A. Sachverhalt
Der Angeklagte (A) lebte mit seinem 10-jährigen Bruder bei seinen Eltern. Sein späteres Tatopfer, seinen fünf Jahre jüngeren Cousin O, kannte er von klein auf; dessen Mutter ist die Patentante des Angeklagten. Nachdem es zwischen dem Angeklagten und seinem Cousin anlässlich einer gemeinsamen Fahrt nach Polen zu Konflikten gekommen war, hatten beide ca. drei Jahre keinen Kontakt mehr. Zum 20. Geburtstag des Angeklagten am 16. November 2012 besuchte ihn sein Cousin O und war anschließend fast jedes Wochenende beim Angeklagten zu Besuch. Das Verhältnis der beiden war im Wesentlichen gut, aber nicht konfliktfrei. Der Angeklagte war bei einer Körpergröße von 175 cm und einem Körpergewicht von ca. 92 kg kleiner als sein sehr sportlicher und allseits beliebter Cousin O, der bei einer Körpergröße von 189 cm etwa 90 kg wog.
O war ab dem 22. Dezember 2012 bei dem Angeklagten zu Besuch und übernachtete mit in dessen Zimmer. Als seine Eltern O am Heiligabend abholen wollten, kamen beide Familien überein, den Heiligabend gemeinsam zu feiern. Als Weihnachtsgeschenk erhielt der Angeklagte von seinem Vater ein einschneidiges, insgesamt 22 cm langes scharfes Klappmesser mit 10 cm langer spitzer schmaler Klinge; die Schärfe testete der Angeklagte noch am selben Abend, indem er sich mit dem Messer in den Unterarm ritzte. Auf Wunsch der beiden Cousins blieb O noch weiter bei der Familie des Angeklagten.
Am ersten Weihnachtsfeiertag schliefen beide auf der ausgezogenen Couch des Angeklagten bis in die Mittagsstunden. Nachdem nachmittags zwei Freunde des Angeklagten zu Besuch gewesen und wieder gegangen waren, kam gegen 18.00 Uhr ein weiterer guter Freund des Angeklagten, der spätere Tatzeuge M., der auch O kannte. Diesem zeigte der Angeklagte auch sein neues Messer. Als M. die Klinge testete, indem er das Messer in die Couch stach, nahm ihm der Angeklagte das Messer weg und legte es aufgeklappt auf das Sofa.
Schließlich lagen alle drei auf dem aufgeklappten Sofa des Angeklagten. Dieser spielte auf dem an den Fernseher angeschlossenen Computer alleine das Spiel “Warcraft”, die anderen beiden schauten zu. Die Stimmung war ruhig, man machte Späße über das Spiel. Als sich der Angeklagte und O über Arbeit unterhielten, kam es zwischen den beiden zu einer verbalen Auseinandersetzung mit gegenseitigen Beleidigungen, in deren Verlauf O den Angeklagten als “strunzdumm” bezeichnete. Nunmehr schlug der Angeklagte O mit der rechten Faust mehrmals auf die rechte Schulter. O forderte den Angeklagten auf, damit aufzuhören und bezeichnete ihn als “Opfer”. Der Angeklagte beschimpfte O daraufhin als “Krüppel” oder “Spasti”. Als der Angeklagte O erneut auf die Schulter schlagen wollte, dreht dieser sich weg, wodurch der Angeklagte ihn unabsichtlich ins Gesicht traf. O stand auf, stellte sich hinter den im Schneidersitz auf dem Sofa sitzenden Angeklagten, packte ihn mit der linken Hand an den langen Haaren und schlug ihn nun mehrfach mit der rechten Faust ins Gesicht und auf den Hinterkopf, mindestens einmal davon auch auf die rechte Schläfe. Auch als der Angeklagte zu O sagte, dass dieser aufhören solle, schlug O weiterhin zu. Dabei befand er sich direkt hinter dem Angeklagten, seine Brust direkt hinter der Schulter des Angeklagten.
Um sich O vom Leib zu halten, wofür ihm jedes Mittel recht war, nahm der Angeklagte das vor ihm liegende aufgeklappte Messer so in die Hand, dass die Klinge auf der Daumenseite aus der Hand herausschaute und stach mit den Worten “so, jetzt stirbst du!” mit einer schnellen und ausholenden Bewegung über seine rechte Schulter einmal gezielt in Richtung des Oberkörpers von O. Hierbei rechnete er mit der Möglichkeit, O im Oberkörperbereich zu treffen und erkannte, dass eine solche Verletzung tödlich sein könnte, was er billigend in Kauf nahm. Der Stich führte zu einer Verletzung von Lunge und Herz und zu massiven Blutungen. O fragte noch, ob der Angeklagte ihn jetzt abgestochen habe, brach dann bald bewusstlos zusammen und starb schließlich infolge massiven Blutverlustes.
Strafbarkeit des Angeklagten wegen Totschlags?
B. Die Entscheidung des BGH (Urt. v. 25.3.2014, Az. 1 StR 630/13)
I. Der Tatbestand des § 212 StGB ist in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt. A hat O vorsätzlich getötet.
II. Möglicherweise ist die Tat des A gerechtfertigt. Gem. § 32 I StGB handelt nicht rechtswidrig, wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist. Notwehr ist nach § 32 II StGB diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen (sog. Nothilfe) abzuwenden.
1. Als A den Stich gegen O führte, schlug O auf ihn ein, ohne sich deswegen seinerseits auf einen Rechtfertigungsgrund berufen zu können. Ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des O auf die körperliche Unversehrtheit des A und damit eine sog. Notwehrlage lag somit vor.
2. Fraglich ist aber, ob der tödliche Stich erforderlich war. Der BGH stellt insofern zunächst die Anforderungen dar:
„Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand. Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel muss der Angegriffene nur dann zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unter den gegebenen Umständen unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht.“
Bei der Bewertung des vorliegenden Falles ist zu beachten, dass O unbewaffnet war und den A mit „bloßen Händen angriff“, während A sich zur Verteidigung eines Messers bediente. In einer ebenfalls aktuellen Entscheidung aus dem Jahre 2013 hat der BGH zur Erforderlichkeit des Messereinsatzes in derartigen Fallgestaltungen Folgendes ausgeführt:
„Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz einer Waffe kann danach durch Notwehr gerechtfertigt sein. Dabei geht die Rechtsprechung jedoch davon aus, dass gegenüber einem unbewaffneten Angreifer der Gebrauch eines bis dahin noch nicht in Erscheinung getretenen Messers in der Regel anzudrohen ist (BGH, Beschluss vom 21. November 2012 - 2 StR 311/12, NStZ-RR 2013, 105, 106; Urteil vom 27. September 2012 - 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 140 mwN). Angesichts der schweren Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die regelmäßig in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine vorherige Androhung des Messereinsatzes dabei jedoch keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (vgl. BGH, Urteil vom 2. November 2011 - 2 StR 375/11, NStZ 2012, 272, 274).“ (BGH, Urt. v. 19.12.2013, Az. 4 StR 347/13)
Auf dieser Grundlage kommt der BGH in dem Ausgangsfall zu dem Ergebnis, dass der (tödliche) Messereinsatz des A nicht erforderlich war:
„Das Landgericht hat zutreffend darauf abgestellt, dass der Angeklagte den Messereinsatz zunächst hätte androhen oder zumindest mit dem Messer auf einen weniger gefährlichen Körperteil des Opfers stechen müssen wie insbesondere auf das Bein von A. Damit standen ihm Erfolg versprechende mildere Mittel zur Angriffsabwehr zur Verfügung.“
3. Zudem ist zu beachten, dass gem. § 32 I StGB nur solche Handlungen gerechtfertigt sind, die „geboten“ sind. Dieses Tatbestandsmerkmal ist nach h.M. Einfallstor für die sog. sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts. Hier kommt eine derartige Einschränkung aus zweierlei Gründen in Betracht.
a. Einerseits könnte A die Notwehrlage provoziert haben. Zwar liegt eine Absichtsprovokation, die das Notwehrrecht entfallen lässt, nicht vor, doch erfährt das Notwehrrecht nach Ansicht des BGH auch dann eine Einschränkung, wenn der Täter ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat. In einer Entscheidung aus dem Jahre 2010 hat der BGH ausgeführt:
„Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfährt das Notwehrrecht unter anderem dann eine Einschränkung, wenn der Verteidiger gegenüber dem Angreifer ein pflichtwidriges Vorverhalten an den Tag gelegt hat, das bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles den folgenden Angriff als eine adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheinen lässt. In einem solchen Fall muss der Verteidiger dem Angriff unter Umständen auszuweichen suchen und darf zur lebensgefährlichen Trutzwehr nur übergehen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten erschöpft oder mit Sicherheit aussichtslos sind (BGHSt 26, 143, 145; BGH, Urteil vom 7. Februar 1991 - 4 StR 526/90). Darüber hinaus vermag bereits ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten das Notwehrrecht nur einzuschränken, wenn zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Ursachenzusammenhang besteht und es nach Kenntnis des Täters auch geeignet ist, einen Angriff zu provozieren (vgl. BGH NStZ 2006, 332, 333; BGHSt 42, 97, 100).“ (BGH, Beschl. v. 10.11.2010, Az. 2 StR 483/10)
Nach diesen Grundsätzen ist die Tat des A (erst recht) nicht erforderlich:
„Vorliegend hat der Angeklagte als Erster die körperliche Auseinandersetzung mit seinem fünf Jahre jüngeren Cousin begonnen, nachdem sich beide zuvor lediglich gegenseitig verbal beleidigt hatten. Die Schläge gegen sich hat der Angeklagte durch seinen vorherigen körperlichen Angriff auf A. schuldhaft provoziert. Richtig ist deshalb die Erwägung der Kammer in diesem Zusammenhang, der Angeklagte habe vor Setzen des tödlichen Stichs zunächst den unmittelbar neben dem Geschehen befindlichen Zeugen M. oder die in der Wohnung anwesenden Erwachsenen um Hilfe anrufen müssen.“
b. Andererseits könnte eine Einschränkung des Notwehrrechts in Fällen in Betracht kommen, in denen ein persönliches Näheverhältnis zwischen dem Täter und seinem Opfer bestand:
„Zur gleichen Einschränkung des Notwehrrechts könnte die Erwägung führen, dass bei einem derartigen persönlichen Näheverhältnis wie dem des Angeklagten zu seinem - zumal jugendlichen - Opfer lebensgefährliche Verteidigungsmittel nicht ohne weiteres angewendet werden dürfen, wenn nur leichte Körperverletzungen drohen (vgl. BGH, Urteil vom 25. September 1974 - 3 StR 159/74, NJW 1975, 62 f.; vgl. demgegenüber auch BGH, Urteil vom 11. Januar 1984 - 2 StR 541/83, NJW 1984, 986 f.; Urteil vom 18. April 2002 - 3 StR 503/01, NStZ-RR 2002, 203, 204; hierzu umfassend auch Fasten aaO S. 199 ff.).“
Nach alledem war die Tat des A nicht erforderlich; eine Rechtfertigung scheidet aus.
III. Im Rahmen der Strafzumessung ist dann noch zu prüfen, ob ein minder schwerer Fall iSv § 213 StGB, der systematisch eine Strafzumessungsregel des § 212 StGB darstellt, vorliegt. Der BGH verneint dies:
„Nach § 213 Alt. 1 StGB liegt ein minder schwerer Fall des Totschlags nur dann vor, wenn der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und auf der Stelle zur Tat hingerissen wurde. Dem steht vorliegend - wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - ersichtlich entgegen, dass der Angeklagte die körperlichen Übergriffe auf ihn durch die vorherigen Faustschläge auf die Schulter und ins Gesicht seines 15 Jahre alten Cousins selbst schuldhaft provoziert hat, ohne dass dies nach den vorherigen gegenseitigen Beleidigungen gerechtfertigt oder entschuldigt gewesen wäre.
c) Rechtsfehlerfrei sind auch die Ausführungen des Landgerichts zur Ablehnung eines sonst minder schweren Falls des Totschlags nach § 213 Alt. 2 StGB. Das Landgericht hat im Rahmen seiner Gesamtwürdigung neben anderen Gesichtspunkten ausdrücklich berücksichtigt, dass der Angeklagte unmittelbar vor der Tat vom Tatopfer geschlagen wurde und dass er in affektiver Erregung handelte. Damit ist den Anforderungen der Rechtsprechung insoweit (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Februar 2007 - 4 StR 581/06, NStZ-RR 2007, 194, 195; Beschluss vom 4. Juli 2013 - 4 StR 213/13, NStZ 2013, 580 m. Anm. Becker) Genüge getan.“
C. Fazit
Eine Entscheidung, die Anlass bietet, sich mit den Rechtfertigungsgründen, insbesondere der Notwehr gem. § 32 StGB, der Erforderlichkeit der Notwehrhandlung und ihrer „Gebotenheit“ auseinanderzusetzen. Es handelt sich dabei um absolute „Klassiker“ des Allgemeinen Teils, deren Grundzüge von jedem Studenten und Referendar beherrscht werden sollten.
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