Keine Tatsachen sind Werturteile.4

Die Täuschung kann durch aktives (ausdrückliches oder konkludentes) Tun oder, sofern eine Aufklärungspflicht („Pflicht zu reden“) besteht, durch Unterlassen erfolgen.5

Aufklärungspflichten sind teilweise gesetzlich geregelt (z. B. § 19 I 1 VVG).6 Es bestehen aber auch ungeschriebene Aufklärungspflichten, wenn der Erklärende nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) und den im Verkehr herrschenden Anschauungen im Einzelfall wegen der Bedeutung des verschwiegenen Umstands für seine Entschließung mit einer Aufklärung rechnen durfte. Es besteht allerdings keine allgemeine Pflicht, ungefragt alle Umstände offenzulegen, die für den Geschäftsgegner relevant sein könnten. Eine Aufklärungspflicht kann sich immer nur aus besonderen Gründen anhand der Umstände des Einzelfalls ergeben.7 Bestand und Umfang der jeweiligen Aufklärungspflicht werden auch vom Kenntnisstand der anderen Seite bestimmt.8 Auf gezielte Nachfrage ist der Geschäftsgegner regelmäßig zu einer wahrheitsgemäßen Aufklärung verpflichtet;9 bei unzulässigen Fragen (z. B. des Arbeitgebers bei Bewerbungsgesprächen) kann aber ausnahmsweise ein „Recht zur Lüge“ bestehen. Ein besonderes Vertrauensverhältnis (persönliche oder familiäre Verbundenheit, langjährige Geschäftsbeziehung) kann eine Aufklärungspflicht begründen. Eine besondere Vertrauensstellung kann zur Aufklärung des fachlich Unkundigen über die maßgeblichen fachlichen Umstände verpflichten. Umgekehrt kann die Aufklärungspflicht ihren Ursprung auch in der besonderen Schutzbedürftigkeit des Erklärenden (z.B. wegen geschäftlicher Unerfahrenheit) haben. Schließlich sind Umstände, die für den anderen Teil offensichtlich von erheblicher Bedeutung sind, weil sie den Vertragszweck vereiteln oder gefährden können oder auf deren Mitteilung erkennbar Wert gelegt wird, ungefragt zu offenbaren.10

Nicht empfangsbedürftige Willenserklärungen können ohne Rücksicht darauf, wer die Täuschung begangen hat, angefochten werden.11 Bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen besteht die Anfechtungsmöglichkeit grundsätzlich nur dann, wenn die Täuschung durch den Erklärungsempfänger oder eine Hilfsperson, deren Verhalten dem Erklärungsempfänger zuzurechnen ist, verübt wurde.

Beispiel: Der Erklärungsempfänger muss sich das Verhalten seines Stellvertreters zurechnen lassen (§ 164 I 1 BGB).

Täuscht ein Dritter, kann eine empfangsbedürftige12 Willenserklärung nur dann angefochten werden, wenn der Empfänger der Erklärung, dem gegenüber die Anfechtung zu erklären ist (§ 143 I, II BGB), die Täuschung kannte oder kennen musste (§ 123 II 1 BGB). Kennenmüssen bedeutet Unkenntnis infolge von Fahrlässigkeit (§ 122 II BGB), Fahrlässigkeit das Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 II BGB). Der Begriff des „Dritten“ ist eng auszulegen. Kein Dritter ist, wer „im Lager“ des Erklärungsempfängers steht und am Vertragsschluss mitwirkt.13

Kein „Dritter“ i.S.v. § 123 II 1 BGB sind neben dem Stellvertreter14 auch der vollmachtlose Vertreter („falsus procurator“) nach Genehmigung gemäß § 177 I BGB15, ein Vermittler16, ein Verhandlungsgehilfe17 oder eine andere Vertrauensperson, deren Verhalten sich der Erklärungsempfänger unter Billigkeitsgesichtspunkten zurechnen lassen muss.18

Täuscht lediglich eine von mehreren Vertragsparteien, ist die Gegenseite allen gegenüber zur Anfechtung berechtigt, und zwar auch dann, wenn die übrigen von der Täuschung keine Kenntnis hatten bzw. haben mussten.19

Hat ein anderer als der Erklärungsempfänger infolge der Willenserklärung unmittelbar ein Recht erworben, ist sie diesem Begünstigten gegenüber nur anfechtbar, wenn dieser die Täuschung kannte oder kennen musste (§ 123 II 2 BGB).

Beispiel:20 G und S schließen einen Vertrag zugunsten des D. Durch diesen Vertrag zugunsten Dritter erwirbt D unmittelbar das Recht, von S die zwischen G und S vereinbarte Leistung von dem S zu verlangen (§ 328 I BGB).

Variante 1: Hat G den S getäuscht und S dem G gegenüber21 wirksam angefochten, kann sich S nach § 334 BGB auch dem D gegenüber auf die rückwirkende Nichtigkeit seiner Willenserklärung (§ 142 I BGB) und damit auch des den D begünstigenden Vertrags berufen. D verliert sein Forderungsrecht gegen S.

Variante 2: Täuscht ein außenstehender Dritter, kann S gegenüber D nur unter den Voraussetzungen des § 123 II 2 BGB anfechten. In einem solchen Fall behält D sein Forderungsrecht, wenn er die Täuschung des Dritten weder kannte noch kennen musste.

Variante 3: Täuscht der D selbst den S, kann S – sofern D „im Lager“ des G steht (s.o.) – nicht nur gegenüber G, sondern auch gegenüber S gemäß § 123 I Alt. 1 BGB anfechten (Erst-Recht-Schluss aus § 123 II 2 BGB).

Rechtswidrigkeit der Täuschung

Nach dem Wortlaut des § 123 I BGB muss nur die Drohung widerrechtlich sein. Nach allgemeiner Ansicht ist aber auch die Täuschungsvariante des § 123 I BGB um dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal zu ergänzen.22 Auch eine Täuschung kann gerechtfertigt und damit rechtmäßig sein. Relevant wird dies insbesondere bei der wahrheitswidrigen Beantwortung unzulässiger Fragen („Recht zur Lüge“, s.o.).

Doppelte Kausalität

Die Täuschung muss für den Irrtum (mit-)ursächlich sein.23 Dieser Irrtum muss zudem für die Abgabe der konkreten Willenserklärung kausal sein. Man kann schlagwortartig von einer doppelten Kausalität sprechen.

Im Gegensatz zur Anfechtung nach §§ 119, 120 BGB kommt es nicht darauf an, ob der Erklärende die Erklärung bei „verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde“ (§ 119 I BGB a. E.). Bei § 123 I Alt. 1 BGB genügt eine rein subjektive Kausalität. Auch der Leichtgläubige soll geschützt werden.

Arglist

Der Täuschende muss in subjektiver Hinsicht arglistig gehandelt haben. Dafür genügt es, wenn der Täuschende hinsichtlich aller objektiven Tatbestandsmerkmale bedingt vorsätzlich gehandelt hat. Er muss also zumindest die Unwahrheit seiner Angaben für möglich halten und billigen, dass er beim Empfänger eine Fehlvorstellung hervorruft, die diesen zur Abgabe einer Willenserklärung veranlasst, die er sonst nicht abgegeben hätte. Eine Schädigungsabsicht ist nicht erforderlich.24

Arglistig handelt auch, wer in bewusster Unkenntnis des Wahrheitsgehalts Tatsachen einfach so „ins Blaue hinein“ behauptet.25

Anfechtungsfrist

Die Anfechtung nach § 123 I Alt. 1 BGB ist gemäß § 124 I, II 1 BGB innerhalb eines Jahres ab Entdeckung der Täuschung zu erklären. Kennenmüssen genügt nicht. Der bloße Verdacht, getäuscht worden zu sein, genügt für den Beginn der Anfechtungsfrist nicht.26 Eine genaue Kenntnis sämtlicher Einzelheiten der Täuschung ist aber auch nicht erforderlich.27 Die Anfechtung ist jedenfalls ausgeschlossen, wenn seit der Abgabe der Willenserklärung zehn Jahre verstrichen sind (§ 124 III BGB, absolute Ausschlussfrist).

Rechtsfolge

Die angefochtene Willenserklärung ist gemäß § 142 I BGB von Anfang an (ex tunc) nichtig. Im Falle der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung erstreckt sich die Nichtigkeit regelmäßig auf das Verpflichtungs- und das Verfügungsgeschäft.28 Es liegt eine sog. Fehleridentität vor.

Eine Schadensersatzpflicht des Anfechtenden, wie sie in § 122 I BGB für die Fälle der Anfechtung wegen (sonstigen) Irrtums gemäß §§ 119, 120 BGB vorsieht, besteht im Falle des § 123 I Alt. 1 BGB nicht.

Konkurrenzen

Die Anfechtungsmöglichkeit nach § 123 I Alt. 1 BGB ist – anders als diejenige nach § 119 II BGB – nicht durch das Gewährleistungsrecht, sofern es anwendbar ist, ausgeschlossen.29

Wird durch Täuschung ein Irrtum über eine Eigenschaft bewirkt und liegt zugleich ein Sachmangel bei Gefahrübergang nach § 434 BGB vor, ist zwar die Anfechtung nach § 119 II BGB ausgeschlossen, nicht aber diejenige nach § 123 I Alt. 1 BGB. Der arglistig Täuschende ist nicht schutzwürdig. Der getäuschte Käufer hat dann die Wahl, ob er nach Gewährleistungsrecht vorgehen oder den Kaufvertrag anfechten will. Daneben kommen Ansprüche aus §§ 280 I, 311 II, III, 241 II BGB,30 § 823 II BGB i.V.m. § 263 StGB und § 826 BGB in Betracht.


  1. Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 139.
  2. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 123 Rn. 1.
  3. Zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 141 – 160.
  4. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 123 Rn. 3.
  5. Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 20 Rn. 3.
  6. Hier und zum Folgenden: Erman/Arnold, BGB, 16. Aufl. 2020, § 123 Rn. 13 – 17.
  7. BGH, Urt. v. 13.07.1983 – VIII ZR 142/82, NJW 1983, 2493, 2494.
  8. OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.07.2002 – 9 WF 25/02, NJOZ 2003, 3104, 3108.
  9. BGH, Urt. v. 11.11.1993 – 2 AZR 467/93, NJW 1994, 1363, 1364.
  10. BGH, Urt. v. 04.03.1998 – VIII ZR 378/96, NJW-RR 1998, 1406.
  11. Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 123 Rn. 6 f.
  12. § 123 II BGB gilt nur für empfangsbedürftige Willenserklärungen (Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 20 Rn. 4).
  13. BGH, Urt. v. 14.11.2000 – XI ZR 336/99, NJW 2001, 358, 358 f.
  14. BGH, Urt. v. 08.02.1956 – IV ZR 282/55, NJW 1956, 705.
  15. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 123 Rn. 6.
  16. BGH, Urt. v. 14.11.2000 – XI ZR 336/99, NJW 2001, 358, 358 f.
  17. BGH, Urt. v. 20.02.1967 – III ZR 40/66, BGHZ 47, 224, 230 f.
  18. BGH, Urt. v. 12.11.2002 – XI ZR 3/01, NJW 2003, 424, 425.
  19. OLG Koblenz, Urt. v. 11.12.2001 – 3 U 1642/00, NJW-RR 2003, 119, 120.
  20. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 123 Rn. 8.
  21. Beim echten VzD i.S.v. § 328 I BGB hat der Schuldner die Anfechtung nach h. M. gegenüber dem täuschenden Gläubiger und nicht gegenüber dem Dritten zu erklären.
  22. Statt vieler: Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 20 Rn. 5.
  23. BGH, Urt. v. 22.02.2005 – X ZR 123/03, NJW-RR 2005, 1082, 1083.
  24. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 123 Rn. 11.
  25. BGH, Urt. v. 07.06.2006 – VIII ZR 209/05, Rn. 13.
  26. OLG Braunschweig, Urt. v. 06.11.2014 – 8 U 163/13, BeckRS 2015, 00155, Rn. 65.
  27. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 124 Rn. 2.
  28. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 157.
  29. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 158.
  30. BGH, Urt. v. 24.09.2021 – V ZR 272/19, Rn. 13.