BGH: Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung zur echten (ungleichartigen) Wahlfeststellung?

A. Sachverhalt

Bei den Angeklagten A und B werden im Rahmen von Durchsuchungen jeweils Gegenstände sichergestellt, die dem O gestohlen wurden. Es kann nicht festgestellt werden, ob die Angeklagten die Gegenstände selbst gestohlen haben oder ob sie sich die Gegenstände – in Kenntnis ihrer Herkunft – nach dem Diebstahl verschafft haben; ausgeschlossen ist, dass sie den Besitz an den Gegenständen gutgläubig erlangt haben.

Strafbarkeit von A und B?

B. Die Entscheidung des BGH (Beschl. v. 28.1.2014, Az. 2 StR 495/12)

A und B haben sich entweder des Diebstahls gem. § 242 StGB oder der Hehlerei gem. § 259 StGB schuldig gemacht. Es steht fest, dass sie gegen ein Strafgesetz verstoßen haben, es steht aber nicht fest, welchen Straftatbestand sie erfüllt haben.

I. Angesprochen ist damit das Problem der sog. echten (ungleichartigen) Wahlfeststellung. Nach bisheriger Rechtsprechung des BGH, die auf eine Entscheidung der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts aus dem Jahre 1934 zurückgeht (Beschluss vom 2. Mai 1934 - 1 D 1096/33, RGSt 68, 257), kommt eine alternative Verurteilung dann in Betracht, wenn die alternativ erfüllten Tatbestände rechtsethisch und psychologisch gleichwertig sind. Das ist etwa angenommen worden für das Verhältnis von Diebstahl und Hehlerei, Raub und räuberische Erpressung sowie Diebstahl und Unterschlagung. In einem Beschluss vom 24.6.2014 fasst der 1. Strafsenat des BGH die Rechtsprechung wie folgt zusammen:

„Eine Verurteilung wegen alternativ verwirklichter Straftatbestände auf wahldeutiger Tatsachengrundlage ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann vorzunehmen, wenn im Rahmen des angeklagten Geschehens nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten der Sachverhalt nicht in einer solchen Weise aufgeklärt werden kann, dass die Feststellung eines bestimmten Straftatbestandes möglich ist, aber sicher feststeht, dass der Angeklagte einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Tatbeständen verwirklicht hat, und andere Möglichkeiten sicher ausgeschlossen sind (vgl. Senat, Beschluss vom 5. März 2013 - 1 StR 613/12, NStZ 2014, 42). Weitere einschränkende Voraussetzung ist, dass die verschiedenen möglichen Straftaten rechtsethisch und psychologisch gleichwertig sind. Rechtsethisch gleichwertig sind die möglichen Taten dann, wenn ihnen im allgemeinen Rechtsempfinden eine gleiche oder doch ähnliche sittliche Bewertung zuteil wird; psychologische Gleichwertigkeit erfordert eine einigermaßen gleichgeartete seelische Beziehung des Täters zu den mehreren infrage stehenden Verhaltensweisen (vgl. grundlegend BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 15. Oktober 1956 - GSSt 2/56, BGHSt 9, 390, 394; BGH, Urteil vom 11. November 1966 - 4 StR 387/66, BGHSt 21, 152, 153). In allen anderen Fällen, in denen ein Sachverhalt nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht eindeutig festgestellt werden kann, ist der Angeklagte nach dem Grundsatz “in dubio pro reo” entweder freizusprechen oder - sofern nicht trotz Tatsachenalternativität der Schuldspruch unzweifelhaft ist - zu seinen Gunsten nach dem milderen Gesetz mit eindeutigem Schuldspruch zu verurteilen (hierzu im Einzelnen umfassend Sander, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 261 Rn. 125 ff. mwN). Hierdurch wird insgesamt ausgeschlossen, dass zum Nachteil des Angeklagten ein Schuldumfang zugrunde liegt, durch den der Angeklagte beschwert wird.“ (Beschl. v. 24.6.2014, Az. 1 Ars 14/14)

II. Der 2. Strafsenat des BGH ist nunmehr der Auffassung, dass die echte Wahlfeststellung das Analogieverbot aus Art. 103 II GG verletzt.

1. Er stellt zunächst die Anforderungen dar, die Art. 103 II GG stellt:

„Daraus folgt ein strenger Gesetzesvorbehalt für das Strafrecht, der die Strafgerichte auf bloße Rechtsanwendung beschränkt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Januar 1995 - 1 BvR 718/89 u.a., BVerfGE 92, 1, 12) und richterrechtliche Rechtsfortbildung mit strafbegründender Wirkung ausschließt (vgl. Kunig in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl., Art. 103 Rn. 26). Der Gesetzgeber hat durch Festlegung der tatbestandlichen Voraussetzungen zu entscheiden, ob und in welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut mit den Mitteln des Strafrechts verteidigt werden muss. Den Strafgerichten ist es verwehrt, die gesetzgeberischen Entscheidungen in strafausdehnender Weise zu korrigieren (BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 u.a., BVerfGE 130, 1, 43). Dies gilt auch, wenn durch die Gesetzesbindung Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen wie das vom Strafgesetz erfasste Verhalten. Aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit folgt ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Ausgeschlossen ist jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer Sanktionsnorm hinausgeht (BVerfG, Beschluss vom 23. Oktober 1991 - 1 BvR 850/88, BVerfGE 85, 69, 78). Auch dürfen einzelne Tatbestandsmerkmale nicht so ausgelegt werden, dass sie in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen; es besteht ein Verbot der “Entgrenzung” oder “Verschleifung” von Tatbestandsmerkmalen (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 - 2 BvR 2559/08 u.a., BVerfGE 127, 170, 198).“

2. Anerkannt ist, dass sich Art. 103 II GG nur auf die materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit bezieht, nicht aber auf strafprozessuale Regeln. Bislang sehen die Rechtsprechung des BGH und die h.L. in der echten (ungleichartigen) Wahlfeststellung (nur) eine prozessuale Entscheidungsregel, die eine Ausnahme zu dem Grundsatz „in dubio pro reo“ darstellt, weil ein Freispruch auf der Grundlage einer doppelten Anwendung dieses Grundsatzes dann auszuscheiden habe, wenn ein strafloses Verhalten des Angeklagten sicher ausscheidet; als solche sei sie nicht vom Anwendungsbereich des Art. 103 II GG erfasst. Dem tritt der 2. Strafsenat nun entgegen, weil die echte (ungleichartige) Wahlfeststellung auf eine Verurteilung auf der Grundlage eines ungeschriebenen Straftatbestandes hinauslaufe:

„Wenn die Voraussetzungen der alternativ infrage kommenden Strafnormen jeweils nicht sämtlich zur Überzeugung des Tatgerichts feststellbar sind, führt die gesetzesalternative Verurteilung, die keinen eindeutigen Schuldspruch anhand des mildesten Gesetzes zulässt (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 1973 - 4 StR 172/73, BGHSt 25, 182, 186), nicht zur Anwendung einer der infrage kommenden Strafnormen (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 1958 - 4 StR 411/58, BGHSt 12, 386, 389), sondern zur Aburteilung nur aufgrund eines gemeinsamen Unrechtskerns; denn aus der exklusiven Alternativität von zwei Verdachtsfällen ergibt sich eine die Aburteilung tragende Sachverhaltsgewissheit nur in Bezug auf einen solchen Unrechtskern; sie lassen sich dagegen nicht zu einer einheitlichen Schuldfeststellung verbinden (vgl. Alwart GA 1992, 545, 565). Schließen sich die in Betracht kommenden Tatbestände gegenseitig aus, fehlt in der Wahlfeststellungssituation jeweils der Nachweis eines Tatbestandsmerkmals bei beiden Strafnormen. Die wahldeutige Verurteilung erfolgt nur aufgrund eines “Rumpftatbestands” (vgl. Günther, Verurteilungen im Strafprozess trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel, 1976, S. 262 ff.). Dies läuft auf eine “Entgrenzung” von Tatbeständen oder auf “Verschleifung” zweier Straftatbestände durch alternative Vereinigung der Einzelvoraussetzungen hinaus, die über die Verschleifung von verschiedenen Tatbestandsmerkmalen einer einzigen Strafnorm (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 - 2 BvR 2559/08, 105, 491/09, BVerfGE 126, 170, 198) noch weit hinausgeht. Die Verurteilung beruht nämlich praktisch auf einer ungeschriebenen dritten Norm (vgl. Endruweit, Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, S. 270; Freund in: Festschrift für Wolter, 2013, S. 35, 49; AnwK/Gaede, StGB, § 1 Rn. 51; Köhler, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1997, S. 96; Lobe GS 104 [1934], S. 161, 166; H. Mayer, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1953, S. 417), die - angeblich - übereinstimmende Unrechtselemente der beiden gerade nicht zur Anwendung gelangenden Normen in sich vereinigen soll. Da es an einem gemeinsamen Tatbestandsmerkmal fehlt, wird dies in Gestalt einer - angeblichen - rechtsethischen “Vergleichbarkeit” fiktiv ergänzt. …“

3. Der in einer alternativen Verurteilung liegende Eingriff in das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 II GG sei auch nicht gerechtfertigt:

„Das grundrechtsgleiche Recht des Angeklagten aus Art. 103 Abs. 2 GG enthält keine Schranke, die eine richterrechtliche Ausnahme gestatten könnte. Auf Abwägungen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der nur eine “Schranken-Schranke” bilden würde, kommt es daher ebenfalls nicht an; denn der Verfassungsgeber selbst hat die Abwägung der gegenläufigen rechtsstaatlichen Gesichtspunkte mit Art. 103 Abs. 2 GG bereits zugunsten eines uneingeschränkten Gesetzesvorbehalts für das Strafrecht getroffen. Daher ist es nicht zulässig, das Gesetzlichkeitsprinzip mit Hinweis auf Gebote materieller Strafgerechtigkeit durch Richterrecht zu beschränken. Die zur Legitimation der gesetzesalternativen Wahlfeststellung angeführten Gründe, die ausschließlich auf einer Abwägung von Gerechtigkeitsüberlegungen und kriminalpolitischen Erwägungen beruhen (vgl. RG, Beschluss vom 2. Mai 1934 - 1 D 1096/33, RGSt 68, 257, 260), halten einer Überprüfung anhand der Verfassungsnorm nicht stand.

Der vom Reichsgericht angenommene Missstand im Fall der Nichtfeststellbarkeit von Diebstahl oder Hehlerei als Ursache für den festgestellten Gewahrsam eines Angeklagten an gestohlenen Gegenständen (RG aaO, RGSt 68, 257, 262) ist auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, welche die gesetzesalternative Wahlfeststellung zur “Vermeidung lebensfremder und der Gerechtigkeit widersprechender Ergebnisse” fordert (BGH, Urteil vom 4. Dezember 1958 - 4 StR 411/58, BGHSt 12, 386, 388), als tragender Grund für die Rechtsfigur angeführt worden. Soweit sie in der Literatur befürwortet wird, werden ebenfalls nur die Einzelfallgerechtigkeit und kriminalpolitische Bedürfnisse zur Begründung genannt (LK/Dannecker, 12. Aufl., Anh. § 1 Rn. 8; Maurach/Zipf, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Aufl., § 10 III Rn. 26; SSW/Satzger, StGB, 2. Aufl., § 1 Rn. 71). Das allgemeine Rechtsempfinden und die bloße Behauptung eines Strafbedürfnisses können aber keine Aufweichung des Gesetzlichkeitsprinzips rechtfertigen.“

4. Schließlich führe eine alternative Verurteilung zu Ungenauigkeiten in der Strafzumessung, die ihrerseits nicht mit Art. 103 II GG vereinbar seien:

„Bleibt für den Strafrichter unklar, welche Unrechtshandlung überhaupt begangen wurde und welche Strafnorm einschlägig ist, so kann seine Strafzumessung aufgrund einer nur per saldo festgestellten Schuld des Angeklagten nicht im Einklang mit der gesetzlichen Vorwertung erfolgen (vgl. Alwart GA 1992, 545, 562 ff.). Lässt der Strafrichter offen, welcher Straftatbestand anzuwenden ist und greift er nur auf den geringsten Strafrahmen aus den Alternativen zurück, begleiten zwangsläufig Ungenauigkeiten den Strafzumessungsvorgang; diese sind mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar (vgl. BVerfG aaO, BVerfGE 105, 135, 159 für die Vermögensstrafe). Die Umwertung der Verhaltensnormverletzung in ein Strafquantum gelingt bei der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht im Einklang mit einem bestimmten Gesetz (vgl. Jakobs GA 1971, 257, 268 f.).

Das macht der vorliegende Fall deutlich: Geht es entweder um Einbruchsdiebstähle durch Mittäter mit großem Sachschaden und mit umfangreicher Diebesbeute oder um eine später - auch als andere Tat im prozessualen Sinn - begangene Hehlerei durch Alleintäter in Bezug auf einzelne Beutestücke, so sind die Tatbilder derart verschieden, dass sie bei der Strafbemessung nicht alternativ als Grundlage einer gesetzeskonformen Strafzumessung dienen können. Weder besteht Gleichartigkeit des besonderen Unrechtscharakters der alternativ infrage kommenden Sachverhalte und Tatbestände (vgl. Zeiler ZStW 72 [1960], 4, 16), noch dieselbe seelische Beziehung des Täters zur Tat (vgl. Dreher MDR 1970, 369; Montenbruck GA 1988, 531, 537; J. Schulz in: Bemmann/Zweihoff [Hrsg.], Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft, 2007, 1, 7).“

5. Der 2. Strafsenat beabsichtigt daher, seine bisherige Rechtsprechung aufzugeben und A und B freizusprechen. Da er damit zugleich von der Rechtsprechung der anderen Strafsenate abweichen will, hat er bei diesen Senaten angefragt, ob sie an ihrer bisherigen Rechtsprechung festhalten oder sich dem 2. Strafsenat anschließen wollen (§ 132 III GVG). Sowohl der 1. Strafsenat (Beschl. v. 24.6.2014, Az. 1 Ars 14/14) als auch der 5. Strafsenat (Beschl. v. 16.7.2014, Az. 5 Ars 39/14) haben bereits mitgeteilt, an ihrer Rechtsprechung festhalten zu wollen; damit steht eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen bevor (§ 132 II GVG).

C. Fazit

Eine verfassungsrechtlich spannende und hochprüfungsrelevante Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen bahnt sich an. Jedem Studenten und Referendar wird dringend empfohlen, die weitere Entwicklung zu verfolgen – am besten auf Jura-online.de!

BlogPlus

Du möchtest weiterlesen?

Dieser Beitrag steht exklusiv Kunden von Jura Online zur Verfügung.

Paket auswählen