BVerfG: Ist das Verbot der Sodomie verfassungskonform?

A. Sachverhalt

Nach dem am 13. Juli 2013 in Kraft getretenen § 3 S. 1 Nr. 13 TierSchG ist es verboten, „ein Tier für eigene sexuelle Handlungen zu nutzen oder für sexuelle Handlungen Dritter abzurichten oder zur Verfügung zu stellen und dadurch zu artwidrigem Verhalten zu zwingen.“ Verstöße können nach § 18 I Nr. 1, IV TierSchG als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 25.000 Euro geahndet werden.

A fühlt sich zu Tieren sexuell hingezogen und erhebt form- und fristgemäß Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen §§ 3 S. 1 Nr. 13, 18 I Nr. 1, IV TierSchG.

Hat die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?

B. Die Entscheidung des BVerfG (Beschl. v. 08.12.2015 – 1 BvR 1864/14)

Die Verfassungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG.

A, der als natürliche Person grundrechtsfähig und damit „jedermann“ im Sinne von Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG ist, wendet sich gegen ein (formelles) Bundesgesetz. Dabei handelt es sich als Akt öffentlicher Gewalt um einen tauglichen Beschwerdegegenstand (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG). A ist selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch das Gesetz betroffen und möglicherweise in seinem Recht aus Art. 103 II GG und seinem Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I, 1 I GG betroffen. Die notwendige Beschwerdebefugnis im Sinne von § 90 I BVerfGG liegt also vor. Ein ordentlicher Rechtsweg im Sinne des § 90 II BVerfGG ist gegen ein formelles Gesetz nicht gegeben. Eine Zuwiderhandlung unter Inkaufnahme eines Bußgeldbescheides ist A nicht zumutbar, so dass auch der Grundsatz der Subsidiarität der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegensteht.

Die Verfassungsbeschwerde ist also zulässig.

II. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit das angegriffene Gesetz A in seinen Grundrechten oder in Art. 93 I Nr. 4a GG genannten (grundrechtsgleichen) Rechten verletzt.

1. Artikel 103 II GG

Möglicherweise verletzt § 3 S. 1 Nr. 13 TierSchG den A in seinem Recht aus Art. 103 II GG.

a. Schutzbereich

Nach Art. 103 II GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Zunächst stellt sich die Frage, ob es sich bei der Androhung eines Bußgeldes nach §§ 3 S. 1 Nr. 13, 18 TierSchG um eine „Strafe“ handelt. Immerhin unterscheidet das deutsche Recht zwischen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten. Allerdings wäre diese allzu formale Unterscheidung kaum von Sinn und Zweck des Art. 103 II GG gedeckt, zumal ein Bußgeld auch (deutlich) höher als eine Geldstrafe ausfallen kann.

Daher ist es nicht verwunderlich, wenn das BVerfG in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass auch Bußgeldtatbestände vom Schutzbereich des Art. 103 II GG erfasst werden. So hat es in einer Entscheidung aus dem Jahre 1976 ausgeführt:

„Das BVerfG hat bereits entschieden, daß Art. 103 II GG sich nicht nur auf Kriminalstrafen bezieht, sondern auch für staatliche Maßnahmen gilt, die eine mißbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten enthalten (vgl. BVerfGE 26, 186 [203 f.] = NJW 1969, 2192 für ehrengerichtliche und Disziplinarstrafen) und ein „Übel” wegen eines rechtswidrigen Verhaltens verhängen (BVerfGE 9, 137 [144] = NJW 1959, 931 für Kriminalstrafen und „Verwaltungsstrafen”, d.h. Geldbußen; vgl. auch BVerfGE 38, 348 [371 f.] = NJW 1975, 727).“ (NJW 1976, 1883)

b. Eingriff

Zweifel an einer hinreichenden Bestimmtheit des Bußgeldtatbestandes können sich unter mehreren Gesichtspunkten ergeben. Fraglich ist, ob die Verwendung der unbestimmten Tatbestandsmerkmale „sexuelle Handlung“, „zwingen“ und „artwidriges Verhalten“ den Anforderungen des Art. 103 II GG genügt. Diese beschreibt das BVerfG wie folgt:

„[Art. 103 II GG] soll - neben dem hier unerheblichen Rückwirkungsverbot - einerseits sicherstellen, dass der Normadressat vorhersehen kann, welches Verhalten mit Strafe oder Buße bedroht ist, und andererseits gewährleisten, dass der Gesetzgeber und nicht erst die Gerichte über die Strafbarkeit oder Bußgeldvoraussetzungen entscheiden. Insoweit enthält Art. 103 II GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung oder einer Verhängung von Geldbußen festzulegen (vgl. BVerfGE 78, 374 <382>; 126, 170 <194>; BVerfGK 11, 337 <349>; BVerfG, Beschl. d. 1. Kammer des 1. Senats v. 15.09.2011 - 1 BvR 519/10 -, NVwZ 2012, S. 504 <505>).“

Zwar werden die verwendeten Tatbestandsmerkmale weder im Gesetz selbst noch in der Gesetzesbegründung definiert. Art. 103 II GG verbiete eine Verwendung unbestimmter Tatbestandsmerkmale aber nicht. Entscheidend ist, ob sie der näheren Deutung im Wege der Auslegung zugänglich sind und sich ihre Bedeutung aus ihrem Wortsinn ergibt. Hier kommt hinzu, dass die Begriffe keine Neuschöpfungen sind, sondern auch in anderen Gesetzen und im TierSchG selbst verwendet werden.

Zum Merkmal der „sexuellen Handlung“ führt das BVerfG aus:

„Dies gilt insbesondere für den Begriff der sexuellen Handlung, der in § 184h StGB definiert wird und von der Rechtsprechung näher konkretisiert wurde (vgl. BGH, Urt. v. 22.05.1996 - 5 StR 153/96 -, StV 1997, S. 524 <524>; Urt. v. 06.02.2002 - 1 StR 506/01 -, NStZ 2002, S. 431 <432>). Dass der Gesetzgeber bei Einführung des § 3 S. 1 Nr. 13 TierSchG ein anderes Begriffsverständnis zugrunde legen wollte, ist den Gesetzgebungsmaterialien (BR-Drucks. 300/1/12, S. 48; BT-Drucks. 17/10572, S. 61) nicht zu entnehmen.“

Auch in der Verwendung der Merkmale „zwingen“ und „artwidriges Verhalten“ kann das BVerfG eine Verletzung von Art. 103 II GG nicht erblicken:

„Auch der Begriff des „Artgerechten“ beziehungsweise „Artwidrigen“ ist dem Recht nicht fremd. Es handelt sich um einen im Tierschutzrecht gebräuchlichen Begriff, der sich auf die Haltung und Unterbringung von Tieren bezieht (vgl. § 2 TierSchG, § 8 TierSchHuV).

Der Begriff des „artwidrigen“ Verhaltens steht zudem in engem Zusammenhang mit dem weiteren Tatbestandsmerkmal des „Zwingens“ zu einem solchen Verhalten, der eine tatbestandsbegrenzende Wirkung entfaltet. Nach der Gesetzesbegründung soll das „Erzwingen“ zwar sowohl durch körperliche Gewalt als auch auf andere Weise möglich sein (vgl. BT-Drucks. 17/11811, S. 28). Eine Auslegung anhand der Systematik des § 3 TierSchG und im Hinblick auf Sinn und Zweck des Verbots ergibt, dass es sich bei dieser anderen Weise des Zwangs um ein Verhalten handeln muss, welches mit der Anwendung von körperlicher Gewalt vergleichbar ist.

Zum einen wird der Begriff auch in § 3 S. 1 Nr. 11 TierSchG verwandt und bezieht sich dort auf ein Zwingen des Tieres zur Bewegung mittels direkter Stromeinwirkung, wodurch dem Tier nicht unerhebliche Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden. Zum anderen ist der vom Gesetzgeber in § 3 S. 1 Nr. 13 TierSchG benutzte Begriff des „Zwingens“ von der in § 3 S. 1 Nr. 1 und 1a TierSchG gewählten Formulierung abzugrenzen, nach der es verboten ist, einem Tier Leistungen „abzuverlangen“, denen es wegen seines körperlichen Zustandes nicht gewachsen ist. Es genügt hier jedenfalls, wenn die verwendeten Begriffe auslegungsfähig sind und durch die Rechtsanwendung konkretisiert werden können.“

c. Ergebnis

§ 3 S. 1 Nr. 13 TierSchG verletzt Art. 103 II GG nicht.

2. Artikel 2 I i.V.m. 1 I GG

Möglicherweise ist A in seinem Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt.

a.**** Schutzbereich

Art. 2 I i.V.m. 1 I GG schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wozu auch das Recht auf sexualle Selbstbestimmung zählt.

In seiner Entscheidung zu § 173 II 2 StGB (Strafbarkeit des „Geschwisterinzest“) aus dem Jahre 2008 hat das BVerfG ausgeführt:

„Das Grundgesetz hat den Intim- und Sexualbereich des Menschen als Teil seiner Privatsphäre unter den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 2 II i.V.m. Art. 1 I GG gestellt. Dazu gehört, dass der Einzelne sein Verhältnis zur Sexualität und seine geschlechtlichen Beziehungen zu einem Partner einrichten und grundsätzlich selbst darüber befinden kann, ob, in welchen Grenzen und mit welchen Zielen er Einwirkungen Dritter darauf hinnehmen will (vgl. BVerfGE 47, 46 <73 f.>; 60, 123 <134>; 88, 87 <97>; 96, 56 <61>).“ (Beschl. v. 26.02.2008 – 2 BvR 392/07)

Damit ist der Schutzbereich eröffnet.

b. Eingriff

§ 3 S. 1 Nr. 13, 18 TierSchG verbietet es A – bußgeldbewehrt – seinen Sexualtrieb nach seinen Vorstellungen auszuleben und greift damit imperativ und rechtsförmlich in den Schutzbereich ein.

c. Rechtfertigung

In der bereits genannten Entscheidung zu § 173 II 2 StGB hat das BVerfG ausgeführt:

“Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährleistet. Der Einzelne muss, soweit nicht in den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung eingegriffen wird, staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit oder im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Interessen Dritter unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots ergriffen werden (vgl. BVerfGE 27, 344 <351>; 65, 1 <44>; 96, 56 <61>; st.Rspr.). Absolut geschützt und damit der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist ein Kernbereich privater Lebensgestaltung (vgl. BVerfGE 80, 367 <373>; 90, 145 <171>; 109, 279 <313> m.w.N.). Ob ein Sachverhalt dem unantastbaren Kernbereich zuzuordnen ist, hängt davon ab, ob er nach seinem Inhalt höchstpersönlichen Charakters ist, also auch davon, in welcher Art und Intensität er aus sich heraus die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berührt; maßgeblich sind die Besonderheiten des jeweiligen Falles (vgl. BVerfGE 34, 238 <248>; 80, 367 <374>; 109, 279 <314 f.>).” (Beschl. v. 26.02.2008 – 2 BvR 392/07)

Ohne nähere Begründung geht das BVerfG in der aktuellen Entscheidung davon aus, dass die angegriffene Norm nicht in den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung eingreife. Damit kommt es nur darauf an, ob das Verbot im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit oder im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Interessen Dritter geboten sei und strikt das Verhältnismäßigkeitsgebot wahrt.

Danach bejaht das BVerfG die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Dabei stellt es einerseits auf die Staatszielbestimmung in Art. 20a GG ab und andererseits darauf, dass ein Verstoß lediglich als Bußgeldtatbestand ausgestaltet ist und im Ordnungswidrigkeitenrecht das Opportunitätsprinzip gilt:

„Der Schutz des Wohlbefindens von Tieren durch einen Schutz vor artwidrigen sexuellen Übergriffen ist ein legitimes Ziel. Diesem in § 1 S. 1 TierSchG zum Ausdruck kommenden Grundprinzip kommt nach Art. 20a GG Verfassungsrang zu. Es liegt im - grundsätzlich weiten - Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 102, 197 <218>; 104, 337 <347 f.>), zum Wohlbefinden der Tiere und ihrer artgerechten Haltung auch den Schutz vor erzwungenen sexuellen Übergriffen zu zurechnen.

Die vom Gesetzgeber getroffene Regelung ist auch im Übrigen verhältnismäßig. Insbesondere steht die Schwere des Eingriffs nicht außer Verhältnis zum erstrebten Erfolg. Zwar greift § 3 S. 1 Nr. 13 TierSchG in die sexuelle Selbstbestimmung der Beschwerdeführer ein. Jedoch greift der Tatbestand des § 3 S. 1 Nr. 13 TierSchG nur, wenn das Tier zu einem artwidrigen Verhalten gezwungen wird. Zudem bedient sich der Gesetzgeber hier nicht des Strafrechts, sondern gestaltet die Norm als bloße Ordnungswidrigkeit aus, deren Verfolgung und Ahndung dem Opportunitätsprinzip (§ 47 I S. 1 OWiG) folgt und damit im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde liegt. Dabei kann bei Vorliegen besonderer, nicht notwendig außergewöhnlicher Umstände der Unrechtsgehalt des Verstoßes und das sich daraus ergebende Gefährdungspotenzial so gering sein, dass eine Verfolgung und Ahndung nicht geboten erscheint (vgl. Seitz, in: Göhler, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 47 Rn. 2). Damit durfte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass das mit den Vorschriften angestrebte Ziel die konkreten Beeinträchtigungen für die Betroffenen überwiegt.“

III. Ergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

C. Fazit

Eine aktuelle Entscheidung, die sich mit einigen klassischen verfassungsrechtlichen Fragen befasst und daher einen näheren Blick lohnt.