Sonderfälle des Versuchs
Sonderfälle des Versuchs
Es gibt einige Sonderfälle des § 22 StGB, bei denen Besonderheiten zu beachten sind.
Versuch bei mittelbarer Täterschaft
Wann der Versuch bei der mittelbaren Täterschaft (§ 25 I Alt. 2 StGB) beginnt, ist umstritten.1
Nach der Gesamtlösung werden Täter und Werkzeug zu einer Einheit verbunden; der Versuch beginnt nach dieser Auffassung erst, wenn das Werkzeug die Schwelle des § 22 StGB überschreitet.2 Das diametrale Gegenstück bildet die Einzellösung, nach der der Versuch schon mit der Einwirkung auf den Tatmittler beginnen soll.3
Die h. M. liegt zwischen diesen Extremen und vertritt eine „modifizierte“ Einzellösung. Teilweise wird dabei ein Beginn des Versuchs des mittelbaren Täters angenommen, wenn dieser den Geschehensverlauf aus der Hand gibt, also i.d.R. im Zeitpunkt des Losschickens des Werkzeugs (sog. weite modifizierte Einzellösung).4 Die Rechtsprechung und ein weiterer Teil der Literatur sehen in dem Abschluss der Einwirkungen auf den Tatmittler zwar auch regelmäßig den Beginn des Versuchs,5 schränken dies aber dahingehend ein, dass der entlassene Tatmittler die tatbestandsmäßige Handlung im unmittelbaren Anschluss, d. h. in einem engen zeitlichen Zusammenhang ausführen soll und das geschützte Rechtsgut deshalb schon gefährdet ist.6 Die Gefährdung liege vor, sofern der Tatmittler losgeschickt wird und die Tat „alsbald“ begehen soll.7 Dagegen liege noch kein Versuch vor, sofern der Tatmittler erst nach einer gewissen Zeitspanne oder zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt tätig werden soll;8 dann beginne auch für den Hintermann der Versuch erst mit dem unmittelbaren Ansetzen des Tatmittlers (sog. enge modifizierte Einzellösung).
Versuch bei Mittäterschaft
Auch bei der Mittäterschaft (§ 25 II StGB;) ist umstritten, wann der Versuch beginnt.9
Nach der Einzellösung sind die einzelnen Mittäter getrennt zu betrachten; jeder Mittäter kann nur dann wegen einer versuchten mittäterschaftlichen Tat bestraft werden, wenn er selbst die Schwelle des § 22 StGB überschritten oder im Versuchsstadium zumindest seinen Tatbeitrag erbracht hat.10
Hält man jedoch eine Mittäterschaft auch bei Tatbeiträgen im Vorbereitungsstadium für möglich, wäre es widersprüchlich, einem nur im Vorbereitungsstadium agierenden Mittäter den Eintritt eines Tatgenossen in die Versuchsphase nicht zuzurechnen; deshalb verdient die sog. Gesamtlösung Zustimmung, nach der der Versuch für jeden Mittäter beginnt, sobald nur einer von ihnen gemäß § 22 StGB zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt.11
Die versuchte Anstiftung ist in § 30 I StGB geregelt und wird gesondert dargestellt. Die versuchte Beihilfe ist straflos.12
Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt
Auch ein unechtes Unterlassungsdelikt kann in Versuchsform begangen werden. Problematisch ist, wann der Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt beginnt.13 Nach h. M. kommt es weder auf den Zeitpunkt an, in dem der Garant die erste Rettungshandlung verstreichen lässt, noch auf denjenigen, in dem der handlungspflichtige Täter die nach seiner Vorstellung letzte Handlungsmöglichkeit verstreichen lässt. Es bedarf vielmehr einer sinngemäßen Anwendung des § 22 StGB auf die Unterlassungskonstellation: Der Garant muss dann eingreifen, wenn sich das Opfer in einer Lage befindet, in der für das tatbestandlich geschützte Rechtsgut eine unmittelbare Gefahr entsteht oder eine bestehende Gefahr erhöht wird; dies ist auch dann zu bejahen, wenn der Garant die Obhut über das Opfer aufgibt und es seinem Schicksal überlässt.14
Beispiele: Entdeckt der garantenpflichtige T um 11:00 Uhr den von ihm zu schützenden, ohnmächtigen O auf einem Bahngleis und lässt er O dort liegen, um ihn durch den fahrplanmäßig um 12:00 Uhr vorbeifahrenden Zug zu töten, beginnt der Versuch des § 212 StGB weder um 11:00 Uhr (erste Rettungsmöglichkeit) noch um 11:59 Uhr (letzte Rettungsmöglichkeit), sondern nach den vorstehenden Grundsätzen etwa um 11:55 Uhr, weil dann die Gefahr steigt, dass der Zug „demnächst“ die Stelle, an der O liegt, erreicht. Entfernt sich der T, kommt es auf diesen Zeitpunkt an, weil er den O dann sich selbst überlässt.
Besonderheiten ergeben sich für den Rücktritt vom unechten Unterlassungsdelikt.15 Ein fehlgeschlagener Versuch liegt vor, wenn der Unterlassungstäter zum Zeitpunkt des Rücktritts nach seiner Vorstellung durch die Nachholung der ursprünglich gebotenen Handlung den Eintritt des Erfolges mit den ihm zur Verfügung stehenden Rettungsmitteln nicht mehr abwenden kann, weil schon andere Rettungsmaßnahmen ergriffen haben oder die eigenen Rettungsbemühungen zu spät kämen. Liegt kein fehlgeschlagener Versuch vor, kommt eine Strafbefreiung nach Überschreitung der Grenze des § 22 StGB in der Regel nur nach den Regeln des beendeten Versuchs in Betracht.16 Der Unterlassungstäter darf also im Normalfall nicht untätig bleiben, sondern muss aktiv eingreifen und die bisher unterlassene Rettungshandlung vornehmen.
Versuchte Erfolgsqualifizierung und erfolgsqualifizierter Versuch
Beim erfolgsqualifizierten Versuch unterscheidet man zwischen der versuchten Erfolgsqualifizierung und dem erfolgsqualifizierten Versuch. Beides ist bei den Delikten mit einer Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen im Sachzusammenhang dargestellt.
Versuch des Regelbeispiels
Regelbeispiele sind weder Tatbestands- noch Qualifikationsmerkmale, sondern Strafzumessungsregeln.17 Den Versuch eines besonders schweren Falls (z. B. eines Diebstahls, § 243 StGB) kann es deshalb nicht geben, weil der Täter gemäß § 22 StGB zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzen muss. Dennoch bringt der Täter durch sein Verhalten einen gesteigerten Unwert zum Ausdruck, der strafrechtlich gewürdigt werden muss. Dabei ist wie folgt zu differenzieren:
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 36 Rn. 2 – 13.
- Kühl, JuS 1983, 180 ff.
- Puppe, FS Dahs, 2005, 173 ff.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 36 Rn. 14; Roxin, Strafrecht AT II, 1. Aufl. 2003, § 29 Rn. 244 f.
- BGH, Urt. v. 13.09.1994 – 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 269.
- Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 22 Rn. 54a; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 25 Rn. 70; Kraatz, Jura 2007, 531, 535.
- BGH, Urt. v. 26.01.1982 – 4 StR 631/81, BGHSt 30, 363, 365.
- BGH, Urt. v. 13.09.1994 – 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 269.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 36 Rn. 2 – 13.
- Roxin, Strafrecht AT II, 1. Aufl. 2003, § 29 Rn. 297 ff.
- BGH, Urt. v. 02.06.1993 – 2 StR 158/93, BGHSt 39, 236, 237 f.; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 36 Rn. 22; Rönnau, JuS 2014, 109, 109 f.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 30 Rn. 2; Kühl, JA 2014, 668, 674.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 36 Rn. 33 – 39.
- BGH, Urt. v. 13.09.1994 – 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 270 f.
- Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 49 Rn. 59 – 65.
- Beim Einzeltäter kommen also § 24 I 1 Alt. 2 StGB und § 24 I 2 StGB in Betracht.
- Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 691 – 695.
- BGH, Beschl. v. 18.11.1985 – 3 StR 291/85, BGHSt 33, 370, 375 f.; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 243 Rn. 52.
- BGH, Beschl. v 17.06.1997 – 5 StR 232/97, NStZ-RR 1997, 293; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 243 Rn. 42; a. A. BGH, Beschl. v. 18.11.1985 – 3 StR 291/85, BGHSt 33, 370 ff.