A. Sachverhalt
A ist ein Politaktivist, der sich gegen die Strafbarkeit der Hinterziehung des Entgeltes für die Beförderung durch die öffentlichen Verkehrsmittel von Bussen und Bahnen wendet und die Kostenfreiheit im öffentlichen Personennahverkehr fordert. Er benutzt in bewusster Provokation Verkehrsmittel in Kenntnis der vertraglichen Mindestbedingung, dass vor Fahrantritt ein für die konkrete Strecke gültiger Fahrausweis erworben werden muss, worauf durch plakative Hinweise an den Einstiegen zu Bussen und Bahnen gesondert und sichtbar hingewiesen wird, während das Kleingedruckte der allgemeinen Geschäftsbedingungen der Bahn in der Informationsflut untergeht. Im Entdeckungsfall verweigert A je nach Situation die Nachlösung eines normalen Fahrscheins oder eines Fahrscheins mit einem Kostenaufschlag zu erhöhtem Beförderungsentgelt, sofern dies überhaupt möglich ist. Zivilrechtliche Ansprüche der Bahn- oder Busbetreiber gehen bei dem pfändungsfreien A ins Leere.
Bei Fahrtantritt trägt er ca. 9 cm mal 10 cm große Kärtchen oder Aufnäher mit der hervorgehobenen Aufschrift an seiner Jacke: „Ich fahre umsonst“. Es folgen in kleinerem Druck nähere Erläuterungen. In vorbezeichneter Weise war A im Nahverkehr der S-Stadt auf S-Bahnstrecken unterwegs. Entgegen der Hinweise an den Zugeinstiegen hatte A bewusst keinen gültigen Fahrausweis dabei. Allgemein bekannt können sich Reisende mit Einzel- und Gruppenfahrscheinen, personengebundenen Dauerfahrscheinen oder modern auch Handytickets ausweisen. Eine Zugangskontrolle am Bahnsteig oder Einstieg findet nicht statt. Die früher insbesondere bei Bussen und Straßenbahnen übliche Pflicht, mit Dauerfahrscheinen beim Fahrer einzusteigen oder Einzelfahrscheine bei Fahrtantritt am Automaten zu entwerten, gibt es bei der Bahn nicht.
Am 7. 6. 2013 benutzte A so den Zug der A AG auf der Strecke B nach C. Der Fahrpreis hätte 6,20 € betragen.
Vor der Entdeckung durch einen Kontrolleur hätte A jeweils an mehreren Stationen, ca. 3 bis 4-mal die Gelegenheit gehabt auszusteigen, um der Kontrolle zu entgehen. A gab freiwillig seine Personalien bekannt. A wurde vorgehalten, warum er keinen Fahrschein gekauft habe. Eine Nachlöseforderung im Zug erfolgte nicht. Des Zuges verwiesen wurde A auch nicht. Die A AG hat Strafantrag gestellt.
Strafbarkeit des A gemäß § 265a StGB?
B. Die Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. (Beschl. v. 23.12.2016 – 1 Ss 253/16)
I. Objektiver Tatbestand
A hat die Beförderung durch ein Verkehrsmittel in Anspruch genommen. Diese Leistung müsste er auch „erschlichen“ haben. Was darunter zu verstehen ist, ist umstritten.
In der Literatur wird gefordert, dass der Täter sich mit einem täuschungsähnlichen oder manipulativen Verhalten in den Genuss der Leistung bringe; allein die Entgegennahme einer Beförderungsleistung ohne gültigen Fahrausweis, die nicht mit der Umgehung von Kontroll- oder Zugangssperren oder sonstigen Sicherheitsvorkehrungen verbunden sei, reiche nicht aus. Dies folge zum einen aus dem Wortsinn des Begriffs “Erschleichen”, zum anderen aus der systematischen Stellung der Vorschrift im Rahmen der §§ 263 bis 265b StGB. Da der Gesetzgeber für alle Handlungsalternativen des § 265a I StGB ein „Erschleichen“ verlange und sich nicht mit der heimlichen und unberechtigten Inanspruchnahme einer Leistung begnüge, habe der Gesetzgeber ein zusätzliches Erfordernis an den Handlungsunwert aufgestellt. Danach wäre ein Erschleichen der Leistung durch A zu verneinen und der objektive Tatbestand nicht erfüllt.
In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2009, die wir auch als Klassiker vorgestellt haben, hat der BGH demgegenüber entschieden, dass eine Beförderungsleistung bereits dann im Sinne des § 265a I StGB erschlichen werde, wenn der Täter ein Verkehrsmittel unberechtigt benutzt und sich dabei allgemein mit dem Anschein umgibt, er erfülle die nach den Geschäftsbedingungen des Betreibers erforderlichen Voraussetzungen. Fraglich ist, ob A den danach erforderlichen „Anschein der Ordnungsgemäßheit“ durch die Verwendung des Aufnähers bzw. des Kärtchens mit der Aufschrift „Ich fahre umsonst …“ selbst zerstört und damit die Leistung nicht erschlichen hat.
Nach Ansicht des OLG lässt dieses Verhalten die Strafbarkeit des A nicht entfallen. A hätte stattdessen in offener und unmissverständlicher Weise zum Ausdruck bringen müssen, dass er den Fahrpreis nicht entrichtet habe bzw. entrichten wolle. A habe sich „nicht auffällig genug“ verhalten, um den Anschein der Ordnungsgemäßheit zu zerstören:
„In Anlehnung an die Entscheidungen des OLG Köln (NStZ-RR 2016, 92), OLG Celle (02.09.2015 - 1 Ws 368/15) und des KG Berlin (NJW 2011, 2600) vermag das Kärtchen/der Aufnäher den äußeren Anschein, im Besitz eines gültigen Fahrausweises zu sein und den geltenden Beförderungsbedingungen nachzukommen, nicht zu erschüttern oder zu beseitigen.
Vielmehr hat der Angeklagte durch Betreten der Züge in schlüssiger Weise erklärt, den Beförderungsbedingungen der A AG nachzukommen. Auf den dem Angeklagten ohnehin bekannten Umstand, dass er zuvor einen Fahrausweis erwerben musste, war er ausweislich der Feststellungen durch entsprechende Hinweise aufmerksam gemacht worden.
Dass an seiner Jacke das Kärtchen/der Aufnäher angebracht war, wonach er „umsonst“ fahre, hat den allgemeinen Anschein, sich ordnungsgemäß zu verhalten, nicht beseitigt. Insoweit wäre erforderlich gewesen, dass in offener und unmissverständlicher Weise nach außen zum Ausdruck gebracht wird, die Beförderungsbedingungen nicht erfüllen und den Fahrpreis nicht entrichten zu wollen (OLG Köln, a. a. O.; KG Berlin, a. a. O.; OLG Naumburg, Beschluss vom 06.04.2009 - 2 Ss 313/07). Dies war dem gesamten Auftreten des Angeklagten allerdings nicht zu entnehmen. Ausweislich der Feststellungen war lediglich an der Jacke des Angeklagten, die auf seinen Knien lag, das Kärtchen/der Aufnäher angebracht. Seine „Botschaft“ war mithin nur zu erkennen, wenn der Blick direkt auf die Jacke fiel, was allenfalls bei einem Bruchteil der Mitreisenden überhaupt möglich gewesen sein kann. Anhaltspunkte dafür, dass er sich ansonsten auffällig verhielt, liegen nicht vor.“
Im Übrigen sei die Aufschrift nicht eindeutig genug gewesen:
„Ungeachtet dessen war auch die Aufschrift nicht eindeutig, da sie auch als bloße Provokation oder als ein Eintreten für freies Fahren in Bus und Bahn im Sinne einer politischen Stellungnahme gedeutet werden können (vgl. KG Berlin, a. a. O.). Damit trat erst durch die Kontrolle des Angeklagten dessen Weigerung, den Fahrpreis zu entrichten und die Beförderungsbedingungen einzuhalten zu Tage, weshalb er die Beförderungsleistungen erschlichen hat.“
Auf der Grundlage der Rechtsprechung des BGH bejaht das OLG Frankfurt a.M. danach ein Erschleichen der Beförderungsleistung.
II. Subjektiver Tatbestand
A handelte vorsätzlich und in der Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten.
III. Rechtswidrigkeit und Schuld
Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe liegen nicht vor.
IV. Strafantrag
Der nach §§ 265a III, 248a StGB erforderliche Strafantrag liegt vor.
V. Fazit
Die Lektüre der Entscheidung lässt einen leicht ratlos zurück:
Wie „auffällig“ muss man sich verhalten, um den Anschein der Ordnungsgemäßheit zu beseitigen? Warum ist die Aufschrift „Ich fahre umsonst“ nicht eindeutig genug? Ab wann tritt die „Schwarzfahrt“ hinreichend offen zutage? Wie verhält es sich in Fällen, in denen – wie häufig – gar kein Personal vorhanden ist (sondern bspw. nur ein Fahrer in einer abgeschlossenen Kabine sitzt), dem sich der “Schwarzfahrer” offenbaren könnte?
All das sind Folgefragen, die die o. g. Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahr 2009 ausgelöst hat. Es mehren sich Fälle wie der vorliegende, in denen „Schwarzfahrer“ die Grenzen der Strafbarkeit „austesten“. Die vorliegende Entscheidung jedenfalls dürfte dem „Katz-und-Maus-Spiel“ kein Ende gesetzt haben.
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