Balkonsturz-Fall

A. Sachverhalt

Aus Verärgerung, dass seine Ehefrau gegen ihn wegen vorausgegangener Tätlichkeiten eine einstweilige Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz beim Amtsgericht erwirkt und ihm trotz seines lautstarken Verlangens keinen Zutritt zur ehelichen Wohnung gewährt hatte, drang der Angeklagte gewaltsam in die Wohnung ein, indem er die Eingangstür eintrat. Er wollte seine Machtposition wieder herstellen, seine Ehefrau bestrafen, weil sie ihm nicht geöffnet hatte, und ihr - in diesem Moment noch ohne eine konkrete Vorstellung - “das Schlimmste” antun. Als er bemerkte, dass sich seine Ehefrau zusammen mit der Tochter auf den Balkon der im ersten Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses gelegenen Wohnung geflüchtet hatte, durchquerte er zügig das Wohnzimmer, stieß seine Tochter zur Seite, griff seiner Frau mit der linken Hand in die Haare und packte sie mit seiner rechten Hand am Bein, um sie aus einem spontan gefassten Entschluss heraus vom Balkon zu stürzen. Zunächst gelang es ihm nur, seine Ehefrau über das Balkongeländer zu schleudern. Diese konnte sich an der äußeren Balkonseite hängend an dem Geländer festklammern. Daraufhin schlug der Angeklagte mit voller Kraft auf die Hände seiner Frau, bis diese sich nicht mehr festzuhalten vermochte und auf die ca. 4,70 Meter unter der Oberkante des Balkongeländers liegende Rasenfläche stürzte. Bei seinem Vorgehen nahm der Angeklagte billigend in Kauf, dass seine Frau durch den Sturz zu Tode kommen könnte.
 
Diese überlebte den Sturz indessen ohne größere Verletzungen, insbesondere auch deshalb, weil der Boden durch vorangegangenen Regen stark durchweicht war. Der Angeklagte bemerkte sofort, dass seine Frau entgegen seiner Vorstellung, sie könne sich bei dem Sturz das Genick brechen, kaum verletzt war und sich aufzurichten versuchte. Immer noch in Wut hangelte er sich selbst von dem Balkon herunter, um seine Frau jetzt auf andere Weise zu töten. Er packte sie an den Haaren und zerrte sie zu einem an der Rasenfläche entlang führenden gepflasterten Gehweg. Dort versuchte er, ihren Kopf auf die Platten des Gehwegs zu schlagen. Dies gelang ihm jedoch aufgrund der heftigen Gegenwehr seiner Frau nicht. Während er weiter auf sie eintrat und einschlug, riefen zwei Nachbarn, die das Geschehen von ihren Balkonen aus beobachteten, dem Angeklagten zu, dass er aufhören solle. Auch seine Tochter versuchte, ihn von weiteren Tätlichkeiten abzuhalten, indem sie vom Balkon aus ihre “Rollerblades” und andere Schuhe nach ihm warf. In dieser Situation ärgerte sich der Angeklagte darüber, dass er kein Messer mitgenommen hatte. Er spielte noch mit dem Gedanken, seine Frau mit seinem Gürtel zu würgen, weil seine Kräfte nachließen und es ihm wegen deren Gegenwehr nicht gelang, ihren Kopf auf die Gehwegplatten zu schlagen. Letztlich entschloss er sich, von seinem Opfer abzulassen, weil sich seine Wut durch deren Stoß vom Balkon und die anschließenden Gewalttätigkeiten entladen hatte. Er zerrte seine Frau an den Haaren zu einer an den Gehweg anschließenden Böschung, ging danach noch einmal ins Haus, wo er eine von der Ehefrau vor der Wohnungstür abgestellte Tüte mit ihm gehörenden Kleidungsstücken holte, und begab sich sodann zu Fuß zur nächsten S-Bahn-Haltestelle. Am nächsten Tag stellte er sich der Polizei.  

Schwerpunkte des Falls:

 - [Rücktritt vom Versuch gemäß § 24 I 1 StGB](https://jura-online.de/lernen/ruecktritt-vom-versuch-versuch-aus-grobem-unverstand/734/excursus?unauth=true&utm_campaign=Klassiker_Balkonsturz_Fall)

 - [Problem - Mehraktiger Versuch - Gesamtbetrachtungslehre](https://jura-online.de/lernen/problem-mehraktiger-versuch/383/excursus?unauth=true&utm_campaign=Klassiker_Balkonsturz_Fall)

 

B. Worum geht es?

Indem der Angeklagte auf die Hände seiner Ehefrau schlug und dabei billigend in Kauf nahm, dass diese durch den Sturz zu Tode kommen könne, hat er jedenfalls zu einem versuchten Totschlag unmittelbar angesetzt (§§ 212, 22, 23 StGB). Wollte man ein Handeln aus niedrigen Beweggründen bejahen, läge gar ein versuchter Mord vor (§§ 211, 22, 23 StGB). Im Mittelpunkt des Falles steht indes die Frage, ob der Angeklagte strafbefreiend zurückgetreten ist. Nach § 24 I 1 StGB wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Bekanntlich differenziert § 24 I 1 StGB damit zwischen dem unbeendeten Versuch (1. Alt.: Aufgabe der weiteren Ausführung der Tat) und dem beendeten Versuch (2. Alt.: Verhinderung der Vollendung).
 
Ein Rücktritt kommt aber nur dann in Betracht, wenn der Versuch nicht fehlgeschlagen ist. Das kann man im Merkmal der „Freiwilligkeit“ verorten oder aber – wie die wohl h.M. – den Anwendungsbereich des § 24 StGB von vornherein ausschließen (also letztlich § 24 StGB teleologisch reduzieren). Ein Fehlschlag in diesem Sinne bestimmt sich nach der Sicht des Täters und liegt nach der Rechtsprechung vor, „wenn der Täter nach seiner letzten auf den Taterfolg gerichteten Ausführungshandlung erkennt, dass der Erfolg nicht eingetreten ist und mit nahe liegenden Mitteln ohne wesentliche Änderung des Tatplans und Begründung einer neuen Kausalkette auch nicht mehr verwirklicht werden kann.“
 
Die Frage, ob ein fehlgeschlagener Versuch vorliegt, ist hier problematisch, weil der Angeklagte zwar erkannt hat, dass der Balkonsturz nicht zum Tode führte, er aber zugleich meinte, die Tatvollendung durch eine Änderung seiner Handlungsweise herbeiführen zu können (durch körperliche Gewalt). Bei einem solchen mehraktigen Geschehen könnte man auf die jeweiligen einzelnen Handlungen abstellen und jeweils einen Fehlschlag prüfen (so die Einzelaktstheorie) oder die Tathandlungen als einheitliches Geschehenen begreifen (so die Gesamtbetrachtungslehre). Im ersteren Fall ist der Versuch (bereits dann) fehlgeschlagen, wenn eine in sich abgeschlossene Tathandlung (hier: der Sturz vom Balkon) nicht zum Erfolg führt. Auf der Grundlage der Gesamtbetrachtungslehre hingegen ist ein Versuch nicht fehlgeschlagen, wenn der Täter erkannt hat, dass ihm im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang weitere Mittel zur Vollendung der Tat zur Verfügung stehen (hier: die Anwendung von körperlicher Gewalt).
 
Der BGH hatte damit folgende Frage zu beantworten:

Liegt im Falle eines mehraktigen Geschehens ein fehlgeschlagener Versuch nur dann vor, wenn der Täter nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung erkannt hat, dass er den Taterfolg mit den bereits eingesetzten oder anderen zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr ohne zeitliche Zäsur herbeiführen kann?

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH schließt sich im Balkonsturz-Fall (Urt. v. 8.2.2007 – 3 StR 470/06 (NStZ 2007, 399 ff.) der Gesamtbetrachtungslehre an.
 
Der BGH führt aus, dass die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung maßgeblich sei, wenn die Einzelakte Teile eines durch die subjektive Zielrichtung des Täters verbundenen, örtlich und zeitlich einheitlichen Geschehens bilden:

„Nimmt der Täter im Rahmen eines mehraktigen Geschehens verschiedene Handlungen vor, die auf die Herbeiführung eines strafrechtlich relevanten Erfolges gerichtet sind, so steht der Fehlschlag eines oder mehrerer der anfänglichen Einzelakte nicht notwendig und von vornherein einem Rücktritt vom Versuch entgegen. Bilden diese Einzelakte untereinander sowie mit der letzten Tathandlung Teile eines durch die subjektive Zielrichtung des Täters verbundenen, örtlich und zeitlich einheitlichen Geschehens, so beurteilen sich die Fragen, ob der Versuch fehlgeschlagen ist oder ob der strafbefreiende Rücktritt andernfalls allein schon durch das Unterlassen weiterer Tathandlungen (unbeendeter Versuch) oder nur durch Verhinderung der Tatvollendung (beendeter Versuch) erreicht werden kann, allein nach der subjektiven Sicht des Täters nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung. Ein fehlgeschlagener Versuch liegt in einem derartigen Fall nur dann vor, wenn der Täter in diesem Moment weiß oder zumindest annimmt, dass er den Taterfolg mit den bereits eingesetzten oder anderen zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr ohne zeitliche Zäsur herbeiführen kann (st. Rspr.; s. nur BGH NStZ 2005, 263, 264 m. w. N.). Ebenso ist der in diesem Sinne nicht fehlgeschlagene Versuch nur dann beendet, wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt den Eintritt des Taterfolgs als Folge seines Tuns für möglich hält; dass er bereits zuvor im Rahmen des einheitlichen Geschehens nach einem der ersten Teilakte irrig diese Vorstellung gewonnen hatte, ist dagegen ohne Belang, wenn er aufgrund des Fortgangs des Geschehens seinen Irrtum unmittelbar erkannte (vgl. BGHSt 39, 221, 227 f. sowie die weiteren Nachw. bei Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl. § 24 Rdn. 15 a). Daraus folgt, dass diese Grundsätze auch dann Anwendung finden, wenn der Täter zwischen den einzelnen Teilakten das Tatmittel wechselt, solange hierdurch die Einheitlichkeit des Gesamtgeschehens weder in zeitlicher noch örtlicher Hinsicht beseitigt wird. Ebenso wenig wird die Verbindung der Einzelhandlungen, die diese durch die subjektive Zielrichtung des Täters erfahren, dadurch unterbrochen, dass dieser hinsichtlich des Taterfolgs zunächst nur mit bedingtem Vorsatz handelte und erst den oder die späteren Teilakte mit direktem Vorsatz ausführte; denn selbst wenn er mit der ersten Ausführungshandlung vorrangig ein außertatbestandsmäßiges Ziel erreichen wollte und hierzu den tatbestandsmäßigen Erfolg lediglich billigend in Kauf nahm, führt allein das Erreichen des außertatbestandsmäßigen Ziels nicht dazu, dass ab diesem Zeitpunkt ein Rücktritt vom unbeendeten Versuch durch Aufgabe weiterer Tatausführung nicht mehr möglich wäre (BGHSt 39, 221). Daher kann auch ein “Heraufstufen” des tatbestandlichen Erfolgs zum primären Handlungsziel für sich einen späteren Rücktritt nicht ausschließen. Ob ein solcher vorliegt, beurteilt sich daher auch hier auf der Grundlage des weiteren Fortgangs des Geschehens nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl. auch Eser in Schönke/ Schröder, StGB 27. Aufl. § 24 Rdn. 17 b).“

Nach diesen Grundsätzen liege hier ein mehraktiges einheitliches Geschehen vor, sodass es auf den Zeitpunkt ankomme, in dem der Angeklagte von der Anwendung weiterer körperlicher Gewalt gegen seine Ehefrau absah. Nicht maßgeblich sei hingegen der Zeitpunkt, in dem er erkannte, dass der Balkonsturz nicht zum Tode führen würde:

„Ob der Versuch des Angeklagten, seine Frau zu töten, fehlgeschlagen war oder ob es sich, so ein Fehlschlag zu verneinen ist, um einen unbeendeten oder beendeten Versuch handelte, hat das Landgericht zutreffend nach den Vorstellungen beurteilt, die der Angeklagte in dem Zeitpunkt hatte, als er seine erfolglosen Bemühungen aufgab, seine Ehefrau durch Schlagen ihres Kopfes gegen die Platten des Gehwegs ums Leben zu bringen. Denn der Sturz des Opfers vom Balkon hatte zwar nicht zu dessen vom Angeklagten für möglich gehaltenen und billigend in Kauf genommenen Tod geführt, so dass die den Sturz auslösende Tathandlung misslungen war; der Angeklagte hatte jedoch zum einen sofort erkannt, dass seine Annahme irrig war, durch das Hinabstürzen seiner Frau vom Balkon alles Erforderliche zu deren möglicher Tötung getan zu haben, und zum anderen augenblicklich eine andere Möglichkeit gesehen sowie diese in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang ergriffen, seine Ehefrau auf andere Weise - durch Schlagen ihres Kopfes auf die Gehwegplatten - zu töten. Die Einheitlichkeit des Gesamtgeschehens war weder durch den Wechsel des “Tatmittels” noch durch den Übergang von bedingtem zu direktem Tötungsvorsatz aufgehoben worden.“

Weil die Feststellungen des Landgerichts in einem entscheidenden Punkt indes lückenhaft waren (Hielt der Angeklagte ein Erdrosseln seiner Ehefrau mit seinem Gürtel noch für möglich, als er schließlich von ihr abließ?), hob der BGH das Urteil auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Landgericht zurück (§ 354 II 1 StPO).

D. Fazit

Zwar berücksichtigt die Einzelaktstheorie, dass der Täter einen einmal aus der Hand gegebenen Verlauf des Geschehens nicht rückgängig machen kann. Gegen sie spricht aber, dass sie ein einheitliches Geschehen künstlich und formalistisch auseinanderreißt und im Sinne eines „Zeitlupenstrafrechts“ agiert. Für die Gesamtbetrachtungslehre spricht, dass sie dem Täter länger eine „goldene Brücke“ in die Rückkehr der Legalität bietet und – ganz im Sinne des Rechtsgüterschutzes – ihn motiviert, von der weiteren Ausführung der Tat abzusehen bzw. deren Vollendung zu verhindern.
 
In der Klausur sollte man sich daher der Gesamtbetrachtungslehre anschließen, dabei aber immer sauber prüfen, ob (und ggf. wann) eine zeitlich-örtliche Zäsur vorliegt.