Selbstaufopferung im Straßenverkehr

Selbstaufopferung im Straßenverkehr

A. Sachverhalt

Die Klägerin macht als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung die auf sie übergegangenen Ansprüche des Motorenschlossers S auf Ersatz von Schäden aus einem Unfall geltend, den S. am 29. April 1958 erlitten hat. S befuhr an diesem Tage mit seinem Personenkraftwagen (Volkswagen) die H’er Landstraße von W in Richtung H und hielt dabei eine Geschwindigkeit von 50 bis 60 km/h ein. Kurz vor dem Kilometerstein 3 kamen ihm auf der dort geraden und übersichtlichen Landstraße erster Ordnung drei Schüler im Alter von 10-11 Jahrenauf Fahrrädern entgegen, die hintereinander auf der für sie rechten Fahrbahnseite fuhren. Als sich der Wagen dem als letzten fahrenden Beklagten bis auf etwa 6m genähert hatte, bog dieser plötzlich nach links in die Fahrbahn des Wagens ein. S riss den Wagen vor dem Beklagten nach rechts und geriet mit seinem Fahrzeug auf einen Acker. Als er dort einen Baum umfuhr, schlug der Wagen auf die rechte Seite. S brach sich einen Unterarm und erlitt Platzwunden am Kopf. Er war längere Zeit arbeitsunfähig.

B. Worum geht es?

Das Berufungsgericht hat den Klageanspruch auf Grundlage einer echten berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677, 683, 670 BGB) i.V.m. mit dem gesetzlichen Forderungsübergang auf den Träger der Unfallversicherung aus § 1542 RVO a.F. (heute: § 116 SGB X) bejaht. Danach kann derjenige, der für einen anderen - ohne von ihm beauftragt oder ihm gegenüber sonst berechtigt zu sein - ein Geschäft besorgt, Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er den Umständen nach für erforderlich halten durfte, sofern die Übernahme der Geschäftsführung dem Interesse des Geschäftsherrn und seinem wirklichen oder mutmaßlichen Willen entsprach. Das Berufungsgericht meinte: S habe dadurch, dass er den Wagen vor dem Beklagten nach rechts herumriss und auf den Acker lenkte, ein Geschäft des Beklagten geführt, das dessen Interesse und dessen Willen entsprochen habe, denn er habe den Beklagten davor bewahrt, überfahren und dabei verletzt, wenn nicht gar getötet zu werden. Die Schäden, die S dadurch erlitten habe, seien Aufwendungen zum Zwecke der Geschäftsführung und daher vom Beklagten zu erstatten. Jedoch seien die Schäden nur zur Hälfte zu ersetzen, weil sie auch durch die Gefahr mitverursacht worden seien, die S mit seinem Kraftwagen in den Verkehr getragen habe.

Der BGH hatte damit die folgende Frage zu beantworten:

„Kann ein Kraftfahrer, der in einer plötzlichen Gefahrenlage sich selbst schädigt und dadurch einen anderen davor bewahrt, durch das Kraftfahrzeug überfahren zu werden, von dem Geretteten angemessenen Ersatz unter dem Gesichtspunkt einer Geschäftsführung ohne Auftrag verlangen?“

C. Wie hat der Bundesgerichtshof entschieden?

Der BGH bejaht im Fall „Selbstaufopferung im Straßenverkehr“ (Urt. v. 27.11.1962 – VI ZR 217/61 (BGHZ 38, 270 ff.)) einen Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag gemäß §§ 677, 683 S: 1, 670 BGB.

Zunächst bejaht der BGH eine „Geschäftsführung“ i.S.v. § 677 BGB:

„Die Geschäftsführung ohne Auftrag erfordert nach § 677 BGB als erstes eine Geschäftsbesorgung. Diese Voraussetzung ist hier gegeben. S hat durch das Herumreißen seines Wagens verhindert, daß der Beklagte überfahren wurde; er hat damit eine Angelegenheit besorgt, die im Interesse des Beklagten lag. Das erfüllt den Begriff der Geschäftsbesorgung, denn dieser Begriff ist im weiten Sinne zu verstehen und umfaßt auch Handlungen tatsächlicher Art. Es ist allgemein anerkannt, daß Hilfeleistungen im Falle einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit eines anderen hierher gehören.“

Zudem geht der BGH von einem „objektiv fremden Geschäft“ aus:

„S hat durch sein Handeln auch ein objektiv fremdes Geschäft, also das Geschäft eines anderen besorgt, wie § 677 BGB weiter voraussetzt, denn er hat, wie schon erwähnt wurde, Belange des Beklagten wahrgenommen, indem er ihn davor bewahrte, verletzt oder gar getötet zu werden.
Das kann nicht mit der Erwägung angezweifelt werden, daß eine solche Selbstaufopferung dem eigenen Rechtskreis des Kraftfahrers zuzurechnen sei, weil dieser nach § 1 StVO die Pflicht habe, seinerseits alles zu tun, um einen Unfall zu vermeiden (vgl. OLG Koblenz, Larenz und Werner Wussow aaO). Der Kraftfahrer ist nicht verpflichtet, sein Leben ernstlich zu gefährden, um von einem anderen Verkehrspartner eine Gefahr abzuwenden. Auch die Straßenverkehrsordnung sinnt ihm nicht an, daß er einen anderen schont und sich opfert, wenn er trotz Anwendung der äußersten Sorgfalt in die Lage gerät, entweder sich in Lebensgefahr zu begeben oder den anderen zu überfahren (so zutreffend Staudinger/Nipperdey aaO). Falls S sich darauf beschränkt hätte, zu bremsen und auf der Straße auszuweichen, so hätte er schon damit seine Pflichten aus § 1 StVO erfüllt. Er könnte nicht nach § 7 StVG zur Verantwortung gezogen werden, wenn der Beklagte dabei angefahren worden wäre. Daß S mehr getan und nicht nur sich, sondern auch die anderen Insassen des Wagens in Gefahr gebracht hat, ist daher nicht als die Erfüllung einer Rechtspflicht, sondern als ein Akt der Menschenhilfe anzusehen, auf den die Bestimmungen der Geschäftsführung ohne Auftrag ihrem Zweck nach anzuwenden sind.“

Schließlich bejaht der BGH auch den erforderlichen Fremdgeschäftsführungswillen:

„Den inneren Tatbestand der Geschäftsführung ohne Auftrag hat das Berufungsgericht ebenfalls rechtsfehlerfrei bejaht. Hierzu genügt, daß S in dem Bewußtsein gehandelt hat, das Geschäft als fremdes zu besorgen. Da die Rettung des Beklagten aus der Gefahrenlage schon seiner Natur nach in dessen Bereich fällt, spricht schon eine gewisse Vermutung dafür, daß das Geschäft für den anderen, den es angeht, besorgt worden ist.
Das Oberlandesgericht Koblenz (aaO) meint in seinem Urteil, der Kraftfahrer wolle in dieser Lage eine eigene Pflicht erfüllen und lasse sich von dem Bestreben leiten, eine etwaige Verantwortlichkeit oder Unannehmlichkeit wie z. B. staatsanwaltliche Ermittlungen oder ein Verstricktwerden in eine Schadensersatzklage zu vermeiden. Das ist in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Ein Fahrer, der vor einem gefährdeten Menschen seinen Wagen herumreißt, tut dies in der Regel nicht in dem Gedanken, sich ein Ermittlungsverfahren oder eine Schadensersatzklage mit ihren Unannehmlichkeiten zu ersparen (ebenso Brüggemann aaO). Das Berufungsgericht bezweifelt mit Recht, ob es in der kurzen Zeit, die dem Fahrer bis zu seinem Entschluß zur Verfügung steht, überhaupt zu solchen Erwägungen kommt und ob der etwaige Gedanke an ein Strafverfahren oder an einen Zivilprozeß bei einem Kraftfahrer, der selbst verkehrsgerecht gefahren ist, ausreichen kann, um das eigene Leben, mindestens die eigene Gesundheit, und auch die Gesundheit und das Leben seiner Fahrgäste zu gefährden. Viel näher liegt die Annahme, daß ein Kraftfahrer in dieser kritischen Lage an den gefährdeten Menschen denkt und das Steuer seines Wagens in dem Bestreben herumreißt, den anderen nicht zu überfahren. In der Mehrzahl der Fälle ist davon auszugehen, daß die Handlungsweise des Fahrers von diesem Bestreben bestimmt, zum mindesten weitgehend mitbestimmt wird. Jedenfalls hat das Berufungsgericht in dem jetzt zu entscheidenden Falle festgestellt, daß dies für S die Triebfeder seines Handelns war.
Die Anwendung der Vorschriften über die Geschäftsführung ohne Auftrag darf auch nicht daran scheitern, daß S spontan das zur Rettung des Beklagten Notwendige getan hat. Würde in einer ähnlichen Lage ein Straßenpassant das Kind im letzten Augenblick aus der Gefahrenzone des herannahenden Kraftwagens herausreißen, so wäre er ohne Zweifel auch dann Geschäftsführer ohne Auftrag, wenn er das Kind aus einem ganz spontan gefaßten Entschluß davor bewahrt hätte, überfahren zu werden. Das gleiche muß aber gelten, wenn unter den gleichen Umständen der Fahrer selbst das Kind aus der Gefahr, in die es geraten ist, zu retten unternimmt (vgl. Weimar, DRiZ 1956, 129).“

Als Rechtsfolge können ausnahmsweise auch Schäden „Aufwendungen“ im Sinne von §§ 677, 683, 670 BGB sein (vgl. den Rechtsgedanken aus § 110 HGB):

„Daß bei einer mit Gefahren verbundenen Geschäftsführung ohne Auftrag auch Schäden des Geschäftsführers zu den nach § 683, 670 BGB zu ersetzenden Aufwendungen gehören, ist heute allgemein anerkannt und wird auch von der Revision nicht angezweifelt (vgl. BGHZ 33, 251, 257).“

Allerdings ist der Anspruch (hälftig) zu kürzen, wobei der BGH maßgeblich darauf abstellt, dass S durch die Nutzung des Pkw selbst zu der Gefahrenlage beigetragen habe (vgl. die Gefährdungshaftung aus § 7 StVG):

„Indes darf bei der Prüfung, in welchem Umfang der Gerettete Ersatz zu leisten hat, nicht verkannt werden, daß der erst in der Rechtsprechung entwickelte Ersatzanspruch des Geschäftsführers in solchen Rettungsfällen gegenüber dem im Gesetz ausdrücklich geregelten Ersatz für vermögensrechtliche Aufwendungen Besonderheiten zeigt, denen ein voller Schadenersatz nicht immer gerecht wird. Das zeigt sich gerade in einem Falle wie dem vorliegenden, in dem sowohl das beklagte Kind - davon muß hier ausgegangen werden - wie auch S. schuldlos in eine plötzliche Gefahrenlage geraten sind, die nicht zu meistern war, ohne daß einer der beiden Schaden erlitt. Der Schaden ist also durch eine für beide Beteiligten zufällige Gefahrenlage ausgelöst worden, wie es in ähnlicher Weise im Seerecht bei der großen Haverei der Fall ist. Dort ist ausdrücklich geregelt, daß alle Schäden, die dem Schiff oder der Ladung oder beiden zum Zwecke der Errettung beider aus einer gemeinsamen Gefahr zugefügt werden, von den Beteiligten gemeinschaftlich zu tragen sind (§ 7 HGB).
Hinzu kommt, daß S. durch sein Kraftfahrzeug ebenfalls eine Ursache zu der Gefahr gesetzt hat, deren Auswirkung er durch eine ihn selbst schädigende Rettungshandlung verhinderte. Damit hebt sich der jetzt zu entscheidende Fall wesentlich von jenen Fällen ab, in denen der »Geschäftsführer« eine Gefahr übernimmt, ohne daß er mit der Entstehung dieser Gefahr irgend etwas zu tun hat. In dem oben genannten Beispiel, daß ein Straßenpassant das gefährdete Kind im letzten Augenblick vor einem herankommenden Kraftwagen zurückreißt und sich dabei Verletzungen zuzieht, mag es, da er in keiner Weise zum Entstehen der Gefahrenlage beigetragen hat, in der Regel gerechtfertigt sein, ihm im vollen Umfang Ersatz seiner Körperschäden zuzubilligen. Dagegen wäre es kein sachgerechtes Ergebnis, wenn man dem zur Rettung des Kindes handelnden Kraftfahrer, obwohl die konkrete Gefahrenlage durch sein Fahrzeug mit herbeigeführt worden ist, stets vollen Ausgleich seiner Schäden gewähren wollte.
Daß er den Entlastungsbeweis des § 7 Abs. 2 StVG führen kann, hindert nicht, seine Ansprüche wegen der Mitverursachung des Schadens zu mindern. Auch der Beklagte wird entgegen dem allgemeinen Grundsatz des Haftpflichtrechts, daß ein Radfahrer nur bei Verschulden für die Folgen eines Verkehrsunfalls aufzukommen hat, nach den Vorschriften der Geschäftsführung ohne Auftrag allein auf Grund der Verursachung des Unfalls zum Aufwendungsersatz herangezogen. Dann ist es aber gerecht, bei der Verteilung des Schadens auch die vom Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr als eine der Ursachen des Unfalls zu berücksichtigen.
Wollte man in einem solchen Falle den § 683 BGB ohne jede Einschränkung anwenden, so müßte dem Kraftfahrer stets auch bei einem Mißlingen seiner Rettungshandlung der volle Ersatz seiner Aufwendungen zugebiligt werden. Dieses offenbar unbillige Ergebnis macht aber deutlich, daß es sich hier nicht um einen echten Schadensersatzanspruch handelt, daß dem Retter vielmehr nur eine angemessene Entschädigung zu gewähren ist und daß bei ihrer Bemessung die verschiedenartigen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden müssen.
Die Eigenart dieser Fälle läßt es nicht zu, den Grundsatz der »Totalreparation«, der sonst unser Schadensrecht beherrscht, und das Prinzip des vollen Ersatzes aller sachgemäßen Aufwendungen, das im Auftragsrecht gilt, folgerichtig durchzuführen. Vielmehr muß dem Richter eine gewisse Freiheit beider Bemessung des Ersatzanspruchs eingeräumt werden, damit er so der gemeinsamen Gefahrlage der Beteiligten und dem vom Kraftfahrer mit gesetzten Beitrag zum Entstehen der Gefahr Rechnung tragen kann. Da der Anspruch des Retters auf Ersatz von Körperschäden gegen den Begünstigten erst in der Rechtsprechung entwickelt und näher ausgestaltet worden ist, verstößt es nach Ansicht des Senats auch nicht gegen den Grundsatz der Bindung des Richters an das Gesetz, wenn die richterliche Rechtsfortbildung bei der Bemessung des Schadensersatzes den Besonderheiten Rechnung trägt, die der Gesetzgeber bei der Regelung des Aufwendungsersatzes (§§ 670, 683 BGB) offenbar nicht erwogen hat.
Von der gleichen Auffassung hat sich im Ergebnis auch das Oberlandesgericht leiten lassen, das ebenfalls den Anspruch des Kraftfahrers auf vollen Schadensersatz abgelehnt hat und ersichtlich davon ausgegangen ist, daß dem Beklagten ohne das herankommende Kraftfahrzeug und die von ihm ausgehende Gefahr nichts passiert wäre. Diesem Umstand hat es Rechnung getragen und so zugleich berücksichtigt, daß das Risiko der plötzlich für die beiden Beteiligten entstandenen Gefahrlage angemessen verteilt werden muß. Diese Lösung wird der Eigenart des Falles gerecht. Daß das Berufungsgericht bei der Bemessung der Entschädigung die Ansprüche auf die Hälfte gekürzt hat, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden (im Ergebnis ebenso Brüggemann, DAR 1954, 151, 153 und Roth/Stielau, NJW 1957, 489).“

D. Fazit

Die Geschäftsführung ohne Auftrag ist ein anspruchsvolles gesetzliches Schuldverhältnis. Man ist daher gut beraten, Klassiker wie den Fall der „Selbstaufopferung im Straßenverkehr“ zu kennen.

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