Examensreport: ÖR I 1. Examen aus dem September 2016 in Hessen

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

Kunstlehrer K ist 40 Jahre alt und südafrikanischer Abstammung. Er ist verheiratet mit der deutschen Staatsangehörigen R.

Im Februar 2016 möchte der K seine Frau am Bahnhof abholen. Wegen des schlechten Wetters hat er seinen Kapuzenpullover ganz hoch gezogen. Eiligen Schrittes begibt er sich zum Bahngleis und passiert dabei die beiden Bundespolizisten X und Y.

X und Y halten das Verhalten des K für verdächtig und folgen ihm daher zum Gleis. Dort angekommen, fordern sie den K auf, seinen Ausweis vorzuzeigen, um die Identität des K festzustellen. Bevor es dazu kommt, springt die Passantin F dazwischen und beschimpft
X und Y als „Rassisten“.

X fordert die F zunächst auf, sich zu entfernen. Als dies nicht fruchtet, spricht er anschließend einen Platzverweis für die Dauer der Identitätsfeststellung und für einen Umkreis von 10 m aus. Da sich die F auch hiernach nicht entfernt, entfernt er die F – nach entsprechender Androhung – mit einem Polizeigriff vom Bahnhofsgelände.

Währenddessen verlangt der K von Y in perfektem Deutsch den Dienstausweis. Da Y den Dienstausweis vergessen hat, gehen K und Y, mittlerweile in Begleitung der R, zur Bahnhofswache. Y notiert sich die Dienstnummer des Y. Y fordert den K seinerseits auf, nunmehr seinen Ausweis vorzuzeigen, was K im Ergebnis auch tut.

Am Folgetag erhebt der K Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Y. In seiner Stellungnahme rechtfertigt der Y sein Vorgehen damit, dass es in letzter Zeit vermehrt Drogen- und Gewaltdelikte auf dem Bahnhofsgelände, verübt durch Schwarzafrikaner, gegeben habe. Außerdem habe es aus auch Hinweise auf terroristische Aktivitäten gegen.

Einige Tage später erhebt der K Klage bei dem zuständigen Gericht, um feststellen zu lassen, dass die Personalfeststellung auf dem Gleis bzw. auf der Bahnhofswache nicht in Ordnung war. Es habe an einer Rechtsgrundlage gefehlt, die Maßnahmen seien
unverhältnismäßig gewesen. Außerdem seien die Maßnahmen grundrechtswidrig, insbesondere diskriminierend gewesen. Hat die Klage des K Erfolg?

Auf §§ 3, 17, 18, 23, 38 BPolG wird hingewiesen.

 

Teil 2:

F ist der Auffassung, dass der gegen sie gerichtete Platzverweis und der Abtransport rechtswidrig gewesen sind. Hat sie Recht?

 

Unverbindliche Lösungsskizze

 

  1. Teil: Klage des K

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg
Hier: BPolG

II. Statthafte Klageart
-> Fortsetzungsfeststellungsklage, § 113 I 4 VwGO analog

  1. Verwaltungsakt, § 35 S. 1 VwVG
  • Problem: Rechtsnatur der Identitätsfeststellungen („Regelung“)
    Hier: Aufforderung bzw. Duldungspflicht steht im Vordergrund -> VA (+)
  1. Erledigung
    Hier: Ausweis im Ergebnis vorgezeigt

  2. Zeitpunkt

  • Eigentlich: Erledigung nach Klageerhebung; Arg.: Systematik
  • Bei Erledigung vor Klageerhebung: § 113 I 4 VwGO analog; Arg.: Vergleichbarkeit; Feststellungsklage ermöglicht keine Feststellungen bzgl. Rechtswidrigkeit eines VA

III. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen

  1. Fortsetzungsfeststellungsinteresse, § 113 I 4 VwGO
    Hier: Wiederholungsgefahr, Rehabilitationsinteresse

  2. Klagebefugnis, § 42 II VwGO analog
    Hier: Art. 2 I, 3 III GG

  3. Erfolgloses Vorverfahren, §§ 68 ff. VwGO analog

  • Problem: Erforderlichkeit bei FFK analog
  • aA: (+); Arg.: Sinn und Zweck der Vorverfahrens (Selbstkontrolle)
  • hM: (-); Arg.: Sinn und Zweck des Vorverfahrens (Selbstkorrektur)
  1. Klagefrist, § 74 I VwGO analog
  • Problem: Erforderlichkeit bei der FFK analog
  • aA: (+), und zwar 1 Jahr; Arg.: § 58 II VwGO
  • hM: (-)
    Hier: Wenige Tage später
  1. Klagegegner, § 78 I VwGO analog (+)

IV. Allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen
-> §§ 61, 62 VwGO (+)

B. Objektive Klagehäufung, § 44 VwGO
(+); Arg.: Identitätsfeststellung am Bahngleis und in der Bahnhofswache stehen im sachlichen Zusammenhang.

C. Begründetheit

I. Rechtswidrigkeit der Identitätsfeststellungen

  1. Ermächtigungsgrundlage: § 23 I Nr. 1, III BPolG

  2. Formelle Rechtmäßigkeit (+)

  3. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage

aa) Schutzgut
-> Öffentliche Sicherheit
-> Geschriebenes Recht
Hier: BtmG; §§ 303, 223ff StGB

bb) Gefahr
Hier: Gefahrenverdacht; Arg.: Effektivität der Gefahrenabwehr; Drogen- und Gewaltdelikte am Bahnhof von Schwarzafrikanern; Hinweise auf Terrorakte.

cc) Ordnungspflichtigkeit
Hier: Verhaltensstörer, § 17 BPolG

b) Rechtsfolge: Ermessen
-> Vehältnismäßigkeit

aa) Zulässiger Zweck
Hier: Abwendung von Gefahren für Leib, Leben und Eigentum

bb) Geeignetheit (+)

cc) Erforderlichkeit (+)

dd) Verhältnismäßigkeit i.e.S.

  • Bei Gefahrenverdacht i.d.R. nur Gefahrerforschungsmaßnahmen
    Hier: Identitätsfeststellungen dienen der Erfassung der Person, um das Gefahrenpotential für Leib, Leben und Eigentum einzuschätzen
  • Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 I GG (bzw. das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) und das Diskriminierungsverbot, Art. 3 III GG sind insoweit nachrangig (a.A. vertretbar)

II. Ergebnis: (-)

D. Ergebnis: (-)

  1. Teil: Rechtmäßigkeit des Platzverweises und der Abführung der F

A. Platzverweis

I. Ermächtigungsgrundlage: § 38 BPolG

II. Formelle Rechtmäßigkeit (+)

III. Materielle Rechtmäßigkeit

  1. Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage

a) Schutzgut
Hier: (mittelbar) dieselben wie bei K, da F die Identitätsfeststellung behindert.

b) Gefahr (+)

c) Ordnungspflichtigkeit
Hier: Verhaltensstörer, § 17 BPolG

  1. Rechtsfolge: Ermessen
    -> Verhältnismäßigkeit

a) Zulässiger Zweck (+)

b) Geeignetheit (+)

c) Erforderlichkeit
(+); Arg.: F wollte sich nicht freiwillig entfernen

d) Verhältnismäßigkeit i.e.S.
(+); Arg.: nur 10 m und nur für die Dauer der Identitätsfeststellung angemessen

IV. Ergebnis (+)

B. Die Abführung

I. Ermächtigungsgrundlage

  1. Gewahrsam, § 39 I Nr. 2 BPolG
    (-); Arg.: Nur Verbringung an einen anderen Ort

  2. Mehraktiges Vollstreckungsverfahren, § 6 I VwVG Bund

II. Formelle Rechtmäßigkeit (+)

III. Materielle Rechtmäßigkeit

  1. Vorliegen der Vollstreckungsvoraussetzungen

a) GrundVA
Hier: Platzverweis

b) Wirksamkeit (+)

c) Vollstreckbarkeit
Hier: § 80 II 1 Nr. 2 VwGO

d) Rechtmäßigkeit

  • Problem: Erforderlichkeit
  • Hier: Platzverweis rechtmäßig (s.o.)
  1. Vollstreckungspflichtigkeit (+)

  2. Ordnungsgemäße Durchführung

a) Zulässiges Zwangsmittel
Hier: Unmittelbarer Zwang, §§ 9 I lit. c, 12 BPolG

b) Androhung, § 13 BPolG (+)

c) Verhältnismäßigkeit
(+); Arg.: andere Maßnahme kam nach dem Vorverhalten der F nicht mehr in Betracht

IV. Ergebnis: (+)