A. Sachverhalt
Das Organstreitverfahren betrifft das Verhalten der Bundesregierung während der sogenannten Flüchtlingskrise. Die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag sieht in der Duldung der Einreise von Asylbewerbern in das Bundesgebiet insbesondere seit den Sommermonaten des Jahres 2015 bis in die Gegenwart hinein eine Verletzung objektiven Rechts sowie von Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten des Deutschen Bundestages.
Im Jahr 2015 kam es zu einem starken Anstieg von Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland Schutz suchten; ein großer Teil gelangte über die sogenannte Balkanroute aus der Republik Österreich kommend nach Deutschland.
Mit Wirkung vom 13. September 2015 wurden an den deutschen Grenzen, schwerpunktmäßig an der deutsch-österreichischen Grenze, vorübergehend wieder Grenzkontrollen eingeführt. Im Zusammenhang damit wurde innerhalb der Antragsgegnerin die Entscheidung getroffen, Drittstaatsangehörige, die in Deutschland um Schutz nachsuchen, nicht an der Grenze zurückzuweisen.
Die AfD-Fraktion gehört seit Beginn der 19. Legislaturperiode erstmals dem Deutschen Bundestag an. Sie machte das Verhalten der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Schutzsuchenden zum Gegenstand verschiedener (Kleiner) Anfragen. In ihrer Kleinen Anfrage vom 10. Januar 2018 heißt es mit Blick auf das Verhalten der Bundesregierung im September 2015 unter anderem (BTDrucks 19/559, S. 3):
Trifft es zu, dass es keine schriftliche Anordnung des Bundesinnenministeriums oder des Bundesinnenministers an die Bundespolizei und/oder die Grenzbehörden gab und gibt, wonach unter Berufung auf § 18 Absatz 4 Nummer 2 AsylG von der Einreiseverweigerung oder Zurückschiebung von Drittstaatsangehörigen abzusehen ist, welche um internationalen Schutz nachsuchen?
Wurde von dem oder den „Zuständigen“ im Sinne der Bundestagsdrucksache 18/7510 in anderer Weise als per schriftlicher Anweisung von der Möglichkeit nach besagtem § 18 Absatz 4 Nummer 2 AsylG Gebrauch gemacht und die Anordnung erlassen, von einer Einreiseverweigerung oder Zurückschiebung abzusehen, und, falls ja, in welcher Weise wurde diese Anordnung übermittelt – etwa telefonisch, per E-Mail oder durch persönliche mündliche Anordnung?
In Bezug auf die erste Frage antwortete die Bundesregierung am 23. Februar 2018 (BTDrucks 19/883, S. 3) wie folgt:
Eine schriftliche Anordnung des Bundesministeriums des Innern an das Bundespolizeipräsidium oder andere mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden gibt es nicht.
In Beantwortung der zweiten Frage heißt es zudem weiter (BTDrucks 19/883, S. 3):
Die Entscheidung wurde im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung getroffen. Bundesminister Dr. Thomas de Maizière hat am 13. September 2015 den Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums über die Entscheidung der Bundesregierung mündlich informiert. (…).
In ihrer Antragsschrift vom 12. April 2018 begehrt die AfD-Fraktion mit ihrem Antrag zu 1. im Wesentlichen die Feststellung, dass die Bundesregierung durch die Duldung der Einreise von Asylbewerbern sowie die Eröffnung und Durchführung von Asylverfahren in bestimmten, näher bezeichneten Fällen die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages und dadurch zugleich den Gewaltenteilungsgrundsatz sowie den Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes verletzt habe. Alle wesentlichen Fragen der Migration sind ihrer Ansicht nach von dem Parlament in einem „Migrationsverantwortungsgesetz“ zu normieren. Sie teilt indes mit, selbst „am allerwenigsten“ bereit zu sein, entsprechende Gesetze zur Legalisierung des Handelns der Bundesregierung im Bundestag zu initiieren.
Der Antrag zu 2. ist auf die Feststellung gerichtet, dass die Duldung der Migration von Ausländern aus Staaten, die nicht dem sogenannten Schengen-Raum angehören, nur auf der Grundlage eines vom parlamentarischen Gesetzgeber zu erlassenden „Migrationsverantwortungsgesetzes“ zulässig wäre.
Mit dem Antrag zu 3. soll festgestellt werden, dass Asylbewerber bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen an den Grenzen zurückzuweisen sind.
Haben die Anträge Aussicht auf Erfolg?
B. Die Entscheidung des BVerfG (Beschl. v. 11.12.2018 – 2 BvE 1/18)
I. Zulässigkeit
Die Zuständigkeit des BVerfG für das Organstreitverfahren ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 1 GG in Verbindung mit § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG.
Nach § 64 I BVerfGG müsste die AfD-Fraktion geltend machen, dass sie oder der Deutsche Bundestag durch eine Maßnahme oder Unterlassung der Bundesregierung in ihren ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Bei dem Organstreit handelt es sich um eine kontradiktorische Parteistreitigkeit. Das Verfahren dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht hingegen der Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns. Das BVerfG führt hier aus, dass das Grundgesetz den Deutschen Bundestag zwar als Gesetzgebungsorgan, nicht aber als umfassendes „Rechtsaufsichtsorgan“ über die Bundesregierung eingesetzt habe. Deswegen sei für eine allgemeine oder umfassende, von eigenen Rechten der AfD-Fraktion losgelöste, abstrakte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit einer angegriffenen Maßnahme im Organstreit kein Raum:
„Kern des Organstreitverfahrens ist auf Seiten des Antragstellers die Durchsetzung von Rechten (vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 64 Rn. 19; vgl. auch BVerfGE 67, 100 <126>; 124, 78 <113>; 143, 101 <132 Rn. 104>). Der Organstreit eröffnet daher nicht die Möglichkeit einer objektiven Beanstandungsklage (vgl. BVerfGE 118, 277 <319>; 126, 55 <68>; 138, 256 <259 Rn. 5>; 140, 1 <21 f. Rn. 58>). Für eine allgemeine oder umfassende, von eigenen Rechten des Antragstellers losgelöste, abstrakte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit einer angegriffenen Maßnahme ist im Organstreit kein Raum (vgl. BVerfGE 73, 1 <30>; 80, 188 <212>; 104, 151 <193 f.>; 118, 277 <318 f.>; 136, 190 <192 Rn. 5>). Das Grundgesetz kennt keinen allgemeinen Gesetzes- oder Verfassungsvollziehungsanspruch, auf den die Organklage gestützt werden könnte (vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 64 Rn. 63 [Januar 2017]). Auch eine Respektierung sonstigen (Verfassungs-) Rechts kann im Organstreit nicht erzwungen werden; er dient allein dem Schutz der Rechte der Staatsorgane im Verhältnis zueinander, nicht aber einer allgemeinen Verfassungsaufsicht (vgl. BVerfGE 100, 266 <268>; 118, 277 <319>). Das Grundgesetz hat den Deutschen Bundestag als Gesetzgebungsorgan, nicht als umfassendes „Rechtsaufsichtsorgan“ über die Bundesregierung eingesetzt. Aus dem Grundgesetz lässt sich kein eigenes Recht des Deutschen Bundestages dahingehend ableiten, dass jegliches materiell oder formell verfassungswidrige Handeln der Bundesregierung unterbleibe (vgl. BVerfGE 68, 1 <72 f.>; 126, 55 <68>).“
Mit Rechten im Sinne des § 64 I BVerfGG sind allein diejenigen Rechte gemeint, die der AfD-Fraktion zur ausschließlich eigenen Wahrnehmung oder zur Mitwirkung übertragen sind oder deren Beachtung erforderlich ist, um die Wahrnehmung seiner Kompetenzen und die Gültigkeit seiner Akte zu gewährleisten. Für die Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens erforderlich, aber auch ausreichend ist es, dass die von der AfD-Fraktion behauptete Verletzung oder unmittelbare Gefährdung ihrer verfassungsmäßigen Rechte unter Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe nach dem vorgetragenen Sachverhalt möglich erscheint.
1. Antrag zu 1
Nach diesen Maßstäben sei der Antrag zu 1 unzulässig. Im Wesentlichen stützt sich der Senat darauf, dass die AfD-Fraktion zwar ein „Migrationsverantwortungsgesetz“ fordere, zugleich aber mitteile, daran nicht mitwirken zu wollen. Daher gehe es der AfD-Fraktion lediglich um eine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle:
„Ihr geht es damit nicht um die Durchsetzung eigener oder dem Deutschen Bundestag zustehender (Beteiligungs-)Rechte, sondern um das Unterbinden eines bestimmten Regierungshandelns. Nach Auffassung der Antragstellerin schreiben die bestehenden gesetzlichen Regelungen eine Zurückweisung von Schutzsuchenden an der Grenze vor; diese Gesetze seien von der Antragsgegnerin einzuhalten. Die Antragstellerin erstrebt damit keine Befassung des Deutschen Bundestages zum Zwecke der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage, sondern die Kontrolle eines bestimmten Verhaltens der Antragsgegnerin durch das Bundesverfassungsgericht. Deren Verhalten kann im Organstreitverfahren aber nicht isoliert beanstandet werden; ebenso wenig kann auf diesem Wege eine Respektierung von (Verfassungs-)Recht erzwungen werden (vgl. auch BVerfGE 118, 277 <319>).
Geht es der Antragstellerin aber nicht um die Durchsetzung von Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten in Gestalt des Erlasses von Parlamentsgesetzen, wird nicht deutlich, welche sonstigen Kompetenzen sie in die Zulässigkeit des Organstreitverfahrens begründender Weise für sich in Anspruch nehmen könnte. Auch der Verweis auf die nach ihrer Ansicht für die Problematik der Einreisegestattung bedeutsamen Vorgaben des Asyl- und Aufenthaltsrechts verfängt nicht. Fragen der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts jenseits verfassungsrechtlicher Rechtspositionen begründen keine Antragsbefugnis im Organstreitverfahren (vgl. auch BVerfGE 118, 277 <319>).“
2. Antrag zu 2
Dasselbe gelte im Ergebnis für den Antrag zu 2:
„Der in der Antragsschrift formulierte Antrag zu 2. ist auf die Feststellung gerichtet, dass die Duldung der Migration bestimmter Ausländer „nur zulässig wäre aufgrund eines vorab ordnungsgemäß zustande gekommenen parlamentarischen Gesetzes“. Mit diesem Antrag wird schon keine konkrete (stattgefundene) Rechtsverletzung durch die Antragsgegnerin im Sinne von § 64 Abs. 2 BVerfGG behauptet; er zielt vielmehr – im Ergebnis ebenso wie der Antrag zu 1. – auf die Wahrung objektiven Rechts in einer von der Antragstellerin vorgenommenen Auslegung. Dies ist im Organstreitverfahren nicht zulässig (vgl. BVerfGE 136, 277 <304 Rn. 73>). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Inhalt der Antragsbegründung, da zwar ein umfangreicher Antragsschriftsatz vorgelegt wird, dieser aber nicht zwischen den eingangs formulierten (Sach-)Anträgen differenziert.“
3. Antrag zu 3
Leicht anders liege es beim Antrag zu 3, der auf eine unzulässige Rechtsfolge gerichtet sei:
„Die Antragstellerin begehrt mit ihm die Feststellung, dass Asylbewerber unter bestimmten Voraussetzungen „an den Grenzen zurückzuweisen“ seien. Gegenstand dieses Antrags ist der Ausspruch einer Verpflichtung und damit ein im Organstreitverfahren unzulässiges Rechtsschutzziel (vgl. auch BVerfGE 136, 277 <301 f. Rn. 66>).“
II. Ergebnis
Die Anträge sind unzulässig und werden keinen Erfolg haben.
D. Fazit
Eine öffentlichkeitswirksame Entscheidung, die zudem die Reichweite des Organstreitverfahrens klarstellt.
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