Zuwanderungsgesetz

A. Sachverhalt

Die Antragstellerinnen wenden sich mit ihrem Normenkontrollantrag gegen das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 20. Juni 2002 - Zuwanderungsgesetz - (BGBl I S. 1946).

Das Zuwanderungsgesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland und soll zugleich humanitäre Verpflichtungen der Bundesrepublik erfüllen (vgl. § 1 I Zuwanderungsgesetz). Es regelt die Einreise, den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Förderung der Integration von Ausländern. Ferner enthält es Bestimmungen über die Beendigung des Aufenthalts, die Haftung von Beförderungsunternehmern und Verfahrensvorschriften.

Einzelne Regelungen des Zuwanderungsgesetzes, die im Wesentlichen Verordnungsermächtigungen und Aufgabendefinitionen im Hinblick auf die Gesetzesausführung betreffen, sind am 26. Juni und 1. Juli 2002 wirksam geworden (vgl. Art. 15 I und II Zuwanderungsgesetz). Die übrigen - maßgeblichen und nach außen wirksamen - Bestimmungen sollen nach Art. 15 III Zuwanderungsgesetz am 1. Januar 2003 in Kraft treten.

Der Deutsche Bundestag nahm auf seiner 222. Sitzung am 1. März 2002 den von der Bundesregierung sowie von der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf des Zuwanderungsgesetzes (BRDrucks 921/01, BTDrucks 14/7387) auf der Grundlage der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (BTDrucks 14/8395; 14/8414) an. Der Gesetzesbeschluss wurde am selben Tag dem Bundesrat zur Zustimmung zugeleitet (BRDrucks 157/02 ).

Der Bundesrat behandelte das Zuwanderungsgesetz auf seiner 774. Sitzung am 22. März 2002. Die Beratungen zu dem Gesetz begannen unter dem Tagesordnungspunkt 8 nach Aufruf durch den amtierenden Bundesratspräsidenten, den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht S. 131 D).

In der Plenardebatte zu diesem Tagesordnungspunkt äußerten sich die meisten Rednerinnen und Redner nicht nur zu Bedeutung und Inhalt des Zuwanderungsgesetzes, sondern auch zu der bevorstehenden Abstimmung und zu den in diesem Zusammenhang bestehenden Meinungsverschiedenheiten. Der Bundesratspräsident erteilte nacheinander dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Prof. Dr. Kurt Biedenkopf, der Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, Heide Simonis, dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller, und dem Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, das Wort. Weitere ausdrückliche Bezugnahmen auf die bevorstehende Abstimmung enthielten die sich anschließenden Reden der Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Roland Koch, und des Landes Niedersachsen, Sigmar Gabriel (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 131 D - 146 C).

Es folgte die Rede des brandenburgischen Innenministers, Jörg Schönbohm. Ein Abschnitt der Rede, der der bevorstehenden Abstimmung im Bundesrat gewidmet ist, lautet wörtlich:

“[…] Vor dem Hintergrund des soeben Gesagten möchte ich Sie darüber informieren, dass ich bei diesem Gesetz mit Nein stimmen werde. Nach unserem Koalitionsvertrag müssten wir uns der Stimme enthalten. Die Zustimmung zu diesem Gesetz stellte den Bruch unseres Koalitionsvertrages dar. Mit meinem Nein möchte ich diesen Bruch heilen….“

 

Daran anschließend erteilte der Bundesratspräsident dem Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Fritz Behrens, und dem Justizminister des Landes Rheinland-Pfalz, Herbert Mertin, das Wort. Beide Minister argumentierten für die Zustimmung des Bundesrates zum Zuwanderungsgesetz, ohne dabei allerdings auf die bevorstehende Abstimmung einzugehen. Eine solche Bezugnahme enthielt wiederum die nachfolgende Rede der hessischen Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Ruth Wagner. Es schloss sich der Redebeitrag des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe, an. Ministerpräsident Dr. Stolpe erläuterte seine Bedenken gegen das Zuwanderungsgesetz in der dem Bundesrat übermittelten Fassung. Dabei erwähnte er die Arbeitsvermittlung, die Ausgestaltung des Abschiebungsschutzes, die Praktikabilität der Härtefallregelung und die Aufteilung der Integrationskosten; auf das Abstimmungsverfahren nahm er keinen Bezug.

 

Es folgten Redebeiträge des Bundesministers des Inneren, Otto Schily, des Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Dr. Edmund Stoiber, erneut des Bundesinnenministers, des saarländischen und des niedersächsischen Ministerpräsidenten, des Innenministers des Freistaates Bayern, Dr. Günther Beckstein, sowie ein weiteres Mal des Bundesinnenministers. In keinem dieser Redebeiträge wurde noch einmal auf das Abstimmungsverfahren Bezug genommen.

 

Nachdem keine weiteren Wortmeldungen vorlagen, leitete der Bundesratspräsident die Abstimmung ein. Der federführende Ausschuss für Innere Angelegenheiten und der Wirtschaftsausschuss des Bundesrates hatten die Empfehlung abgegeben, dem Zuwanderungsgesetz nicht zuzustimmen (BRDrucks 157/1/02). In den weiteren, mitberatenden Bundesratsausschüssen war eine Empfehlung nicht zustande gekommen (BRDrucks 157/1/02). Da sich zunächst eine Mehrheit für ein Vermittlungsverfahren ausgesprochen hatte, stimmte der Bundesrat zunächst über die einzelnen Anrufungsgründe ab. Die entsprechenden Anträge des Saarlandes (BRDrucks 157/3/02) und des Landes Rheinland-Pfalz (BRDrucks 157/2/02) fanden jedoch keine Mehrheit, sodass die Anrufung des Vermittlungsausschusses insgesamt abgelehnt wurde (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 171 B - C).

Auf Antrag des Landes Rheinland-Pfalz wurde gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Geschäftsordnung des Bundesrates (GOBR) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26.11.1993 (BGBl I S. 2007, geändert durch Bekanntmachung vom 25.11.1994, BGBl I S. 3736, BRDrucks 990/94 ) sodann durch Aufruf der Länder abgestimmt.

Der Bundesratspräsident forderte den Schriftführer auf, die Länder aufzurufen. Nach dem stenografischen Bericht der Bundesratssitzung nahm dieser Sitzungsabschnitt folgenden Verlauf:

“Dr. Manfred Weiß (Bayern), Schriftführer:

Baden-Württemberg: Enthaltung

Bayern: Nein

Berlin: Ja

Brandenburg

Alwin Ziel (Brandenburg): Ja!

Jörg Schönbohm (Brandenburg): Nein!

Präsident Klaus Wowereit: Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg nicht einheitlich abgestimmt hat. Ich verweise auf Artikel 51 III 2 Grundgesetz. Danach können Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden.

Ich frage Herrn Ministerpräsidenten Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt.

Dr. h.c. Manfred Stolpe (Brandenburg): Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja.

(Jörg Schönbohm [Brandenburg]: Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident!)

Präsident Klaus Wowereit: Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg mit Ja abgestimmt hat.

Dr. Manfred Weiß (Bayern), Schriftführer:

Bremen: Enthaltung

Hamburg: Enthaltung

Hessen: Enthaltung

Mecklenburg-Vorpommern: Ja

Niedersachsen: Ja

Nordrhein-Westfalen: Ja

Rheinland-Pfalz: Ja

Saarland: Nein

Sachsen: Nein

Sachsen-Anhalt: Ja

Schleswig-Holstein: Ja

Thüringen: Nein

Präsident Klaus Wowereit: Das ist die Mehrheit.

Der Bundesrat hat dem Gesetz zugestimmt.”

 

Die Urschrift des Gesetzes wurde dem Bundespräsidenten am 17. April 2002 zur Ausfertigung gemäß Art. 82 I GG übermittelt. Der Bundespräsident fertigte das Zuwanderungsgesetz am 20. Juni 2002 aus und gab die Verkündung im Bundesgesetzblatt in Auftrag, die am 25. Juni 2002 erfolgte. Anlässlich der Ausfertigung gab der Bundespräsident in seinem Amtssitz eine Erklärung ab, in der er auf die Umstände der Bundesratssitzung vom 22. März 2002 einging und die wichtigsten Gesichtspunkte für seine Entscheidung, das Gesetz auszufertigen, erläuterte (Pressemitteilung des Bundespräsidialamtes vom 20. Juni 2002).

Die Antragstellerinnen haben gemäß Art. 93 I Nr. 2 GG in Verbindung mit §§ 13 Nr. 6, 76 I BVerfGG beantragt, das Zuwanderungsgesetz wegen der fehlenden Zustimmung des Bundesrates für nichtig zu erklären.

 

B. Worum geht es?

Das Zuwandergesetz bedurfte der Zustimmung des Bundesrates (Art. 84 GG). Ein zustimmungsbedürftiges und vom Bundestag beschlossenes Gesetz kommt zustande, wenn der Bundesrat zustimmt (Art. 78). Die im Bundesrat vertretenen Länder haben (derzeit) 69 Stimmen (vgl. Art. 51 II GG). Da der Bundesrat seine Beschlüsse grundsätzlich mit der Mehrheit seiner Stimmen fasst (Art. 52 III 1 GG), brauchte es für eine Zustimmung des Bundesrates 35 Stimmen. Der Bundesratspräsident hat festgestellt, dass der Bundesrat dem Zuwanderungsgesetz mehrheitlich zugestimmt hat. Dabei hat er auch die (vier) Stimmen des Landes Brandenburg als Zustimmung gewertet, obwohl dessen Mitglieder einerseits mit „Ja“, andererseits mit „Nein“ gestimmt haben. Darin könnte ein Verstoß gegen Art. 51 III 2 GG liegen, wonach die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden können.

Das BVerfG hatte damit die folgende Frage zu beantworten:

„Liegt ein Verstoß gegen Art. 51 III 2 GG vor, wenn Ministerpräsident und Minister eines Landes unterschiedliche Stimmen abgeben?“

 

C. Wie hat das BVerfG entschieden?

Das BVerfG hält im Urteil zum Zuwanderungsgesetz (Urteil v. 18.12.2002 – 2 BvF 1/02 (BVerfGE 106, 310 ff.)) den Normenkontrollantrag für begründet. Das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 20. Juni 2002 (Bundesgesetzblatt I Seite 1946) ist mit Art. 78 GG unvereinbar und daher nichtig. Der Bundesratspräsident durfte die Stimmenabgabe für das Land Brandenburg nicht als Zustimmung werten.

Der Bundesrat ist ein kollegiales Verfassungsorgan des Bundes, das aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht (vgl. Art. 51 I 1 GG). Er wird nicht aus den Ländern gebildet. Art. 50 GG umschreibt nur die Funktion dieses Bundesverfassungsorgans. Die dort genannte Mitwirkung erfolgt nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch die aus dem Kreis der Landesregierungen stammenden Mitglieder des Bundesrates. Die Länder werden jeweils durch ihre anwesenden Bundesratsmitglieder vertreten:

„Die Stimmen eines Landes werden durch seine Bundesratsmitglieder abgegeben. Wer aus dem Kreis dieser Vertreter die Stimmen eines Landes abgibt, bestimmen in der Regel die Vertreter selbst oder im Vorfeld einer Bundesratssitzung die jeweilige Landesregierung. Das Grundgesetz erwartet die einheitliche Stimmenabgabe und respektiert die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen.

Aus dieser Konzeption des Grundgesetzes für den Bundesrat folgt, dass der Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer jederzeit durch ein anderes Bundesratsmitglied desselben Landes widersprochen werden kann und damit die Voraussetzungen der Stimmführerschaft insgesamt entfallen. Der Bundesratspräsident nimmt somit die Stimme eines einzelnen Bundesratsmitglieds als Stimmenabgabe für das ganze Land entgegen, sofern nicht ein anderes Mitglied des jeweiligen Landes abweichend stimmt.“

 

Die Stimmen eines Landes sind nach Art. 51 III 2 GG einheitlich abzugeben. Die Stimmabgabe ist die Verlautbarung der Stimmen des Landes durch einen willentlichen Begebungsakt. Mehrere Stimmenabgaben der Bundesratsmitglieder eines Landes müssen übereinstimmen. Dagegen wurde hier verstoßen:

„Das im Abstimmungsverfahren aufgerufene Land Brandenburg hat hier seine vier Stimmen nicht einheitlich abgegeben. Entsprechend der beantragten Abstimmungsart durch Aufruf der Länder gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 GOBR richtete der sitzungsleitende Bundesratspräsident durch seinen Schriftführer jeweils die Frage an die anwesenden Bundesratsmitglieder der einzelnen Länder, die für das jeweilige Land dessen Stimmen abgeben. Im vorliegenden Fall hat für Brandenburg zunächst das Bundesratsmitglied Ziel mit “Ja” geantwortet, unmittelbar darauffolgend das Bundesratsmitglied Schönbohm mit “Nein”. Der brandenburgische Ministerpräsident Dr. Stolpe und der Minister Prof. Dr. Schelter - ebenfalls anwesende Bundesratsmitglieder - haben sich bei Aufruf des Landes nicht geäußert. Aus den eindeutigen Erklärungen der Bundesratsmitglieder Ziel und Schönbohm folgte, dass die Abgabe der Stimmen durch die Bundesratsmitglieder des Landes Brandenburg im Sinne des Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG uneinheitlich war. Dies hat der Bundesratspräsident zutreffend unmittelbar nach der Stimmenabgabe förmlich festgestellt (Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 171 C).“

 

Möglicherweise wurde durch den sich anschließenden Abstimmungsverlauf die Uneinheitlichkeit der Stimmenabgabe seitens des Landes Brandenburg beseitigt und in ein einheitliches zustimmendes Votum umgewandelt. Immerhin hat der Präsident des Bundesrates beim Ministerpräsidenten nachgefragt, der mit „Ja“ stimmte. Dem tritt das BVerfG aber entgegen. Der nachfolgende Abstimmungsverlauf ist nicht mehr rechtserheblich, weil er sich außerhalb der verfassungsrechtlich gebotenen Form des Abstimmungsverfahrens bewegte. In einem zum Gesetzgebungsverfahren gehörenden Abstimmungsverfahren vermag das formwidrige Verhalten das ihm vorangehende formgerechte nicht in seiner Rechtswirkung zu verändern.

Der sitzungsleitende Bundesratspräsident hatte in diesem besonderen Fall schon kein Recht zur Nachfrage an Ministerpräsident Dr. Stolpe. Das Recht zur Nachfrage entfällt, wenn ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht besteht und nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten ist, dass ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde:

„Der die Abstimmung leitende Bundesratspräsident ist grundsätzlich berechtigt, bei Unklarheiten im Abstimmungsverlauf mit geeigneten Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinzuwirken. Dies entspricht seiner Pflicht als unparteiischer Sitzungsleiter, dem die Aufgabe obliegt, den Willen des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren klar festzustellen. Art. 78 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip gebietet, den Willen der beteiligten Verfassungsorgane zurechenbar festzustellen; dies gilt für den förmlichen Gesetzesbeschluss des Bundestages ebenso wie für die Zustimmung des Bundesrates. Wann insofern von einer Unklarheit als Anlass für Rückfragen auszugehen ist, ist verfassungsgerichtlich nachprüfbar; indes steht dem sitzungsleitenden Bundesratspräsidenten insoweit eine Einschätzungsprärogative zu. Das Recht zur Nachfrage entfällt allerdings, wenn ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht besteht und nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten ist, dass ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde.

Der Wille des Landes Brandenburg zur uneinheitlichen Abstimmung lag klar zu Tage. Das Bundesratsmitglied Schönbohm hatte seine politische Position in unmissverständlicher Form in der der Abstimmung unmittelbar vorausgegangenen Plenardebatte dargelegt. Er werde dem Gesetz nicht zustimmen und er werde seine Ablehnung in Kenntnis von Art. 51 Abs. 3 GG laut und unzweideutig formulieren (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 147 C – D). Das Bundesratsmitglied Schönbohm hatte zudem auch das Ziel seines Verhaltens klar umrissen. Er wollte mit seinem “Nein” eine einheitliche Abgabe der Stimmen Brandenburgs verhindern (vgl. Plenarprotokoll 774, Stenografischer Bericht, S. 148 A - B). Es war zudem allgemein bekannt, dass die brandenburgische Landesregierung über die Abgabe der Stimmen des Landes keinen Beschluss gefasst hatte. Ein Teil der Redebeiträge in der Plenardebatte und die sorgsame rechtliche Vorbereitung der Beteiligten belegen, dass ein einheitlicher politischer Landeswille weder vor der Bundesratssitzung festgelegt war noch im Verlauf der Sitzung erwartet wurde - es bestand Klarheit über den Dissens. Die Uneinheitlichkeit wurde denn auch bei Aufruf des Landes Brandenburg erwartungsgemäß förmlich erklärt.“

 

Unterstellt man dennoch ein solches Recht, hätte die Nachfrage nicht nur an den Ministerpräsidenten, sondern zumindest auch an den Minister Schönbohm gerichtet werden müssen:

„Selbst wenn dem Bundesratspräsidenten grundsätzlich ein Nachfragerecht zugestanden hätte, hätte er es nur in der gebotenen neutralen Form ausüben dürfen. Dazu hätte erneut das Land Brandenburg aufgerufen und damit die Frage, wie das Land abstimme, an alle anwesenden Bundesratsmitglieder des Landes gerichtet werden müssen. Entschied sich der sitzungsleitende Präsident jedoch zu einer direkt an ein Mitglied gerichteten Frage, so war es unabdingbar, nach dem “Ja” des Ministerpräsidenten anschließend zumindest an Minister Schönbohm die Frage zu richten, ob er nach der Stimmabgabe des Ministerpräsidenten bei seinem “Nein” bleibe. Denn durch die Frage an Ministerpräsident Dr. Stolpe und dessen Antwort war möglicherweise Klärungsbedarf entstanden, ob Minister Schönbohm an seinem “Nein” auch in unmittelbarer Konfrontation mit seinem Ministerpräsidenten festhalte. Die Pflicht zur Frage an beide Anwesenden wurde noch durch den Zwischenruf des Bundesratsmitglieds Schönbohm verstärkt. Ungeachtet der Frage, ob ein Zwischenruf, der weder durch einen - erneuten - Aufruf des Landes noch durch ein vom Sitzungsleiter an Minister Schönbohm gerichtetes Wort die gehörige Form fand, überhaupt eine rechtserhebliche Bekundung im förmlichen Abstimmungsvorgang sein kann, durfte jedenfalls aus dem Inhalt des Zwischenrufs nicht ohne klärende Nachfrage auf eine Abänderung der Nein-Stimme in eine Ja-Stimme oder eine Anerkennung der Stimmführerschaft des Ministerpräsidenten geschlossen werden.“

 

D. Fazit

Die (un)einheitliche Stimmabgabe im Bundesrat: ein Klassiker des Staatsorganisationsrechts, der regelmäßig in Prüfung und Examen einfließt.