Blutschande-Fall

A. Sachverhalt

Gegen den Angeklagten ist das Hauptverfahren wegen der Beschuldigung eröffnet worden, vom Frühjahr 1947 bis November 1949 und im April 1950, fortgesetzt handelnd, in zwei Fällen mit seiner Tochter Veronika Blutschande getrieben und in Tateinheit damit sich auch in jedem Falle der fortgesetzten Notzucht (§ 177 StGB), der fortgesetzten Unzucht mit einer Abhängigen (§ 174 Nr. 1 StGB), der fortgesetzten Nötigung zur Unzucht (§ 176 I Nr. 1 StGB), im ersten Falle auch der fortgesetzten Unzucht mit einem Kinde (§ 176 I Nr. 3 StGB) schuldig gemacht zu haben. In der Hauptverhandlung verweigerten die Tochter Veronika und die Tochter seiner Stieftochter ihr Zeugnis, die beide bei ihrer Vernehmung durch die Polizei, die Tochter Veronika auch vor dem Ermittlungsrichter, den Angeklagten belastet hatten. Die Stieftochter selbst, die ebenfalls vor der Polizei ausgesagt hatte und als Zeugin geladen, jedoch wegen Erkrankung nicht zur Hauptverhandlung erschienen war, hatte schon vor der Hauptverhandlung erklärt, dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Den in der Hauptverhandlung gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft, den Kommissar der Landespolizei H., der die Tochter Veronika, die Stieftochter und deren Tochter vernommen hatte, als Zeugen über den Inhalt ihrer Aussagen zu vernehmen, lehnte das Landgericht ab, weil die Vernehmung von Verhörspersonen über Aussagen von Zeugen, die in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machten, unzulässig sei. Da der Angeklagte jede Schuld in Abrede stellte und das Landgericht auch aus der Beweiserhebung über Gespräche, die die Tochter Veronika mit anderen Frauen über das Verhältnis des Vaters zu ihr geführt hatte, keine zweifelsfreie Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gewinnen konnte, wurde dieser freigesprochen.  

B. Worum geht es?

Nach § 244 III 1 StPO ist ein Beweisantrag abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist.
Die Unzulässigkeit der Vernehmung könnte sich hier aus § 252 StPO ergeben, wonach die Verlesung der Aussage eines vor der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Recht, das Zeugnis zu verweigern, Gebrauch macht, verboten ist. Die Tochter Veronika, die Stieftochter und deren Tochter stand jeweils ein Zeugnisverweigerungsrecht zu (§ 52 I Nr. 3 StPO), von dem sie erst im gerichtlichen Verfahren Gebrauch gemacht haben. Nun sollten nicht deren frühere Aussagen „verlesen“ werden (so der Wortlaut von § 252 StPO), vielmehr sollte die Verhörs- bzw. Vernehmungsperson (Polizist und bei Veronika ein Ermittlungsrichter) vernommen werden.
Der BGH hatte damit die folgende Frage zu entscheiden:

„Verbietet § 252 StPO (auch) die Vernehmung der Verhörsperson, wenn ein Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht?“

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH geht im Blutschande-Fall (Urt. v. 15.1.1952 – 1 StR 341/51 (BGHSt 2, 99 ff.)) davon aus, dass das Landgericht, das den Beweisantrag der Staatsanwaltschaft auf Vernehmung des Polizeibeamten ablehnte, der die in der Hauptverhandlung die Aussage verweigernden Zeuginnen vernommen hatte, richtig verfahren habe. Es hätte jedoch den Richter, der die Tochter Veronika des Angeklagten im Vorverfahren nach Hinweis auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht vernommen hatte, über diese Aussage als Zeugen hören dürfen. Weil es das unterlassen habe, habe das Gericht gegen seine Aufklärungspflicht nach § 244 II StPO verstoßen.
Der BGH differenziert also zwischen der Verwertung einer früheren richterlichen Vernehmung (zulässig) und der Verwertung einer früheren nichtrichterlichen Vernehmung (nach § 252 StPO unzulässig).

Zunächst stellt der BGH die Rechtsprechung des Reichsgerichts dar, das in § 252 StPO (dem Wortlaut entsprechend) ein reines Verlesungsverbot sah:

„Das Reichsgericht hat es in ständiger Rechtsprechung für zulässig erklärt, die Verhörsperson über frühere Aussagen eines Zeugen zu vernehmen, der erst in der Hauptverhandlung berechtigterweise das Zeugnis verweigert (RGRspr. Bd. 3 S. 449 und 678; RGSt Bd. 5 S. 143; Bd. 16 S. 119; Bd. 35 S. 5; Bd. 48 S. 246). Es sah die Vernehmung eines Polizeibeamten stets (RGSt Bd. 70 S. 6), diejenige eines richterlichen Vernehmungsbeamten unter der Voraussetzung als erlaubt an, dass er den Zeugen über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt und dieser davon keinen Gebrauch gemacht hatte (RG JW 1932 S. 419). Gegenüber dieser im Grundsatz stets unverändert festgehaltenen Rechtsansicht wandelten sich nur die daraus gezogenen Folgerungen insofern, als das Reichsgericht ursprünglich jede Verwertung der Vernehmungsniederschrift als Gedächtnisstütze bei der Verhörsperson als unzulässig ablehnte (vgl. RGSt Bd. 8 S. 122; Bd. 27 S. 29; Bd. 51 S. 121, 123), diese Einschränkung aber in der Entscheidung RGSt Bd. 72 S. 221 vom 23. Mai 1938 fallen liess.“

Demgegenüber nahmen das Schrifttum und die neuere Rechtsprechung ein umfassendes Verwertungsverbot an, das auch die Vernehmung der Verhörsperson verbiete:

„Demgegenüber hat das Schrifttum überwiegend in § 252 StPO nicht nur ein Verlesungsverbot der früheren Aussage, auch nicht nur ein Verwertungsverbot der Niederschrift über die frühere Aussage, sondern ein Verwertungsverbot der früheren Aussage schlechthin gesehen und von dieser Auffassung aus die Vernehmung von Verhörspersonen über frühere Aussagen von Zeugen, die erst in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen, für unzulässig erachtet, gleichgültig ob es sich um einen Polizeibeamten oder um einen Richter handelt (vgl. die bei Löwe-Rosenberg StPO 19. Aufl. Anm. 3 zu § 252 gegebene Übersicht; von Hippel, Der deutsche Strafprozess 1941, S. 391 und 424).
Die neuere Rechtsprechung hat sich überwiegend der im Schrifttum vertretenen Rechtsauffassung angeschlossen (vgl. OLG Düsseldorf HESt Bd. 1 S. 174; OLG Bamberg SJZ 1948 Sp. 471; OLG München HESt Bd. 2 S. 98; OLG Bremen und OLG Nürnberg SJZ 1950 Sp. 463). Auch der OGH für die Britische Zone ist ihr im Grundsatz gefolgt, er hat jedoch, insoweit einen Gedanken der reichsgerichtlichen Rechtsprechung wiederaufnehmend, die Vernehmung einer richterlichen Verhörsperson dann für zulässig erachtet, wenn der Zeuge bei seiner früheren richterlichen Vernehmung über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden war (OGHSt Bd. 1 S. 299). Der Senat ist der Meinung, dass diese Ansicht der Rechtslage entspricht.“

Der BGH verweist zunächst darauf, dass der Wortlaut des § 252 StPO nicht eindeutig sei:

„Der Wortlaut des § 252 StPO ist nicht so eindeutig, dass er eine der vertretenen Auffassungen entscheidend zu stützen vermöchte. Die Wendung “darf nicht verlesen werden” spricht zwar, auf den ersten Blick betrachtet, für die Ansicht, dass § 252 StPO nur die Verlesung zum Zwecke des Urkundenbeweises verbieten will. Sie scheint also die vom RG zuletzt vertretene Ansicht zu stützen. Die Strafprozessordnung geht jedoch, wie § 249 StPO erkennen lässt, davon aus, dass Urkunden in der Weise in der Hauptverhandlung als Beweismittel verwertet werden, dass sie verlesen werden. Es widerspricht also nicht dem Sprachgebrauch der StPO, wenn man in dem Verlesungsverbot des § 252 StPO ein Verbot sieht, die Niederschrift über die frühere Vernehmung in irgendeiner Form zu verwerten“

Systematischer Zusammenhang, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck von § 252 StPO sprechen aber dafür, dass er nicht nur die Verlesung, sondern eine Verwertung der früheren Aussage in weitem Umfang für unzulässig erklären will:

„Wollte man in § 252 mit dem RG nur ein Verlesungsverbot sehen, wäre die Vorschrift überflüssig. Was sie nach dieser Auffassung besagen soll, würde sich schon aus § 250 StPO ergeben. Die Vorschrift des § 252 lässt sich auch nicht in der Weise deuten, dass § 251 Abs. 1 bestimmte Ausnahmen von der Grundregel des § 250 zulasse und § 252 für einen bestimmten Fall wieder zur Grundregel zurückkehre. Denn die Fälle des § 251 Abs. 1 Nr. 1-3 haben sämtlich zur Voraussetzung, dass der Zeuge, dessen Aussage, verlesen werden darf, in der Hauptverhandlung nicht anwesend ist, während § 252 gerade einen Fall im Auge hat, für den die Anwesenheit des Zeugen in der Hauptverhandlung wesentlich ist. Die Vorschrift des § 252 lässt sich auch nicht als Ausnahme von § 251 Abs. 1 Nr. 4 deuten; denn diese Bestimmung ist viel später in die Strafprozessordnung eingefügt worden als § 252, der sich zwar noch nicht im Entwurf fand aber doch schon auf Grund eines Beschlusses der Reichstagskommission aufgenommen wurde. Er kann darum auch nicht den Sinn haben, dass die Verwertung des Zeugenprotokolls bei Verweigerung des Zeugnisses in der Hauptverhandlung selbst dann ausgeschlossen sein soll, wenn alle Beteiligten mit der Verlesung einverstanden wären. Ebensowenig lässt sich § 252 als blosses Verlesungsverbot verstehen, wenn man ihn zu § 253 StPO in Beziehung setzen wollte. Denn § 253 befasst sich nur mit einer ergänzenden Urkundenbeweisführung neben der persönlichen Vernehmung, während § 252 von einem ganz anderen Sachverhalt ausgeht (zu allen diesen Fragen Schneidewin JR 1951 S. 481, 487).
Lässt sich nach alledem schon aus dem Zusammenhang entnehmen, dass § 252 - mit dem Wortlaut nach dem Sprachgebrauch der Strafprozessordnung vereinbar -, nicht gut als blosses Urkundenverlesungsverbot verstanden werden kann, so bietet die Entstehungsgeschichte sichere Anhaltspunkte dafür, dass er nicht nur die Verlesung, sondern eine Verwertung der früheren Aussage in weitem Umfange für unzulässig erklären will. Die Entstehungsgeschichte ist in RGSt Bd. 10 S. 375 ausführlich wiedergegeben, übrigens der einzigen Entscheidung des RG, die sich eingehend mit ihr befasst und die bezeichnenderweise auch allein zu einem Ergebnis gelangt, das von der ständigen Rechtsprechung des RG abweicht. Danach empfahl der Kommissionsbericht die Annahme des § 252 (damals § 251) als einer besonderen Bestimmung, weil das Recht zur Ablehnung der Aussage, dass der Zeuge noch in der Hauptverhandlung geltend machen könne, wirkungslos sein würde, wenn dessen unerachtet die von ihm früher erstattete Aussage, bei der er vielleicht noch nicht die Tragweite seines Zeugnisses zu erkennen vermocht habe, in der Hauptverhandlung verlesen werden dürfte. Dass man das Verbot der Verlesung der früheren Aussage, entsprechend dem Sprachgebrauch der StPO, als ein Verbot auffasste, die frühere Aussage in irgendeiner Form zu verwerten und zum Gegenstand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung zu machen, zeigt der bei Löwe-Rosenberg Anm. 3 zu § 252 angeführte Vorfall aus der Aussprache im Reichstag. Dort gab ein Abgeordneter seiner Meinung dahin Ausdruck, dass durch § 252 (damals § 251) die Vernehmung von Verhörspersonen als Zeugen nicht ausgeschlossen werde. Dem trat aber der Berichterstatter, der Abgeordnete von Schwarze, mit allem Nachdruck entgegen und bemerkte dabei, wenn durch derartige Manipulationen der Gedanke und die Vorschrift des Gesetzes illusorisch gemacht werden könnten, höre jede Gesetzgebung auf.
Die Bedeutung dieser Vorgänge liegt weniger darin, dass sie zeigen, welchen Sinn die verantwortlichen Urheber der Vorschrift des § 252 mit ihr verbanden; denn es kann zweifelhaft sein, ob reine Inhaltsvorstellungen die Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung für alle Zeit zu binden vermögen. Sie beweisen aber, was wichtiger ist, worin der Rechtfertigungsgrund für die Vorschrift liegt, welchen Zweck man mit ihr verfolgt hat, und welche Zweckvorstellungen auch heute allein die Auslegung bestimmen dürfen. Es ergibt sich dabei, dass § 252 mit den Vorschriften über die Mündlichkeit des Verfahrens und über die Verlesung von Schriftstücken nur in einem äusserlichen Zusammenhang steht. Sachlich gehört § 252 zu den §§ 52 ff StPO, die bestimmten Personen das Recht einräumen, ihr Zeugnis zu verweigern insbesondere zu § 52, der nicht nur in Abs. 1 dem Verlobten, dem Ehegatten und nahen Verwandten und Verschwägerten des Beschuldigten ein Recht zur Zeugnisverweigerung gibt, sondern in Abs. 2 noch, bestimmt, dass der Zeuge in diesen Fällen vom Richter über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt werden muss und dass er den Verzicht auf dieses Recht auch noch während der Vernehmung widerrufen kann. Die in § 252 vorausgesetzte Sachlage, dass ein zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigter Zeuge früher ausgesagt hat und erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, wird also hauptsächlich dann eintreten, wenn der Zeuge zu dem in § 52 StPO genannten Personenkreis gehört. Der Fall kann um so leichter eintreten, als die Verpflichtung zur Belehrung des Zeugen über sein Zeugnisverweigerungsrecht nur für den Richter, nicht aber für den Polizeibeamten besteht, und der Zeuge im Ermittlungsverfahren vor der Polizei häufig voreilig oder ohne Kenntnis seines Weigerungsrechts aussagen wird.
Stellt man den § 252 in diesen Zusammenhang, dann kann sein Sinn nur darin gefunden werden, dass er eine Verwertung der früheren Aussage verbieten will. Das Gesetz gewährt das Zeugnisverweigerungsrecht den in § 52 genannten Personen wegen ihrer nahen persönlichen Beziehungen zum Angeklagten. Wegen dieser Beziehungen konnte der unbedingte Zeugniszwang für sie zu einem Widerstreit der Pflichten führen. Auf diese mögliche innere Belastung nimmt das Gesetz Rücksicht. Sie war dem Gesetzgeber wichtig genug, vor ihr das grundsätzliche Gebot der Aufklärung und Verfolgung von Verbrennen zurücktreten zu lassen. Der mit der Gewährung, des Zeugnisverweigerungsrechts verfolgte Zweck des Gesetzes wird nicht erreicht, wenn die frühere Aussage zwar nicht verlesen, aber dadurch zur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung werden dürfte, dass in einer dem Grundgedanken des Zeugnisverweigerungsrechts widerstreitenden Weise über ihren Inhalt durch Vernehmung des Verhörsbeamten Beweis erhoben wird. Was das Gesetz dem Zeugen mit dem Verweigerungsrecht gewährt, würde es ihm wieder nehmen, wenn es erlaubt sein sollte, ihn ohne jede Rücksicht auf dieses Recht durch die Feststellung des Inhalts einer früheren Aussage und ihrer Verwertung als Urteilsgrundlage derselben seelischen Belastung auszusetzen, die es ihm durch das Verweigerungsrecht ersparen will. Diesem Zusammenhang des § 252 mit den Vorschriften über die Zeugnisverweigerung und diesem auch aus der Entstehungsgeschichte ersichtlichen Zweck der Vorschrift wird nur eine Auslegung gerecht, die in § 252 nicht nur das Verlesungsverbot, sondern auch ein Verbot der Verwertung der früheren Aussage sieht.“

Welchen Umfang dieses Verbot habe, sei nicht eindeutig geregelt. Er ergebe sich aber aus der Stellung, die es im Gesamtaufbau des Strafverfahrensrechts einnehme, wobei ein Ausgleich zwischen zwei Verfahrensgrundsätzen, die sich nicht voll miteinander vereinigen ließen, vorzunehmen sei:

„Dem Grundsatz der Wahrheitserforschung, der zum Wohle der Allgemeinheit die Aufklärung, Verfolgung und gerechte Ahndung von Verbrechen unter Verwendung aller verfügbaren Beweismittel fordert, und dem Grundsatz, dass einem Einzelnen, den wegen seiner persönlichen Nähe zur Sache der Zeugniszwang in einen Widerstreit der Pflichten bringen könnte, die damit verbundene innere Belastung möglichst erspart bleiben soll. Das Gesetz hat in § 252 den Widerstreit der beiden Grundsätze in der Weise gelöst, dass der allgemeine Anspruch auf Aufklärung weitgehend der Rücksicht auf den weigerungsberechtigten Zeugen weichen muss. Als Ausgleich zwischen zwei berechtigten Grundsätzen kann aber die Lösung vom Gesetz nur in der Weise gewollt sein, dass die berechtigten Forderungen der Allgemeinheit nach wahrheitsgemäßer Aufklärung von Verbrechen nicht weiter zurückzutreten brauchen, als es die schutzwürdigen Interessen des weigerungsberechtigten Zeugen verlangen. Bei dem keineswegs eindeutigen Wortlaut des § 252 StPO ist es die Aufgabe der Rechtsprechung, die Grenze im einzelnen zu finden, die diesem Willen des Gesetzes entspricht.“

Bei dieser Prüfung kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass der Rücksicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht der Vorrang vor der Wahrheitserforschung nur dann gebühre, wenn die frühere Aussage bei einer nichtrichterlichen Vernehmung gemacht wurde, dagegen dann nicht, wenn der Zeuge bei einer richterlichen Vernehmung nach dem Hinweis des Richters auf sein Zeugnisverweigerungsrecht freiwillig von ihm keinen Gebrauch gemacht und ausgesagt habe.

Für diese Abgrenzung führt der BGH folgende Argumente an:

„Das Strafverfahrensrecht macht einen deutlichen Unterschied zwischen richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmungen. Die Pflicht, den Zeugen, der nach § 52 Abs. 1 StPO zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt ist, auf dieses Recht hinzuweisen, besteht nur für den Richter, nicht dagegen für den vernehmenden Polizeibeamten oder den Staatsanwalt (§ 252 Abs. 2). Die Zulässigkeit der Verlesung ist bei nichtrichterlichen Protokollen an engere Voraussetzungen geknüpft als bei richterlichen Vernehmungsniederschriften (§ 251 Abs. 1 und 2). Der Gesetzgeber musste also für den Regelfall davon ausgehen, dass der nicht vom Richter vernommene weigerungsberechtigte Zeuge Aussagen gemacht hat, ohne sich seines Rechts zur Zeugnisverweigerung überhaupt oder mit genügender Klarheit bewusst geworden zu sein. Das Verbot, den Inhalt einer solchen Aussage in irgendeiner Weise zum Gegenstand der Beweisaufnahme zu machen, gibt seinem erst später ausgeübten Zeugnisverweigerungsrecht erst den rechten Inhalt. Anders ist die Sachlage bei einem Zeugen, der von einem Richter ausdrücklich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hingewiesen worden ist und daraufhin freiwillig und in Kenntnis der Tragweite seines Verhaltens ausgesagt hat. In diesem Falle hat er die Folgen, die ihm das Gesetz durch Zubilligung des Zeugnisverweigerungsrechts ersparen will, durch freiwillige Entschliessung im Bewusstsein ihrer Bedeutung auf sich genommen. Wenn ihn auch das Gesetz an der einmal getroffenen Entscheidung nicht festhält und ihm erlaubt, den Verzicht auf sein Zeugnisverweigerungsrecht jederzeit zu widerrufen (§ 52 Abs. 2 Satz 2), so fehlt es doch an jedem sicheren Anhalt dafür, dass das Gesetz diesem Widerruf rückwirkende Kraft beilegen und dem Zeugen die Folgen seiner früheren Entscheidung, die er freiwillig auf sich genommen hatte, wieder abnehmen wollte. Der Zeuge darf auch in der Hauptverhandlung die von ihm zunächst getroffene Entscheidung ändern. Es kann während seiner Vernehmung den Verzicht auf sein Zeugnisverweigerungsrecht widerrufen, diesen Widerruf aber auch erst nach dem vorläufigen Abschluss seiner Vernehmung erklären, etwa, wenn ihm im späteren Verlauf der Verhandlung noch eine weitere Frage gestellt wird, unter Umständen auch ohne eine solche besondere Veranlassung. Es fehlt an jedem sicheren Hinweis im Gesetz, aus dem entnommen werden könnte, dass das erkennende Gericht die Aussage, die der Zeuge vor ihm nach Hinweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gemacht hat, als nicht vorhanden betrachten müsste und bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigen dürfte. Aus § 252, der seinem Wortlaut nach die Verlesung der Niederschrift über die frühere Aussage verbietet, also untersagt, etwas zum Gegenstand der Beweisaufnahme zu machen, kann auch bei weitherziger Auslegung nicht die Verpflichtung des Gerichts entnommen werden, eine von ihm zulässigerweise durchgeführte Beweiserhebung als nicht geschehen anzusehen. Eine solche Auslegung würde dem Gericht im übrigen eine auch nur schwer erfüllbare Pflicht auferlegen. Dadurch, dass die Aussage, die ein Zeuge bei einer früheren richterlichen Vernehmung nach Hinweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht freiwillig gemacht hat, zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht wird, werden aber seine Interessen nicht stärker berührt als durch die für zulässig zu erachtende Berücksichtigung von Bekundungen, die er nach Hinweis auf sein Recht in der Hauptverhandlung gemacht hat. In beiden Fällen treffen ihn in gleicher Weise nur Folgen, die er auf Grund einer zulässigen freiwilligen Entschliessung bewusst und in Kenntnis der Tragweite seines Verhaltens auf sich genommen hat. Das rechtfertigt aber auch, beide Fälle rechtlich gleich zu behandeln.
Der Zeuge würde sonst ohne ausreichenden inneren Rechtfertigungsgrund eine Stellung eingeräumt erhalten, die ihn in einer Weise zum Herrn des ganzen Verfahrens machen würde, wie sie sonst für niemanden besteht. …
Dem Beweise zugänglich bleiben demnach trotz § 252 Aussagen eines Zeugen, die er bei einer früheren richterlichen Vernehmung nach Hinweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gemacht hat. Alle anderen Aussagen können jedoch, wenn der Zeuge später von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, nicht Gegenstand der Beweiserhebung durch Vernehmung eines Verhörsbeamten werden. Das gilt auch dann, wenn der Zeuge dabei, obwohl für den Vernehmenden keine Verpflichtung dazu bestand, auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hingewiesen wurde. Die Gleichstellung solcher Vernehmungen mit richterlichen Vernehmungen verbietet sich, weil das Gesetz die richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmungen gerade auch hinsichtlich der Pflicht zum Hinweis auf das Zeugnisverweigerungsrecht unterschiedlich behandelt.
Diese Abgrenzung zwischen den Interessen des weigerungsberechtigten Zeugen und dem berechtigten Verlangen der Allgemeinheit nach Aufklärung und Verfolgung von Verbrechen unter Verwendung aller verfügbaren Beweismittel hat zur Folge, dass von einem Zeugen, der die Entscheidung über sein Recht zur Verweigerung seines Zeugnisses einmal in voller Freiheit und in Kenntnis ihrer Tragweite getroffen hat, unlautere Beeinflussungsversuche nachdrücklicher und wirksamer ferngehalten werden können, als es möglich wäre, wenn aus § 252 ein Verwertungsverbot für alle früheren Zeugenaussagen ohne Unterschied herzuleiten wäre. Solchen Beeinflussungsversuchen, zu denen es erfahrungsgemäß nicht selten kommt, will das Verfahrensrecht nicht einen Einfluss und eine Wirkung sichern, die sie nicht verdienen. Der Beweiswert der Aussage eines Zeugen, der später sein Zeugnis verweigert, wird allerdings bisweilen nicht hoch zu veranschlagen sein. Die Frage nach dem Wert der Aussage, die vom erkennenden Gericht in jedem Falle nach § 261 StPO zu beurteilen ist, hat aber nichts mit der anderen Frage zu tun ob es zulässig ist, sie zum Gegenstand der Beweisaufnahme zu machen.“

 

D. Fazit

Die erweiterte Auslegung von** § 252 StPO** und die (nicht ohne Weiteres sofort einleuchtende) Differenzierung zwischen früheren richterlichen und früheren nichtrichterlichen Vernehmungen sind absolute Klausurklassiker!