A. Sachverhalt
A gehörte einer von seinem Bruder (B) geführten Bande an, die in Lübeck mit Kokain handelte. B bestellte das Kokain bei Lieferanten und verkaufte selbst Teile des Rauschgifts unmittelbar an Abnehmer größerer Mengen. Den Rest des Rauschgiftes portionierte er für den Straßenverkauf. A nahm telefonisch Kaufaufträge entgegen und bestellte die Kunden zu einem Treffpunkt mit einem Läufer. Anschließend informierte er den Läufer entsprechend und schickte ihn mit dem bestellten Kokain, das der jeweilige Läufer aus einer Bunkerwohnung holte, zu dem Treffpunkt mit dem Kunden, wo das Geschäft abgewickelt wurde.
In die Bande eingebunden waren auch zwei Neffen (N1 und N2) des A, die die Aufgabe hatten, das portionierte Kokain in eine Bunkerwohnung zu bringen, das von den Läufern eingenommene Geld abzuholen und an B zu überbringen. Im Rahmen dieser Bandenstruktur und nach diesem Muster wirkte A in mehreren Fällen am Vertrieb von Kokain mit. Im Anschluss an eine Lieferung erfolgte der polizeiliche Zugriff und die Sicherstellung des Rauschgiftes.
B und die beiden Neffen werden rechtskräftig verurteilt; in der Hauptverhandlung ließen sie sich umfangreich zur Sache ein, wobei sie auch Umstände bekundeten, die A betrafen.
In dem Verfahren gegen A sollen B, N1 und N2 als Zeugen vernommen werden; sie berufen sich jedoch auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht. Daraufhin vernimmt die große Strafkammer des Landgerichts einen Richter (R) aus dem früheren Verfahren gegen B, N1 und N2 über deren damalige Aussagen. Die Strafkammer verurteilt A und stützt sich auf dessen und die Aussagen der Polizeibeamten über dessen polizeiliche Vernehmung. Diese Aussagen sieht das Landgericht durch die Aussage des Richters R aus dem ersten Verfahren bestätigt.
A wendet sich gegen die Verurteilung und meint, dass die Aussage des R nicht hätte in das Verfahren eingeführt werden dürfen.
Ist die zulässige Revision des A begründet?
B. Die Entscheidung des BGH (Beschl. v. 30.11.2017 – 5 StR 454/17)
Die Revision ist begründet, wenn das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht (§ 337 StPO).
1. Rechtsfehler
Möglicherweise hat das Gericht gegen die § 252 StPO verstoßen, als es den Richter R vernahm. **§ 252 StPO **verbietet die Verlesung der Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch macht. Über das bloße Verlesungsverbot hinaus enthält § 252 StPO nach h.M. ein umfassendes Verwertungsverbot der früheren Aussage der zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. Der BGH führt dazu aus:
„[…] Die Zeugen haben in der gegen den Angeklagten geführten Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO) Gebrauch gemacht. § 252 StPO verbietet über seinen Wortlaut hinaus auch die Vernehmung von Personen, die bei Vernehmung des Zeugnisverweigerungsberechtigten zugegen waren (vgl. BGH, Urteile vom 15. Januar 1952 - 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99, 104 f.; und vom 29. Juni 1983 - 2 StR 150/83, BGHSt 32, 25, 29).“
Zwar macht der BGH eine Ausnahme für frühere richterliche Vernehmungen (die Grundsatzentscheidung haben wir als Klassiker vorgestellt), das gilt jedoch nur dann, wenn es sich um frühere richterliche Vernehmungen als Zeuge handelt. Hier waren B und die beiden Neffen indes im früheren Verfahren Angeklagte, weswegen ein umfassendes Verwertungsverbot besteht:
„Da die Zeugen zum Zeitpunkt ihrer Einlassungen angeklagt waren, durften ihre Aussagen in die Hauptverhandlung nicht eingeführt werden (BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2002 - 1 StR 308/02, NStZ 2003, 217).“
Damit hat das Landgericht mit der Verwertung der Einlassungen des Bruders und der beiden Neffen des A in dem gegen sie geführten Strafverfahren durch Vernehmung des in diesem Verfahren tätigen Richters gegen § 252 StPO verstoßen.
2. Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler
Der BGH verneint ein „Beruhen“ des Urteils auf dem Verstoß gegen § 252 StPO:
“Die beiden Neffen des Angeklagten hatten in dem gegen sie geführten Verfahren nur ihren eigenen Tatbeitrag geschildert. Der Bruder des Angeklagten hat hinsichtlich der Taten 3 und 4 nur Umstände bekundet, die der Angeklagte ohnehin eingeräumt hat (UA S. 11). Aus der Einlassung des Angeklagten selbst und den Aussagen der ermittelnden Polizeibeamten ergibt sich die Rolle, die der Angeklagte innerhalb der Bandenstruktur spielte. In ihrer Überzeugung von der Rolle des Angeklagten sah sich die Strafkammer durch die - unzulässigerweise verwerteten - Angaben seines Bruders in der Hauptverhandlung des gegen ihn gerichteten Verfahrens lediglich „bestätigt“.”
3. Ergebnis
Zwar hat das Landgericht gegen § 252 StPO verstoßen. Darauf beruht das Urteil aber nicht (sog. relativer Revisionsgrund). Die Revision ist unbegründet.
C. Fazit
Die erweiternde Auslegung des § 252 StPO, wonach nicht nur ein Verlesungsverbot, sondern auch ein umfassendes Verwertungsverbot besteht, ist ein Klausurklassiker. Dasselbe gilt für die Differenzierung in der Rechtsprechung des BGH zwischen früheren richterlichen Vernehmungen (Verwertung zulässig) und früheren nichtrichterlichen Vernehmungen (Verwertung unzulässig). Der aktuelle Fall erinnert an diese Grundsätze und zudem daran, dass diese Grundsätze des BGH nur für frühere Vernehmungen als Zeugen gelten. Zudem muss immer sorgfältig das „Beruhen“ des Urteils auf dem Rechtsfehler geprüft werden, weil es sich bei dem Verstoß gegen § 252 um einen sog. relativen Revisionsgrund handelt (§ 337 StPO).
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