Haustyrannen-Fall

A. Sachverhalt

Nach den Feststellungen des Landgerichts erschoss die Angeklagte am 21. September 2001 gegen Mittag ihren schlafenden Ehemann M. F. mit dessen Revolver. Dieser hatte sie über viele Jahre hinweg durch zunehmend aggressivere Gewalttätigkeiten und Beleidigungen immer wieder erheblich verletzt und gedemütigt. Als sie die Tat beging, sah sie keinen anderen Ausweg mehr, um sich und auch die beiden gemeinsamen Töchter vor weiteren Tätlichkeiten zu schützen.
 
Die Angeklagte lernte M. F. im Jahre 1983 kennen und freundete sich mit ihm an. Dieser war bereits damals Mitglied einer Rockergruppe. Er wurde alsbald gegenüber der Angeklagten tätlich, indem er sie ohrfeigte. Gleichwohl heiratete die Angeklagte ihn 1986. Später, nach der Geburt der ersten Tochter J, versetzte er ihr auch Faustschläge ins Gesicht oder in die Magengegend und trat sie, wenn irgendetwas im täglichen Ablauf nicht seinen Vorstellungen entsprach oder die Angeklagte seinen “Befehlen” nicht mit der erwarteten Schnelligkeit nachkam. Zudem ging er immer mehr dazu über, bei jeder alltäglichen Verrichtung die Hilfe der Angeklagten in Anspruch zu nehmen. Auch musste sie sämtliche Gegenstände wegräumen, die er irgendwo liegen ließ. Als die Angeklagte schließlich mit der zweiten Tochter T. schwanger war, nahm er hierauf keine Rücksicht und versetzte ihr auch jetzt Fußtritte und Faustschläge in den Bauchbereich. Hierauf führte die Angeklagte zurück, dass T. mit einer Lippen-Gaumen-Spalte zur Welt kam.
 
Die Gewalttätigkeiten nahmen schließlich solche Ausmaße an, dass die Angeklagte im Mai 1988 den Entschluss fasste, sich von ihrem Mann zu trennen. Sie begab sich in ein Frauenhaus. Ihre Eltern waren nicht bereit, sie aufzunehmen, weil sie Furcht vor den Nachstellungen M. F.s hatten. Nachdem dieser jedoch Besserung gelobt hatte, kehrte die Angeklagte nach vier Wochen zu ihm zurück. Im Jahr 1993 kam es zu einem weiteren Übergriff, bei dem er sie so lange schlug, bis sie auf dem Boden liegen blieb. Danach trat er auf die am Boden Liegende mit seinen Springerstiefeln mehrfach ein; dabei erlitt sie eine Nierenquetschung. In der Klinik täuschte die Angeklagte zur Verschleierung indessen einen Sturz vor. Ein anderes Mal stieß M. F. den Kopf der Angeklagten mehrfach mit solcher Heftigkeit gegen eine Zimmerwand, dass diese großflächig mit Blut verschmiert wurde und die Angeklagte bewusstlos zu Boden fiel. Er selbst nahm an, er habe sie getötet. Seit Mitte der 90er Jahre schlug er sie, wann immer er meinte, sie habe etwas falsch gemacht. In einem Falle versetzte er ihr mitten in der Nacht während des Schlafes einen Faustschlag ins Gesicht, weil sie ihm nach seiner Auffassung Anlass zu eifersüchtigen Träumen gegeben hatte; die aufgeplatzte Lippe musste chirurgisch versorgt werden.
 
Nachdem die Eheleute schließlich ein Hausgrundstück gekauft hatten und M. F. selbst Hand im Garten anlegte, erwartete er, dass die Angeklagte auf seinen Wink notwendige Werkzeuge oder Hilfsmittel herbeiholte; dabei titulierte er sie regelmäßig als “Schlampe”, “Hure” oder “Fotze” und bedachte sie mit Ohrfeigen oder Fußtritten. Registrierte er, dass diese Handlungsweise von Nachbarn beobachtet werden konnte, schickte er die Angeklagte ins Haus, folgte ihr und verabreichte ihr dann dort weitere Faustschläge und Fußtritte.
 
In der neuen Umgebung wurden seine Gewalttätigkeiten noch intensiver und häufiger. Es kam vor, dass er seine Frau mit einem Baseballschläger oder sonstigen Gegenständen schlug, die gerade für ihn greifbar waren. Schließlich misshandelte und demütigte er sie auch vor seinen Freunden in seinem Motorradclub: Weihnachten 2000 schlug er sie in Anwesenheit der versammelten Vereinsmitglieder, zwang sie vor ihm niederzuknien und ihm nachzusprechen, sie sei eine “Schlampe” und der “letzte Dreck”.
 
Die Angeklagte nahm die ständigen Beleidigungen und Körperverletzungen ohne Widerworte oder gar Gegenwehr hin; sie meinte, dass ihr Mann sich sonst noch mehr erzürnen und noch kräftiger zuschlagen würde.
 
Nachdem M. F. sich im April 2001 als Gastwirt selbständig gemacht hatte, steigerten sich seine Gewalttätigkeiten weiter. Er schlug nicht nur die Angeklagte. Auch die Töchter J. und T. bekamen jetzt Schläge “ins Genick”, wenn sie sich seiner Auffassung nach aufsässig oder unbotmäßig verhielten. Die Angeklagte, die M. F. in jeder freien Minute für Handreichungen bei allen alltäglichen Verrichtungen zur Verfügung zu stehen hatte und ihn bedienen musste, fand seit der Eröffnung der Gaststätte kaum mehr Schlaf. Durch die fortgesetzten Beleidigungen und Tätlichkeiten geriet sie an die Grenzen ihrer psychischen und physischen Belastbarkeit. Körperlich magerte sie immer mehr ab. Im Sommer 2001 war sie ein drittes Mal von M. F. schwanger, erlitt aber im August, also etwa einen Monat vor der Tat, eine Fehlgeburt.
 
In den letzten beiden Tagen vor der Tat hatte M. F. außergewöhnlich heftige Wutanfälle. So regte er sich auf, weil er fürchtete, nicht rechtzeitig zur Öffnung seiner Gaststätte zu kommen. Er machte die Angeklagte dafür verantwortlich, weil sie ihn nicht früher geweckt habe. Als er sich über eine im Windzug klappernde Tür erregte und die Angeklagte versuchte, ihn zu beschwichtigen, gab er ihr mehrere wuchtige Ohrfeigen, die sie zu Boden warfen. Daraufhin trat er barfuß auf sie ein. Kurze Zeit später versetzte er ihr unvermittelt einen so starken Faustschlag in den Magen, dass sie sich vor Schmerz zusammenkrümmte. Anschließend ohrfeigte er sie heftig. Er war nun wütend, weil die Angeklagte dabei gegen eine Tür gestoßen war; er hielt ihr vor, dass die Tür hätte beschädigt werden können. Sodann trat er, der nun Springerstiefel trug, mindestens zehnmal auf die schließlich am Boden liegende Angeklagte ein, kniete sich auf sie und schlug ihr mit den Fäusten ins Gesicht. Er zog sie an den Haaren zu sich heran und biss ihr in die Wange. Infolge der Verletzungen konnte die Angeklagte an diesem Tag nicht das gemeinsame Lokal aufsuchen und musste auch einen Zahnarztbesuch absagen.
 
Als M. F. am Tattag gegen 3.30 Uhr aus seinem Lokal nach Hause kam, stritt er erneut mit der Angeklagten. Eine halbe Stunde lang beschimpfte er sie, bespuckte sie und schlug ihr ins Gesicht, so dass sie aus dem Mund blutete. Schließlich ging er zu Bett, während die Angeklagte wach blieb, weil sie die Kinder um 6.00 Uhr für die Schule fertig machen musste. Später, gegen 9.00 Uhr, stieß sie beim Aufräumen in der Wohnung auf den von M. F. illegal erworbenen achtschüssigen Revolver “Double Action” der Marke Aminius, Kaliber 22 Magnum, nebst Munition. Diesen verwahrte ihr Mann normalerweise in der Gaststätte, um sich gegen Racheakte verfeindeter Rockergruppen und Überfälle zu schützen.
Die Angeklagte hielt ihre Situation für vollkommen ausweglos, seit sie einige Wochen zuvor wahrgenommen hatte, dass sich ihr Allgemeinzustand wegen der Doppelbelastung im Haushalt und in der Gaststätte sowie aufgrund der Beschimpfungen und Tätlichkeiten ihres Mannes erheblich verschlechtert hatte. Sie glaubte daher, den sich steigernden Gewalttätigkeiten bald “nicht mehr Stand halten zu können” und befürchtete, dass die Tätlichkeiten auch gegen die Töchter schlimmere Ausmaße annehmen könnten und sie selbst dann aufgrund ihres schlechten Allgemeinbefindens dagegen immer weniger würde unternehmen können. Nach drei gescheiterten Selbstmordversuchen mittels Tabletten in zurückliegender Zeit war in ihr die Einsicht gereift, dass ein Selbstmord keine Lösung sei, weil dann ihre Töchter den Gewalttätigkeiten des Mannes schutzlos ausgesetzt wären. Spätestens seit Sommer 2001 hatte sie sich deshalb verstärkt mit dem Gedanken befasst, dem Leben ihres Mannes ein Ende zu setzen. Sie sah in ihrer Situation keinen anderen Ausweg, den Gewalttätigkeiten M. F.s zu entkommen und ihre eigene sowie die Unversehrtheit ihrer Töchter für die Zukunft zu garantieren, als ihn zu töten. Eine Trennung von M. F. meinte sie auch mit Hilfe staatlicher oder karitativer Einrichtungen nicht bewerkstelligen zu können. Für diesen Fall hatte er ihr - nachdem sie aus dem Frauenhaus zurückgekehrt war - wiederholt angedroht, dass er den Töchtern etwas antun würde. Auch sie selbst könne er jederzeit ausfindig machen. Selbst wenn er ins Gefängnis käme, sei sie nicht vor ihm sicher. Er werde schließlich irgendwann “wieder herauskommen”. Überdies könne er auch aus dem Gefängnis heraus seine Freunde aus den Rockergruppen beauftragen, ihr etwas anzutun. Die Angeklagte nahm diese Drohungen ernst. Tatsächlich waren M. F. und die Rockergruppen, denen er angehörte, gerichtsbekannt äußerst gewalttätig.
 
Nachdem die Angeklagte nach dem Auffinden des Revolvers längere Zeit mit sich gerungen hatte, ob dies die Gelegenheit sei, die von ihr bereits seit einiger Zeit in Aussicht genommene Tat zu begehen, entschloss sie sich, den Schritt zu wagen und ihren Ehemann zu töten. Sie sah darin die “einzige Lösungsmöglichkeit”, um die für sie ruinöse Beziehung zu ihrem Mann zu beenden. Sie betrat das Schlafzimmer und feuerte aus einer Entfernung von rund 60 cm den Inhalt der gesamten Trommel des achtschüssigen Revolvers in Sekundenschnelle auf ihren schlafenden Ehemann ab. Zwei der Geschosse trafen und führten umgehend zu seinem Tod.
 
Nach der Tat versandte sie zwei SMS-Nachrichten an ihre Töchter, dass sie sogleich nach der Schule nach Hause kommen sollten. Später nahm sie telefonisch Kontakt mit einem Rechtsanwalt auf, der kurz darauf im Haus der Angeklagten eintraf. Dort erschienen ca. 40 Minuten später auch die Mutter der Angeklagten und andere Verwandte. Wenig später wurde die Polizei benachrichtigt.
 
Auf dieser Grundlage ist die Strafkammer des Landgerichts von heimtückisch begangenem Mord ausgegangen, der nicht durch Notwehr gerechtfertigt sei. Das Vorliegen weiterer gesetzlicher Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe hat die Kammer nicht geprüft. Anstelle der danach an sich zu verhängenden lebenslangen Freiheitsstrafe hat die Strafkammer wegen Vorliegens außergewöhnlicher Umstände, unter denen die Angeklagte die Tat begangen hat, nach den Grundsätzen der Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs für Strafsachen (BGHSt 30, 105) die ausgesprochene Strafe dem entsprechend § 49 I Nr. 1 StGB gemilderten Strafrahmen entnommen (sogenannte Rechtsfolgenlösung). Andere gesetzliche Strafmilderungsgründe greifen nach ihrer Auffassung nicht ein.  

B. Worum geht es?

Der Fall betrifft eine Vielzahl von Problemen des Allgemeinen und Besonderen Teils: die Frage der Gegenwärtigkeit eines Angriffs gemäß § 32 StGB, Fragen der Dauergefahr, der anderweitigen Abwendbarkeit und der Güterabwägung im Rahmen des rechtfertigenden Notstands gemäß § 34 StGB, die Anforderungen des entschuldigenden Notstands gemäß § 35 I StGB und der Irrtumsregelung in § 35 II StGB, die Möglichkeiten einer restriktiven Auslegung des Mordtatbestandes sowie die sogenannte Rechtsfolgenlösung, um die absolute Strafandrohung des § 211 I StGB abzumildern.
Der BGH hatte folgende Frage zu beantworten:

Ist die Tötung eines „Haustyrannen“ als heimtückischer Mord zu bewerten und mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen?

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH hebt im Haustyrannen-Fall (Urt. v. 25.3.2003 – 1 StR 483/02 (BGHSt 48, 255 ff.)) den Schuldspruch des Landgerichts auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer zurück (§§ 353 I, 354 II StPO).
 
Der Senat rügt, dass das Landgericht nicht geprüft habe, ob die Angeklagte in einem entschuldigenden Notstand gehandelt hat oder sich jedenfalls über dessen Voraussetzungen - vermeidbar oder unvermeidbar - irrte (§ 35 StGB). Im Falle eines solchen Notstandes oder eines unvermeidbaren Irrtums über das Vorliegen entschuldigender Umstände käme nämlich ein Freispruch in Betracht. Bei einem vermeidbaren Irrtum wäre die Strafe obligatorisch nach § 49 I StGB zu mildern; diese Milderung ginge der sogenannten Rechtsfolgenlösung analog § 49 I Nr. 1 StGB vor (siehe dazu den Klassiker “Onkel-Fall”).
 
Zunächst bestätigt der BGH jedoch die Annahme des Landgerichts, dass die Angeklagte den Tatbestand des heimtückischen Mordes erfüllt habe:

„Die Annahme heimtückischen Handelns der Angeklagten läßt ebensowenig einen Rechtsfehler erkennen. Die Würdigung, sie habe die Arg- und Wehrlosigkeit ihres Mannes in feindlicher Willensrichtung bewußt zur Tötung ausgenutzt, wird von den Feststellungen getragen. M. F. hatte seine Arglosigkeit gleichsam “mit in den Schlaf genommen” (vgl. BGHSt 23, 119, 121). Gründe, die hier eine andere Bewertung hätten rechtfertigen können, sind nicht festgestellt. Die Angeklagte hatte in der Vergangenheit die Demütigungen und Mißhandlungen durch ihren Mann ohne Gegenwehr über sich ergehen lassen. Es lag deshalb außer Betracht, daß dieser zum Zeitpunkt seines Einschlafens mit einer erheblichen körperlichen Attacke durch die Angeklagte gerechnet hätte. Schließlich erschoß die Angeklagte ihren Mann gezielt im Schlaf, weil sie es nicht wagte, ihm offen feindselig gegenüberzutreten (UA S. 13, 45). Ihre Einsichts- und ihre Steuerungsfähigkeit waren nicht in erheblicher Weise eingeschränkt. Sie hatte sich seit längerem mit dem Gedanken an eine Tötung M. F. s befaßt und auch unmittelbar vor der Tatausführung längere Zeit mit sich gerungen.“

 
Zudem habe die Angeklagte nicht gerechtfertigt gehandelt. Insbesondere scheide ein rechtfertigender Notstand aus, weil § 34 StGB eine Abwägung von „Leben gegen Leben“ nicht zulasse:

„Die Rechtswidrigkeit der Tat der Angeklagten hat das Landgericht im Ergebnis ebenfalls zu Recht bejaht. Notwehr hat es ausgeschlossen, allerdings die Frage eines rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) nicht erörtert. Dessen Voraussetzungen lagen auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen jedoch ersichtlich nicht vor. Die Annahme eines rechtfertigenden Notstandes setzt eine Interessenabwägung voraus. Diese muß zum Ergebnis haben, daß das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt (§ 34 Satz 1 StGB). Es liegt auf der Hand, daß die hier in Rede stehenden zu schützenden Rechtsgüter, die körperliche Unversehrtheit der Angeklagten und der gemeinsamen Töchter, das durch die Tat beeinträchtigte Interesse, nämlich das Leben M. F. s als vernichtetes Rechtsgut, nicht überwogen. Das Ergebnis der Abwägung würde selbst dann nicht zugunsten der Angeklagten ausfallen, wenn eine zugespitzte Situation mit akuter Lebensgefahr für einen Familienangehörigen M. F. s unterstellt würde (vgl. zur sog. Abwägung von “Leben gegen Leben”: Lenckner/Perron in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 34 Rdn. 30, 31; Rengier NStZ 1984, 21, 22; siehe weiter zur Frage einer Rechtfertigung der Tötung des sog. “Haus- oder Familientyrannen” in zugespitzten Gefahrensituationen: Lackner/Kühl StGB 24. Aufl. § 32 Rdn. 4, § 34 Rdn. 9; Roxin, Strafrecht AT 3. Aufl. § 16 Rdn. 76; Hillenkamp, FS Koichi Miyazawa, 1995, S. 141, 146; Ludwig, “Gegenwärtiger Angriff”, “drohende” und “gegenwärtige” Gefahr im Notwehr- und Notstandsrecht, Diss. 1991, S. 169; Otte, Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, Diss. 1998, S. 179 f.; Byrd, in: Bottke, Familie als zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften, 1994, S. 117, 125).“

 
Das Landgericht hätte aber die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands prüfen müssen. Bei Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Täters, eines Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person ist eine rechtswidrige Tat entschuldigt und wird nicht bestraft, wenn die Gefahr nicht anders als durch die Tat abwendbar war (§ 35 I 1 StGB). Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen legten nämlich nahe, dass eine derartige gegenwärtige Gefahr für die Angeklagte und ihre Kinder bestand. Eine Entschuldigung der Tat erscheine daher nicht von vornherein ausgeschlossen:

„Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Gefahr im Sinne des § 35 Abs. 1 StGB ein Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht (vgl. nur BGHSt 18, 271). Dazu zählt auch eine Dauergefahr, bei der ein länger andauernder gefahrdrohender Zustand jederzeit in einen Schaden umschlagen kann (BGH NJW 1979, 2053, 2054). Insoweit unterscheidet sich der Anknüpfungspunkt des entschuldigenden Notstandes, die gegenwärtige Gefahr, von demjenigen der Notwehr, die einen gegenwärtigen Angriff voraussetzt.
 
Nach den Urteilsgründen drängte sich hier die Annahme auf, daß die Angeklagte und ihre Kinder sich in einer von M. F. ausgehenden Dauergefahr für ihre körperliche Unversehrtheit und möglicherweise auch für ihr Leben befanden. Die Gewalttätigkeiten des Ehemannes gegen die Angeklagte dauerten seit etwa 15 Jahren an. Sie hatten sich in den Monaten und Tagen vor der Tat ständig gesteigert und schon früher zu schweren Verletzungen der Angeklagten geführt. Sie richteten sich mittlerweile auch gegen die gemeinsamen Töchter. Nach den getroffenen Feststellungen lag daher nahe, daß hier eine an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit auch zukünftiger Verletzungshandlungen bestand.
Gegenwärtig ist die Gefahr dann, wenn sich die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nach einem objektiven Urteil aus der ex-ante-Sicht so verdichtet hat, daß die zum Schutz des bedrohten Rechtsguts notwendigen Maßnahmen sofort eingeleitet werden müssen, um den Eintritt des Schadens sicher zu verhindern. Bei einer Dauergefahr ist eine solche Verdichtung der Gefahr dann anzunehmen, wenn der Schaden jederzeit eintreten kann, auch wenn die Möglichkeit offen bleibt, daß der Schadenseintritt noch einige Zeit auf sich warten läßt (BGH NJW 1979, 2053, 2054; vgl. auch BGHSt 5, 371, 373).
 
Auf der Grundlage dieses Maßstabes war die Annahme einer “gegenwärtigen Gefahr” im Sinne des § 35 Abs. 1 StGB hier naheliegend. Diese konnte sich jederzeit realisieren, auch wenn M. F. im Tatzeitpunkt schlief; er hatte die Angeklagte bereits in der Vergangenheit aus dem Schlaf heraus und ohne konkreten Anlaß mißhandelt. Zudem war mit seinem Erwachen und der sofortigen Aufnahme weiteren Streits mit den allfälligen körperlichen Mißhandlungen zu rechnen. Zur Vermeidung weiteren Schadenseintritts war deshalb im Grundsatz sofortiges Handeln geboten.“

 
Sodann führt der BGH aus, dass die Frage einer Entschuldigung der Angeklagten davon abhängen werde, ob die Gefahr für sie anders - als durch die Tat - abwendbar gewesen wäre. Dazu stellt er folgende Grundsätze auf:

„Die Gefahr wäre dann nicht anders als durch die Notstandstat abwendbar gewesen, wenn diese das einzig geeignete Mittel gewesen wäre, der Notstandslage wirksam zu begegnen (BGH NJW 1966, 1823, 1824 f.; Urteil vom 21. Mai 1992 - 4 StR 140/92). Als anderweitige Abwendungsmöglichkeiten kamen hier ersichtlich die Inanspruchnahme behördlicher Hilfe oder der Hilfe karitativer Einrichtungen in Betracht, namentlich der Auszug der Angeklagten mit den Töchtern aus dem gemeinsamen Haus und die Übersiedlung etwa in ein Frauenhaus, aber auch das Suchen von Zuflucht bei der Polizei mit der Bitte um Hilfe im Rahmen der Gefahrenabwehr; letzteres wäre naheliegenderweise mit einer Strafanzeige verbunden gewesen. Die Angeklagte hat indessen nicht versucht, sich auf diese Weise aus ihrer bedrängten Lage zu befreien. Unter diesen Umständen könnte die Gefahr nur dann als nicht anders abwendbar bewertet werden, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte des Einzelfalles die hinreichende Wirksamkeit der Handlungsalternativen von vornherein zweifelhaft gewesen wäre. Denn auch bei Bestehen einer Dauergefahr muß die Abwehr nicht darauf beschränkt werden, die Gefahr nur hinauszuschieben (BGHSt 5, 371, 375; BGH NJW 1979, 2053, 2054). Anhaltspunkte dafür, daß die Alternativen zur Abwehr der Gefahr nicht in diesem Sinne wirksam gewesen wären, können sich etwa daraus ergeben, daß die Behörden trotz Hilfeersuchens und Kenntnis der Lage in der Vergangenheit nicht wirksam eingeschritten waren und daher ungewiß bleiben mußte, ob sie in der aktuellen Notstandslage nachhaltig eingreifen würden (BGH NJW 1966, 1823, 1824 f.; NJW 1979, 2053, 2054), oder daß mögliche polizeiliche Hilfe die Notstandslage nicht wirksam hätte beseitigen können (dazu BGH GA 1967, 113).
 
Nach den bisherigen Feststellungen läßt sich nicht verläßlich beurteilen, ob die Angeklagte zur Abwendung der ihr und den Kindern drohenden Gefahr ohne aussichtsreiche, wirksame Handlungsalternative war, wiewohl dies eher fernliegen wird. Auch wenn im Falle des Auszugs und der Inanspruchnahme von Hilfe Nachstellungen M. F. s zu besorgen gewesen wären, so bleibt zu bewerten, wie ernst die von diesem ausgesprochenen Drohungen tatsächlich zu nehmen waren. Schließlich ist im Grundsatz bei vollständiger Kenntnis des objektiven Sachverhalts davon auszugehen, daß solcherart in Bedrängnis geratenen Familienangehörigen von staatlichen Stellen und karitativen Einrichtungen auch wirksame Hilfe zuteil wird. Das wird auch dann gelten, wenn - wie hier - die rechtlichen Möglichkeiten des mittlerweile in Kraft getretenen Gewaltschutzgesetzes noch nicht bestanden haben, unter dessen Geltung aber zukünftig um so mehr (Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen vom 11. Dezember 2001 - BGBl. I S. 3513). An die Annahme anderweitiger Abwendbarkeit der Dauergefahr sind nicht zuletzt aus normativen Gründen und zumal dann, wenn die Vernichtung des Rechtsguts Leben in Rede steht, keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Dem entspricht die Verpflichtung staatlicher Stellen (der Polizei, aber zum Beispiel auch der Jugendämter) zum wirksamen Einschreiten. Danach gilt: Die von einem “Familientyrannen” aufgrund seiner immer wiederkehrenden erheblichen Gewalttätigkeiten ausgehende Dauergefahr für die übrigen Familienmitglieder ist regelmäßig im Sinne des § 35 Abs. 1 StGB anders abwendbar als durch die Tötung des “Tyrannen”, indem Hilfe Dritter, namentlich staatlicher Stellen in Anspruch genommen wird.“

 
Selbst wenn danach die Gefahr anders abwendbar gewesen wäre, könnte sich die Angeklagte in einem unvermeidbaren Irrtum (§ 35 II StGB) befunden haben:

„Die Angeklagte könnte indessen selbst dann für ihre Tat nicht bestraft werden, wenn die Gefahr zwar objektiv anders abwendbar gewesen wäre, sie aber bei Begehung der Tat irrig Umstände angenommen hätte, die sie entschuldigen würden und wenn sie diesen Irrtum nicht hätte vermeiden können (§ 35 Abs. 2 StGB). Nach den bisherigen Feststellungen der Kammer - die diese allerdings nicht im Blick auf § 35 StGB getroffen hat - war die Angeklagte von der Vorstellung beseelt, ihre Situation sei ausweglos; sie könne sich und ihre Kinder vor weiteren Übergriffen nur durch die Tötung M. F. s schützen; sie sah darin die “einzige Lösungsmöglichkeit”. Folgerichtig hätte die Kammer bei solcher Sicht der Dinge durch die Angeklagte bewerten müssen, ob diese Vorstellung für sie vermeidbar war (vgl. BGH GA 1967, 113, 114).“

 
Zur Vermeidbarkeit eines solchen Irrtums führt der BGH aus, dass es darauf ankomme, ob die Angeklagte mögliche Auswege gewissenhaft geprüft hat. Dabei seien die Anforderungen an diese Prüfungspflicht nach den konkreten Tatumständen zu bestimmen:

„Von Bedeutung sind dafür insbesondere die Schwere der Tat und die Umstände, unter denen die Prüfung stattgefunden hat, insbesondere die Zeitspanne, die für sie zur Verfügung stand und ob dem Täter eine ruhige Überlegung möglich war; gegebenenfalls kommt es auch darauf an, wodurch ihm die Einsicht in die tatsächliche Sachlage verschlossen war.
 
Hier stand mit der Tötung eines Menschen eine der am schwersten wiegenden Straftaten und der Angriff auf das höchste Individualrechtsgut in Frage. Daher werden an die Prüfungspflicht der Angeklagten strenge Anforderungen zu stellen sein. Für die Vermeidbarkeit eines entsprechenden Irrtums würde es sprechen, wenn sich auch in der neuen Hauptverhandlung ergäbe, daß der Angeklagten vor der Tat eine lange Überlegungsfrist zur Verfügung stand, in der sie Erkundigungen über Möglichkeiten zur anderweitigen Abwendbarkeit der Gefahr und Rat hätte einholen können. Daß ihre körperliche und seelische Verfassung nach den langdauernden Mißhandlungen und Demütigungen durch M. F. sie gehindert hätten, ihre Möglichkeiten realistisch einzuschätzen, wird eher fern liegen; das wird jedenfalls dann gelten, wenn sich erneut erweisen sollte, daß weder ihre Steuerungs- noch ihre Einsichtsfähigkeit nicht erheblich vermindert war.“

 
Sollte sich ergeben, dass die Angeklagte sich in einem vermeidbaren Irrtum befunden hat, sie die Strafe nach §§ 35 II 2, 49 I Nr. 1 StGB zu mildern. Die vom Großen Senat für Strafsachen im Wege verfassungskonformer Rechtsanwendung eröffnete Möglichkeit, anstatt der an sich verwirkten lebenslangen Freiheitsstrafe eine Strafe aus dem in analoger Anwendung des § 49 I Nr. 1 StGB bestimmten Strafrahmen zuzumessen, sei konkret nur dann gegeben, wenn andere gesetzliche Milderungsgründe nicht eingreifen; auf jene “außerordentliche” Strafmilderung dürfe nicht voreilig ausgewichen werden:

„Die Bestimmung einer Strafe aus dem Strafrahmen, der über den obligatorischen Strafmilderungsgrund nach § 35 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB zugrunde zu legen ist, wird naheliegenderweise zu einem der Angeklagten günstigeren Ergebnis führen. Zwar ergibt sich auf beiden Wegen derselbe Strafrahmen. Innerhalb dieses Strafrahmens kommt den Straffindungsgesichtspunkten jedoch unterschiedliches Gewicht zu. Nach den Grundsätzen des Großen Senats für Strafsachen (BGHSt 30, 105, 121) müssen die außergewöhnlichen Umstände eine Strafmilderung gebieten. Dazu muß hier die gesamte Situation - die vorangegangenen langjährigen Mißhandlungen und Demütigungen und das Bestreben der Angeklagten, sich vor künftigen Gefahren zu schützen - herangezogen werden, um die Anwendung des günstigeren Strafrahmens zu ermöglichen. Die zu Buche schlagenden Milderungsgründe können dann aber bei der konkreten Strafzumessung nicht mehr allzu gewichtig berücksichtigt werden (vgl. BGH, Urteil vom 21. August 1987 - 1 StR 77/87). Das hat die Strafkammer bei ihrer Strafbemessung auch so gesehen. Liegt der Anwendung des günstigeren Strafrahmens jedoch die gesetzliche Milderungsverpflichtung aus § 35 Abs. 2 StGB zugrunde, so ist für das Eingreifen dieses obligatorischen Milderungsgrundes der Irrtum der Angeklagten über die anderweitige Abwendbarkeit der Gefahr in einer Notstandslage ausschlaggebend. Die anderen Umstände, namentlich die vorausgegangenen langjährigen zermürbenden Demütigungen und die Verletzungen, die der Getötete der Angeklagten zufügte, sowie der auch darauf zurückgehende schlechte Zustand der Angeklagten können daher bei der konkreten Bemessung der Strafe naheliegenderweise mit größerem Gewicht mildernd in Rechnung gestellt werden.“

 

D. Fazit

Der Haustyrannen-Fall und seine unrechts- und schuldangemessene Lösung bringen das Strafrecht an seine Grenzen. Das liegt auch an der absoluten Strafandrohung des § 211 StGB. Daher verwundert es nicht, dass die vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eingesetzte Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte dieser Fallgruppe in ihrem Abschlussbericht aus dem Juni 2015 breiten Raum gewidmet hat.