A. Sachverhalt
Das Amtsgericht Hannover erließ am 16.11.2016 einen Strafbefehl wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gegen die Angeklagte. Hierin wird der Angeklagten vorgeworfen, am 27.07.2016 gegen 06.10 Uhr als Führerin des Personenkraftwagens Mercedes, amtliches Kennzeichen H-AB 123 in Hannover die A-Straße befahren zu haben und hier vor der Hausnummer 2 gegen den am rechten Fahrbahnrand geparkten Pkw Audi, amtliches Kennzeichen H-CD 456. gestoßen zu sein. Anschließend soll sie in Kenntnis des Unfalls den Ort mit ihrem Fahrzeug verlassen haben, so dass die notwendigen Feststellungen vereitelt worden seien. Der Sachschaden belaufe sich auf rund 1.218,00 €. Gegen den Strafbefehl legte die Angeklagte mit anwaltlichem Schriftsatz vom 24.11.2016, eingegangen beim Amtsgericht Hannover am selben Tage, Einspruch ein.
Mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 08.12.2016 beantragte die Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt R als Pflichtverteidiger beizuordnen. Die Rechtslage sei schwierig im Sinne des § 140 II StPO, da ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der Angaben der Angeklagten gegenüber dem Zeugen POK P zu prüfen sei. Die Angeklagte habe aufgrund der vorangegangenen Ermittlungen bereits zwingend vor Beginn der Vernehmung als Beschuldigte und nicht nur als Zeugin belehrt werden müssen. Der hieraus resultierende Verstoß führe zu einem Beweisverwertungsverbot.
Wird das Amtsgericht der Angeklagten den Verteidiger R beiordnen?
B. Die Entscheidung des LG Hannover (Beschl. v. 23.1.2017 – 70 Qs 6/17)
Das Amtsgericht wird der Angeklagten einen Verteidiger beiordnen, wenn ein Fall von § 140 StPO vorliegt (§ 141 StPO).
Eine unter den Katalog des § 140 I StPO fallende Fallgestaltung liegt nicht vor. In Betracht kommt aber die Generalklausel § 140 II StPO. Einem Angeklagten ist nach § 140 II 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen kann. Dazu führt das LG Hannover aus:
„Die vorliegend in Betracht kommende Schwierigkeit der Rechtslage ist dann gegeben, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird (KG NJW 2008, 3449; vgl. Meyer-Goßner, Kommentar StPO, 59. Auflage, § 140 Rn. 27a). Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich Fragestellungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt (vgl. OLG Hamm, Blutalkohol 47, 301 f. (2010); OLG Brandenburg NJW 2009, 1287). Maßgeblich ist insoweit nicht, ob tatsächlich von einem Verwertungsverbot auszugehen ist. Ausreichend ist vielmehr, wenn die Annahme eines Verwertungsverbotes ernsthaft in Betracht kommt.“
Das LG bejaht die Möglichkeit eines Beweisverwertungsverbots. Der Zeuge POK P habe die Angeklagte entgegen §§ 163a IV 2, 136 I 2 StPO nicht über ihre Aussageverweigerungsrecht belehrt; als Halterin des Fahrzeugs sei sie „Beschuldigte“ im Sinne von § 136 I StPO gewesen:
„Die Schwierigkeit der Rechtslage ergibt sich dabei aus der Frage der Verwertbarkeit der am 28.07.2016 gegenüber dem Zeugen POK P getätigten Angaben der Angeklagten sowie die Einführung ihrer Einlassung in die Hauptverhandlung. Hierbei drängt sich die in Rechtsprechung und Schrifttum mannigfaltig diskutierte Problematik auf, ob die Verwertung der Angaben des erforderlichenfalls im Hauptverhandlungstermin zu vernehmenden Zeugen POK gegen das sich aus §§ 163 a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 StPO ergebende Beweisverwertungsverbot verstoßen.
Zwar obliegt die Beurteilung, ob ein Verdächtiger als Beschuldigter zu belehren ist, der pflichtgemäßen Bewertung des Vernehmungsbeamten (BGHSI 51, 367 [371]). Die Grenzen des Beurteilungspielraums sind jedoch überschritten, wenn trotz starken Tatverdachts nicht von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen wird oder auf diese Weise die Beschuldigtenrechte umgangen werden (BGH NStZ-RR 2012, 49). So ist der Halter eines Kraftfahrzeuges beim Verdacht der Unfallflucht regelmäßig als Beschuldigter zu belehren (OLG Nürnberg StV 2015, 155). Der eingesetzte Polizeibeamte POK P ging am 28.07.2016 davon aus, dass die zuvor bei der Wache Polizeiinspektion Hannover-Mitte erschienene Angeklagte die Halterin des im Zusammenhang mit einer Unfallflucht zu überprüfenden Fahrzeugs sei. Ferner musste losgelöst von der Frage, ob ein möglicher Kennzeichenablesefehler vorliegt, sich spätestens dann der Verdacht dahin verstärkt haben, sie als Beschuldigte zu belehren, als sie in der ihr zugeschriebenen Eigenschaft als Zeugin schilderte, dass der Pkw ihr gehöre, sie die ständige Nutzerin des Fahrzeugs sei und auch ausschließlich sie den Pkw nutze. Selbst als sie bekundete, dass ihr Freund am Unfallort in der pp. wohne, erfolgte keine Belehrung gemäß § 136 Abs. 1 StPO. Erst als sie weiter aussagte, dass sich ihr Pkw zur Unfallzeit in der pp. befunden habe und von ihr dort genutzt worden sei, belehrte der Zeuge die Angeklagte als Beschuldigte im Strafverfahren.“
Daraus ergebe sich, dass die Angeklagte nicht in der Lage sei, sich selber adäquat zu verteidigen:
„Die Angeklagte, die über keine juristische Vorbildung verfügt, wird die sich vorliegend mit der Einführung und Verwertung von Beweismitteln stellenden Rechtsfragen nicht beantworten können. Zur Ausrichtung der Verteidigungsstrategie ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob ein Berufen auf ein Beweisverwertungsverbot verfahrenstaktisch sinnvoll ist, unerlässlich und nur nach Rücksprache mit einem Rechtsanwalt zu beantworten. Fernerhin können die insofern relevanten Rechtsfragen regelmäßig nur nach vollständiger Aktenkenntnis geprüft werden. Unter Zugrundelegung dieses Beurteilungsmaßstabs ist nach Gesamtwürdigung der Sach- und Rechtslage eine Pflichtverteidigung vorliegend geboten, weil die Annahme eines Beweisverwertungsverbots jedenfalls ernsthaft in Betracht kommt.
Dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO steht auch nicht entgegen, dass weitere Beweismittel zur Verfügung stehen, da mit der Beantwortung der sich aufdrängenden Rechtsfragen eine entscheidende Weichenstellung für die einzuschlagende Verteidigungsstrategie verbunden ist.“
Damit ist der von der Angeklagten benannte R (§ 142 I 2 StPO) als notwendiger Verteidiger zu bestellen.
C. Fazit
Beweisverwertungsverbote werden gern in strafprozessualen Zusatzfragen geprüft; die Einkleidung in § 140 II StPO gibt dem Thema einen zusätzlichen „Dreh“. Referendarinnen und Referendare müssen nicht besonders darauf hingewiesen werden, dass Fragen rund um § 140 StPO zum Kernstoff der Ausbildung zählen und beispielsweise im Rahmen einer Revisionsklausur (absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO) abgeprüft werden können.
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