BVerfG verhandelt über Hartz IV-Sanktionen

Kann ein Minimum an menschenwürdiger Existenz überhaupt noch unterschritten werden?

Sind Hartz IV-Sanktionen verfassungsgemäß? Diese Frage stellt sich aktuell der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Im Zentrum der Verhandlung steht die Frage, ob sogenannte „Sanktionen“ gemäß des zweiten Sozialgesetzbuches (SGB II), die zum Beispiel als Reaktionen auf versäumte Termine im Rahmen einer Eingliederungsvereinbarung oder abgelehnte Jobangebote bei erwerbsfähigen leistungsberechtigten Personen erfolgen, mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 I i. V. m. Art. 20 I GG vereinbar sind. Das Verfahren steht im Kontext der politisch als auch gesellschaftlich kontrovers diskutierten Frage, ob, wann und wie eine Hartz IV-Reform kommt.

Worum geht es?

Anlass für die Verhandlung ist eine Vorlage des Sozialgerichtes in Gotha, das die Überprüfung der §§ 31, 31a, 31b SGB II im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 I GG anstrebt. Der Vorlage liegt ein Rechtsstreit zugrunde, in dem ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter ein ihm zugewiesenes Jobangebot ablehnte. Seine Bezüge wurden daraufhin vom Jobcenter zunächst um 30 % gekürzt. Als er ein weiteres Angebot ablehnte, erfolgte eine Kürzung um 60 %. Gemäß § 31a I des zweiten Sozialgesetzbuches wird der Regelbedarf des Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 % für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person in Folge einer Pflichtverletzung gemäß § 31 SGB II gekürzt. Bei einer wiederholten Pflichtverletzung erfolgt die Kürzung im Rahmen einer zweiten Stufe um 60 % des maßgebenden Regelbedarfes und bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt der Anspruch auf den Regelbedarf vollständig. Als Pflichtverletzung gemäß § 31 I SGB II gelten zum Beispiel das Nichtantreten zu einer zumutbaren Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit oder wenn das Zustandekommen eines Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses durch das Verhalten des Leistungsberechtigten verhindert wird. Die Kürzungen erfolgen gemäß § 31b I 2 SGB II jeweils für einen Zeitraum von drei Monaten. Darüber hinaus gelten grundsätzlich schärfere Sonderregelungen für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.

Sozialgericht: Existenzminimum sei fixiert

Das Sozialgericht hält die genannten Vorschriften als für mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 I i. V. m. Art. 20 I GG und dem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 GG unvereinbar. Es ist der Auffassung, dass der Gesetzgeber mit der Regelung der Höhe des Regelbedarfes das Existenzminimum fixiert habe. Jegliche Kürzungen eben dieses Regelbedarfes führen dazu, dass ein ungerechtfertigter Eingriff in das Grundrecht vorläge. „Im Fall einer Leistungskürzung werde der Bedarf nicht gedeckt, obwohl er sich tatsächlich nicht geändert habe. Damit verletze der Gesetzgeber das Gebot, eine menschenwürdige Existenz jederzeit realistisch zu sichern.“, heißt es in der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. Dezember 2018. Durch die Sanktionierung der Arbeitspflicht werde außerdem in die Berufswahlfreiheit der Leistungsberechtigten eingegriffen. Die Richter am Sozialgericht in Gotha besorgen, dass die Sanktionierung mittelbar zu einem Arbeitszwang für die betroffenen Personen führe. Sofern die Sanktionen negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Leistungsberechtigten haben, könnte auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 II GG betroffen sein.

Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht

Seit Dienstag verhandelt der erste Senat am Bundesverfassungsgericht in der Sache. Laut Pressemitteilung vom 10. Januar 2019 werden in der mündlichen Verhandlung nach einführenden Stellungnahmen unter anderem die gesetzliche Differenzierung zwischen unter und über 25-Jährigen unter die Lupe genommen. Zunächst soll allerdings ein verfassungsrechtlicher Maßstab gelegt werden. Im Kern geht es um die Beantwortung folgender Frage:

„Welche Anforderungen ergeben sich aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für die Beurteilung von Mitwirkungsanforderungen und von Leistungsminderungen nach §§ 31, 31a, 31b SGB II gegenüber über 25-jährigen Leistungsberechtigten?“

Im Anschluss werden sich die Bundesverfassungsrichter mit der Verfassungsmäßigkeit der einzelnen Vorschriften und empirischen Befunden zu den bisher verhängten Sanktionen beschäftigen. In Bezug auf die Mitwirkungshandlungen der Leistungsberechtigten wird zum Beispiel die Frage gestellt werden müssen, welchen legitimen Zweck der Gesetzgeber  mit den Mitwirkungsanforderungen nach § 31 I SGB II verfolgt und ob die normierten Mitwirkungsanforderungen geeignet sind, die Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II zu überwinden. Und auch in Bezug auf die Minderungen des Regelbedarfs wird nach einem legitimen Zweck gefragt werden müssen. In die anschließende Abwägung des Bundesverfassungsgerichtes wird unter anderem einfließen, welche Auswirkungen die Kürzungen auf Dritte haben können (insbesondere auf im Haushalt lebende Kinder), wie in Einzelfällen auf eine besondere Härte einer Minderung reagiert werden kann und ob und wie sich der starre Kürzungszeitraum über drei Monate verfassungsrechtlich rechtfertigen lässt. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wird erst in einigen Monaten erwartet.

Kritik der Befangenheit des Senatsvorsitzenden

Im Vorfeld des Verfahrens äußerte die Linksfraktion im Bundestag die Sorge, dass der neue Vorsitzende des ersten Senates und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts befangen sei. Grund der Annahme der Fraktion: Stephan Harbarth, der bis vergangenes Jahr noch stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war, hat im Juni 2018 als Abgeordneter im Bundestag für die Beibehaltung der Sanktionen gestimmt. Zu Beginn der Verhandlungen in Karlsruhe äußerte der Vorsitzende laut Bericht von ZeitOnline jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Frage zu klären habe, ob ein Sanktionssystem politisch sinnvoll sei. Es gehe vielmehr um die Frage, „was der Staat und damit auch die Gemeinschaft von Menschen fordern darf, bevor sie Sozialleistungen erhalten, und was er dann eventuell auch durch Sanktionen erzwingen darf“.