A. Sachverhalt
Nach den Feststellungen beschloss der aus Pakistan stammende, seit 1992 in Deutschland lebende Angeklagte, der strenggläubiger Moslem und Mitglied der A.-Gemeinde ist, am 21. März 2003, den ebenfalls aus Pakistan stammenden Zeugen R. zu töten, weil dieser im März 2003 im Besitz von sechs Fotografien gewesen war, welche Portraitaufnahmen einer Tochter des Angeklagten ohne Kopftuch oder Schleier zeigten; hierdurch fühlte der Angeklagte seine sowie die Ehre seiner Tochter verletzt und seinen guten Ruf sowie das Ansehen seiner Gemeinde beschädigt. Eine Vermittlung durch den Gemeindevorsitzenden war beabsichtigt, aber noch nicht zustande gekommen.
Am 19. März 2003 hatte der Angeklagte dem Bruder des R. mitgeteilt, letzterer müsse sich öffentlich entschuldigen, sonst werde der 21. März der letzte Tag seines Lebens sein. Am 21. März 2003 trank der Angeklagte - nach den Feststellungen möglicherweise unter Verkennung der Wirkung von Alkohol in suizidaler Absicht - etwa 0,4 l Whisky. Dann begab er sich unter Mitführen eines langen Messers und eines Handbeils zur Wohnung des R., um diesen zu töten; seine Blutalkoholkonzentration betrug maximal 2,37 Promille.
Auf dem Weg zu dem Tatort rief der Angeklagte den R. an, beschimpfte diesen und kündigte sein Eintreffen an. An dem Mietshaus angekommen, in welchem die Familie des R. wohnte, forderte der Angeklagte über die Haussprechanlage die Ehefrau des Zeugen auf, diesen nach unten zu schicken, da er ihn töten wolle. R. reagierte hierauf nicht. Der Angeklagte gelangte nun in das Treppenhaus, begab sich zur Wohnungseingangstür des R. im 3. Stock, klingelte und schlug gegen die Wohnungstür und forderte den Zeugen laut auf herauszukommen, damit er ihn umbringen könne. Der Zeuge öffnete nicht, sondern begab sich mit seiner Familie auf den Balkon der Wohnung.
Der Angeklagte verließ nun das Haus wieder und begab sich, das Beil offen tragend, zu einem Haus in der Nachbarschaft. Er wurde kurze Zeit später festgenommen, nachdem mehrere Anwohner die Polizei verständigt hatten.
Gegenüber dem Haftrichter äußerte der Angeklagte am Folgetag, “wenn die Polizei nicht eingegriffen hätte, hätte er den R. getötet. In Pakistan wäre R. schon längst wegen dieser Angelegenheit umgebracht worden“.
B. Worum geht es?
Die von dem Angeklagten ins Auge gefasste Tat, ein Tötungsdelikt (§ 212 StGB oder § 211 StGB, wenn man ein geplantes Handeln aus niedrigen Beweggründen annimmt), wurde nicht vollendet. Deswegen kommt nur eine Strafbarkeit wegen Versuchs in Betracht; bei Verbrechen (zu denen Mord und Totschlag zählen) ist der Versuch stets strafbar (§§ 23 I, 12 I StGB).
Nach § 22 StGB versucht eine Straftat, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Es geht hier um die Abgrenzung zwischen (strafloser) Vorbereitung vom (strafbaren) Versuch.
Bekanntlich nimmt der BGH ein unmittelbares Ansetzen an, wenn der Täter „subjektiv die Schwelle zum ‚Jetzt geht es los‘ überschreitet“ und “er objektiv zur tatbestandlichen Ausführungshandlung dergestalt ansetzt, dass sein Tun ohne Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestands übergeht.“ (bspw. Beschl. v. 29.1.2014 – 1 StR 654/13)
Auch dieser Fall zählt zu den „Klingel-Konstellationen“. Auf den ersten Blick ist der Fall dem Tankstellen-Fall, den wir in der letzten Woche vorgestellt haben, sehr ähnlich. Dort hatte der BGH eine Strafbarkeit wegen Versuchs (dort: eines besonders schweren Raubes) bejaht. Dort wollten die Täter die geplante Tathandlung gegen die die Tür öffnende Person ausführen. Hier allerdings befanden sich – auch nach der allein maßgeblichen Tätervorstellung – neben R (als anvisiertem Tatopfer) noch weitere Personen in der Wohnung.
Der BGH hatte hier also die folgende Frage zu entscheiden:
Setzt zum vorsätzlichen Tötungsdelikt (§ 211 StGB oder § 212 StGB) unmittelbar an, wer an einer Tür klingelt, um nach deren Öffnen eine in der Wohnung befindliche Person zu töten, die nicht notwendigerweise diejenige Person ist, die die Tür öffnet?
C. Wie hat der BGH entschieden?
Der BGH hebt im Fall „Klingeln an der Wohnungstür“ (Beschl. v. 20.8.2004 – 2 StR 281/04 (NStZ-RR 2004, 361)) die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags gemäß §§ 212, 22, 23 StGB auf.
Das Landgericht hatte ein unmittelbares Ansetzen im Sinne des § 22 StGB bejaht und hierzu ausgeführt, der Angeklagte habe durch das Klingeln das geschützte Rechtsgut in eine konkrete nahe Gefahr gebracht, weil er in der Erwartung gehandelt habe, dass die Tür geöffnet werde und der Angeklagte seine Waffen dann alsbald gegen R einsetzen könne. Der Generalbundesanwalt teilte – jedenfalls im Ergebnis – diese Einschätzung und verwies dazu auf den Tankstellen-Fall.
Dem trat der BGH jedoch entgegen. Der Senat arbeitet dazu die Unterschiede zum Tankstellen-Fall heraus. Dort waren die Täter nach den Feststellungen entschlossen, auf die die Tür öffnende Person mit Gewalt einzuwirken. In diesem Fall hingegen sei nicht anzunehmen, dass der Angeklagte davon ausgegangen sei, dass sein anvisiertes Opfer R die Tür öffnet. Vielmehr hätten auch Angehörige des R die Tür öffnen können, weshalb der Beginn der Tatausführung auf Seiten des Angeklagten noch unter einem inneren Vorbehalt gestanden habe:
„Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen bleibt schon unklar, ob nach der Vorstellung des Angeklagten, auf welche es gemäß § 22 StGB ankommt, ein unmittelbares Ansetzen zur Tat überhaupt gegeben war. Soweit der Generalbundesanwalt insoweit auf die Entscheidung BGHSt 26, 201, 203 f. [Tankstellen-Fall] verwiesen hat, in welcher das Überschreiten der Versuchsschwelle zum Raub in einem Klingeln an der Wohnungstür des beabsichtigten Opfers in der Absicht, alsbald nach Öffnen mit Gewalt auf die öffnende Person einzuwirken, gesehen wurde (vgl. auch BGHSt 39, 236, 238; BGH NStZ 1984, 506), wird dabei eine wesentliche Abweichung im Sachverhalt übersehen. In den genannten Fällen war das jeweilige Opfer nämlich nach der Vorstellung des Täters ahnungslos; eben hierauf war die geplante Tatausführung gestützt. Außerdem waren die Täter jeweils entschlossen, auf die - d. h. jede beliebige - öffnende Person mit Gewalt einzuwirken.
Hiermit kann der vorliegende Fall nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden. Der Angeklagte hatte zunächst telefonisch, sodann vom Hauseingang aus dem Zeugen R. mitgeteilt bzw. mitteilen lassen, er möge herauskommen, damit er - der Angeklagte - ihn töten könne. Er wußte außerdem, daß sich in der Wohnung nicht allein der R., sondern auch mehrere Familienangehörige aufhielten.
Der Angeklagte konnte daher bei halbwegs realistischer Betrachtung nicht annehmen, der R. werde aufforderungsgemäß die Tür öffnen, um sich töten zu lassen. Denkbar wäre auch, daß er damit rechnete, die Ehefrau des R. der eines von dessen Kindern werde die Tür öffnen. Was er für diesen Fall geplant hatte, ist nicht festgestellt.
Zumindest nicht fernliegend wäre aber vor allem die Erwartung, der R. werde heraus (oder herunter-) kommen und sich einem Kampf mit dem Angeklagten stellen. Hierfür spricht der nach der Lebenserfahrung naheliegende Sinn der Äußerungen des Angeklagten vor der Haustür und vor der Wohnungstür; ferner der Umstand, daß er sich nach dem Verlassen des Hauses zunächst weiterhin in dessen Nähe aufhielt; schließlich vor allem auch die Einlassung vor dem Haftrichter, er hätte den R. getötet, “wenn die Polizei nicht eingegriffen hätte”. Diese Einlassung ist mit den Feststellungen nicht vereinbar, wonach der Angeklagte zum Zeitpunkt seiner Festnahme den Versuch längst als fehlgeschlagen erkannt hatte. Sie könnte aber darauf hindeuten, daß der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt (immer noch) auf den R. wartete, um seinen Plan umzusetzen. Das Landgericht hat sich hiermit nicht auseinandergesetzt.
Die Feststellungen zum subjektiven Vorstellungsbild des Angeklagten lassen daher verschiedene Möglichkeiten offen, in denen das Klingeln an der Tür noch nicht als Überschreiten der Schwelle zum Versuch angesehen werden könnte, weil der Beginn der Tathandlung noch unter einem subjektiven Vorbehalt stand (vgl. hierzu den Fall BGH NStZ 1999, 395; zur Abgrenzung auch Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl., § 22 Rdn. 10 ff. m. w. N.). Der neue Tatrichter wird insoweit das Vorstellungsbild des Angeklagten genauer als bisher geschehen aufzuklären haben.“
D. Fazit
Wer den Tankstellen-Fall kennt, ist geneigt, die dortige Argumentation auf diesen Fall zu übertragen. Dieser Fall lehrt indes, dass es auf jede Nuance im Sachverhalt ankommen kann und sich eine Lösung nach „Schema F“ unter Rückgriff auf ein (vermeintlich) identisches Präjudiz verbietet. Andererseits muss man dem BGH hier auch im Ergebnis nicht folgen:
Wenn der BGH im Tankstellen-Fall die Vorstellung der Täter, das anvisierte Opfer sei zu Hause und werde die Tür öffnen, ausreichen lässt, könnte man hier argumentieren, dass der Angeklagte damit rechnete, R selbst werde die Tür öffnen. Immerhin schlug der Angeklagte gegen die Wohnungstür und forderte ausdrücklich den R auf, herauszukommen, damit er ihn umbringen könne. Geht man weiterhin davon aus, dass – entsprechend den allgemeinen Grundsätzen – dolus eventualis ausreicht, spricht Einiges dafür, dass der Angeklagte mit bedingtem Vorsatz angenommen hat, R werde die Tür öffnen. Das zeigt aber auch noch einmal ganz deutlich, dass es - wie es der Wortlaut der Norm auch nahelegt - für die Beurteilung, ob ein unmittelbares Ansetzen im Sinne von § 22 StGB vorliegt, immer auf die Vorstellung des Täters ankommt!
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