BVerfG zur Zulässigkeit von Sperrklausen im Europawahlrecht

A. Sachverhalt

Für die Wahl der 96 Abgeordneten zum Europäischen Parlament aus der Bundesrepublik Deutschland hat der Gesetzgeber eine Sperrklausel vorgesehen.

Zunächst galt eine „Fünf-Prozent-Sperrklausel“, die jedoch vom BVerfG im Jahre 2011 (Urt. v. 9.11.2011, Az. 2 BvC 4/10 u.a.) für verfassungswidrig erklärt wurde. Der Gesetzgeber hat darauf reagiert und die Schwelle auf 3 % herabgesetzt. § 2 VII EuWG lautet seitdem

„Bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge werden nur Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens 3 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben.“

Gegen die Neufassung wenden sich mehrere politische Parteien, die bei der Europawahl im Mai 2014 antreten wollen, sowie wahlberechtigte Individualpersonen und sehen sich durch die Sperrklausel in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt.

B. Die Entscheidung des BVerfG (Urt. v. 26.2.2014, Az. 2 BvE 2/13 u.a.)

I. Eingriff in den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 3 I GG)

Zunächst stellt das BVerfG fest, dass auch die geänderte Sperrklausel in den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (für die Wahl zum Deutschen Bundestag siehe Art. 38 I GG) eingreift, weil die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswertes ungleich behandelt werden:

„Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der sich für die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus Art. 3 I GG in seiner Ausprägung als Gebot formaler Wahlrechtsgleichheit ergibt (vgl. BVerfGE 51, 222 <234 f.>), sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger (vgl. BVerfGE 41, 399 <413>; 51, 222 <234>; 85, 148 <157 f.>; 99, 1 <13>) und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung (vgl. BVerfGE 6, 84 <91>; 11, 351 <360>). Er gebietet, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können, und ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (vgl. BVerfGE 51, 222 <234>; 78, 350 <357 f.>; 82, 322 <337>; 85, 264 <315>). Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfGE 129, 300 <317 f.>).

Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss (vgl. BVerfGE 16, 130 <139>; 95, 335 <353>). Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwertgleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu (vgl. BVerfGE 120, 82 <103>; 129, 300 <318>).“

Die Drei-Prozent-Sperrklausel in § 2 VII EuWG bewirkt nach diesen Maßstäben eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen. Während nämlich der Zählwert aller Wählerstimmen von der Sperrklausel unberührt bleibt, werden die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts ungleich behandelt, je nachdem, ob die Stimme für eine Partei abgegeben wurde, die 3 % der Stimmen oder mehr auf sich vereinigen konnte, oder für eine Partei, die an der Drei-Prozent-Sperrklausel gescheitert ist. Diejenigen Wählerstimmen, welche für Parteien abgegeben worden sind, die mindestens 3 % der Stimmen erhalten haben, haben unmittelbaren Einfluss auf die Sitzverteilung nach dem Verhältnisausgleich. Dagegen bleiben diejenigen Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der Sperrklausel gescheitert sind, ohne Erfolg.

II. Eingriff in den Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 21 I GG)

Ebenso greift die Sperrklausel in den Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien ein:

„Der aus Art. 21 I GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien und die unter dem Gesichtspunkt demokratisch gleicher Wettbewerbschancen auch für sonstige politische Vereinigungen im Sinne des § 8 I EuWG gebotene Chancengleichheit (Art. 3 I GG) verlangen, dass jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren Wahlbewerbern grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Deshalb muss in diesem Bereich - ebenso wie bei der durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verbürgten gleichen Behandlung der Wähler - Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn verstanden werden. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen (BVerfGE 120, 82 <105>; 129, 300 <319>). …

Die Drei-Prozent-Sperrklausel in § 2 VII EuWG bewirkt eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen; zugleich wird durch die Sperrklausel der Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit beeinträchtigt. Die Sperrklausel bedarf daher - im Grundsatz nicht anders als eine Fünf-Prozent-Sperrklausel (vgl. zu dieser BVerfGE 129, 300 <319 f.>) - der Rechtfertigung.“

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

1.Maßstab für die Rechtfertigung

Zunächst stellt das BVerfG dar, dass die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien denselben Maßstäben unterliegt:

„(1) Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unterliegt ebenso wie der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 120, 82 <106>; 129, 300 <320>). Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, in der Vergangenheit als „zwingend“ bezeichneten Grundes (vgl. BVerfGE 6, 84 <92>; 51, 222 <236>; 95, 408 <418>; 129, 300 <320>). Das bedeutet nicht, dass sich die Differenzierung als von Verfassungs wegen notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 1, 208 <248>; 6, 84 <92>; 95, 408 <418>; 129, 300 <320>; 130, 212 <227 f.>).

Hierzu zählen insbesondere die mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehört die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes (BVerfGE 95, 408 <418>) und, damit zusammenhängend, die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (vgl. BVerfGE 1, 208 <247 f.>; 4, 31 <40>; 6, 84 <92 ff.>; 51, 222 <236>; 82, 322 <338>; 95, 408 <418>; 120, 82 <111>; 129, 300 <320 f.>). Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen. Eine Wahl hat nicht nur das Ziel, überhaupt eine Volksvertretung zu schaffen, sondern sie soll auch ein funktionierendes Vertretungsorgan hervorbringen (vgl. BVerfGE 51, 222 <236>; 129, 300 <321>). Die Frage, was der Sicherung der Funktionsfähigkeit dient und dafür erforderlich ist, kann indes nicht für alle zu wählenden Volksvertretungen einheitlich beantwortet werden (vgl. BVerfGE 120, 82 <111 f.>; 129, 300 <321>), sondern bemisst sich nach den konkreten Funktionen des zu wählenden Organs (vgl. BVerfGE 120, 82 <112>; 129, 300 <321>). Zudem kommt es auf die konkreten Bedingungen an, unter denen die jeweilige Volksvertretung arbeitet und von denen die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Funktionsstörungen abhängt (vgl. BVerfGE 129, 300 <323, 326 ff.>).

(2) Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich daher auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugungen und Rechtspraxis Beachtung finden (BVerfGE 1, 208 <249>; 95, 408 <418>; 120, 82 <107>; 129, 300 <321>). Der Gesetzgeber hat sich bei seiner Einschätzung und Bewertung allerdings nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>). Gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien wird verstoßen, wenn der Gesetzgeber mit der Regelung ein Ziel verfolgt hat, das er bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf, oder wenn die Regelung nicht geeignet und erforderlich ist, um die mit der jeweiligen Wahl verfolgten Ziele zu erreichen (vgl. BVerfGE 120, 82 <107>; 129, 300 <321>).“

2. Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments

Sodann stellt das BVerfG dar, dass nur eine mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments die Sperrklausel rechtfertigen könne:

„Für Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum (vgl. BVerfGE 95, 408 <417 f.>; 129, 300 <322>). Zwar hat das Bundesverfassungsgericht nicht die Aufgabe des Gesetzgebers zu übernehmen und alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen (vgl. BVerfGE 120, 82 <113>) oder eigene Zweckmäßigkeitsbeurteilungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen (vgl. BVerfGE 51, 222 <238>). Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt aber die Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerfGE 120, 82 <105>; 129, 300 <322 f.>; 130, 212 <229>).

Der Einsatz einer Sperrklausel beruht auf der Einschätzung des Gesetzgebers von der Wahrscheinlichkeit des Einzugs von Splitterparteien, dadurch zu erwartender Funktionsstörungen und deren Gewichts für die Aufgabenerfüllung der Volksvertretung. Bei dieser Prognoseentscheidung darf der Gesetzgeber zur Rechtfertigung des Eingriffs nicht allein auf die Feststellung der rein theoretischen Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung abstellen (vgl. BVerfGE 120, 82 <113 ff.>; 129, 300 <323>). Dürfte der Gesetzgeber frei darüber befinden, von welchem Wahrscheinlichkeitsgrad an er Funktionsstörungen in Betracht zieht, würde eine gerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Prognoseentscheidungen, einschließlich deren tatsächlicher Grundlagen, unmöglich gemacht (vgl. BVerfGE 129, 300 <323>).

Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der Drei-Prozent-Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in die Vertretungsorgane erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit nicht rechtfertigen. Deshalb genügt die bloße „Erleichterung“ oder „Vereinfachung“ der Beschlussfassung nicht. Nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane aufgrund bestehender oder bereits gegenwärtig verlässlich zu prognostizierender künftiger Umstände kann die Drei-Prozent-Sperrklausel rechtfertigen (vgl. BVerfGE 120, 82 <114>; 129, 300 <323>).“

Das BVerfG kann aber weiterhin eine drohende Funktionsbeeinträchtigung durch Wegfall der Sperrklausel nicht erkennen:

„Die Drei-Prozent-Sperrklausel findet keine Rechtfertigung im Hinblick auf zu erwartende politische und institutionelle Entwicklungen und damit verbundene Änderungen der Funktionsbedingungen des Europäischen Parlaments in der nächsten Wahlperiode.

a) Die Begründung des Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes stellt darauf ab, dass die mit der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22. November 2012 angestoßene Entwicklung hinsichtlich der Wahl des Kommissionspräsidenten aus einem Kreis von den europäischen Parteien benannter Spitzenkandidaten bei der Europawahl 2014 zu einer stärkeren antagonistischen Profilierung von Regierung und Opposition in der Europäischen Union führen werde. Mit dieser im Zeitpunkt des Senatsurteils vom 9. November 2011 noch nicht konkret absehbaren neuen Entwicklung und der daraus folgenden zunehmenden Politisierung des Europäischen Parlaments werde die erforderliche Mehrheitsbildung erschwert, und es drohe konkret eine Funktionsbeeinträchtigung, der mit einer geeigneten und angemessenen Mindestschwelle zu begegnen sei (vgl. BTDrucks 17/13705 S. 6 f.).

Der Gesetzgeber geht zutreffend davon aus, dass eine antagonistische Profilierung von Regierung und Opposition auf europäischer Ebene unter Umständen dann eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht rechtfertigen kann, wenn in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht Verhältnisse gegeben sind, die denen auf nationaler Ebene vergleichbar sind, wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist (vgl. - auch zur bislang bestehenden Interessenlage im Institutionengefüge der Union - BVerfGE 129, 300 <327, 335 f.>). Diese - politisch angestrebte - Entwicklung steckt indes noch in den Anfängen. Die tatsächlichen Auswirkungen der in Gang gesetzten politischen Dynamik auf die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments sind derzeit nicht abzusehen, sodass für die Prognose des Gesetzgebers, es drohe ohne die Drei-Prozent-Sperrklausel eine Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments, die Grundlage fehlt.

b) Das Europäische Parlament strebt ausweislich seiner Entschließung vom 22. November 2012 im Einverständnis mit der derzeitigen Kommission eine Stärkung der politischen Legitimität beider Institutionen an, deren Wahl jeweils unmittelbarer mit der Entscheidung der Wähler verknüpft werden soll. Um dies zu fördern, sollen die europäischen politischen Parteien Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission nominieren, die eine führende Rolle im bevorstehenden Europawahlkampf spielen sollen, indem sie insbesondere ihr Programm in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorstellen. Eine Änderung der vertraglichen Grundlagen der Aufgaben und Befugnisse der europäischen Institutionen wird jedoch nicht angestrebt (vgl. zu den Grenzen einer Fortentwicklung des institutionellen Gefüges unter Geltung der Verträge in der Fassung des Vertrags von Lissabon BVerfGE 123, 267 <372>; zu Einzelheiten der geltenden Zuständigkeitsordnung BVerfGE 129, 300 <336 ff.>). Insoweit ist auch unklar, wie das politische Anliegen, die demokratische Willensbildung auf europäischer Ebene zu stärken, im Rahmen des geltenden Unionsrechts mit Relevanz für die hier zu entscheidende Frage umgesetzt werden soll. Aus welchen Gründen etwa der Kommissionspräsident auf die fortlaufende Unterstützung einer stabilen Mehrheit im Europäischen Parlament angewiesen sein könnte (vgl. Art. 234 Abs. 2 AEUV), hat auch die Erörterung in der mündlichen Verhandlung nicht erhellt. Die damit verbundenen Fragen können jedoch dahin stehen.

c) Es ist nämlich bereits in tatsächlicher Hinsicht nicht konkret absehbar, dass die angestoßene politische Entwicklung ohne eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht zu einer Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments führen könnte.

aa) Derzeit lässt sich nicht einmal abschätzen, in welchem Umfang und mit welchen Auswirkungen für die Tätigkeit und Funktionsweise des neu zu wählenden Europäischen Parlaments die in der Entschließung vom 22. November 2012 zum Ausdruck gebrachte Position der amtierenden Kommission und des Europäischen Parlaments sich gegenüber den Vertretern der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat und im Rat wird durchsetzen lassen. Auch der Umfang damit möglicherweise einhergehender Veränderungen im politischen Prozess innerhalb des Europäischen Parlaments in der kommenden Wahlperiode bleibt spekulativ. So hat etwa der Abgeordnete des Europäischen Parlaments Bütikofer in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, er erwarte, dass die nunmehr angestoßene Dynamik hin zu einem stärkeren Antagonismus und zu einer stärkeren Politisierung im Parlament nicht in einer Legislaturperiode abgeschlossen sein werde, sondern sich über den Zeitraum mehrerer Legislaturperioden erstrecken dürfte.

Soweit die Drei-Prozent-Sperrklausel danach mit der Erwägung gerechtfertigt werden sollte, der beabsichtigte „Demokratisierungsschub“ dürfe nicht dadurch infrage gestellt werden, dass von Deutschland aus eine Zersplitterung des Europäischen Parlaments in Kauf genommen werde, verfehlte dies nicht nur die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der politischen Parteien. Es würde auch der Offenheit des politischen Prozesses, der für die parlamentarische Debatte gerade im Hinblick auf mögliche Umstrukturierungen wesentlich ist und zu dem kleine Parteien einen wichtigen Beitrag leisten können (vgl. BVerfGE 129, 300 <340>), nicht gerecht. Aus diesem Grunde können Sperrklauseln auch nicht mit der Erwägung gerechtfertigt werden, nur politische Parteien, die diese überwinden könnten, seien hinreichend repräsentativ und leisteten einen verlässlichen Beitrag zur Legitimation von Volksvertretungen.

bb) Es ist auch nicht belegbar, dass die Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament infolge der angestrebten Politisierung strukturell beeinträchtigt wird.

(1) Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament, welche die parlamentarische Praxis bislang geprägt hat (vgl. BVerfGE 129, 300 <330 f.>), aufgrund der Benennung von (konkurrierenden) Spitzenkandidaten der Parteien, wie von Vertretern des Europäischen Parlaments in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, in Zukunft nicht mehr oder in signifikant geringerem Umfang stattfindet. Ob und inwieweit dies der Fall sein wird, ist jedoch ungewiss; denkbar sind jedenfalls auch Entwicklungen, die die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments unbeeinträchtigt lassen. So kann es Gründe für die Annahme geben, dass die beiden großen Fraktionen, die regelmäßig eine absolute Mehrheit der Mandate auf sich vereinen (vgl. BVerfGE 129, 300 <330>), auch weiterhin in einer Vielzahl von Fällen an einer Zusammenarbeit interessiert, wenn nicht sogar auf eine solche angewiesen sind. Dementsprechend liegt etwa die Möglichkeit nicht fern, dass ein Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten aus dem Kreis der im Europäischen Parlament vertretenen Parteien zur Bildung einer ihn tragenden Parlamentsmehrheit die Unterstützung der beiden großen Fraktionen benötigt und es aufgrund von hierüber geführten Verhandlungen zu einer Verfestigung der Kooperation der beiden großen Fraktionen kommt. Auf die Zahl nicht fraktionsgebundener Abgeordneter käme es bei einer derartigen Entwicklung nicht entscheidend an.

(2) Darüber hinaus kann auch nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die bislang praktizierte flexible Mehrheitsbildung im Parlament (vgl. BVerfGE 129, 300 <331>) durch die Zuwahl neuer Abgeordneter kleiner Parteien nennenswert erschwert würde. So erscheint es nicht zwingend, dass die Integrationsfähigkeit der europaweiten Parteifamilien, von denen im Wesentlichen die Fraktionsbildung im Europäischen Parlament ausgeht und die damit entscheidend zu seiner Funktionsfähigkeit beitragen, im Zuge der Politisierung des Europäischen Parlaments Einbußen erleidet. Möglich ist auch, dass etwaige deutlichere politische Gegensätze zwischen den einzelnen Fraktionen deren internen Zusammenhalt gerade erhöhen. Zudem ist offen, ob eine infolge stärkerer parteipolitischer Profilierung veränderte Wahrnehmung des Europäischen Parlaments nicht Wähler mehr als bislang zu strategischem Wahlverhalten veranlassen und dies einer Zunahme der im Europäischen Parlament vertretenen Parteien entgegenwirken würde.

(3) Die in der mündlichen Verhandlung genannte Zahl von künftig möglicherweise achtzig kooperationsunwilligen Abgeordneten lässt sich angesichts derartiger Ungewissheiten nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit prognostizieren. Ohnehin bezogen sich die betreffenden Äußerungen nicht auf die Zahl der zu erwartenden fraktionslosen Abgeordneten kleiner Parteien mit einem oder zwei Abgeordneten, sondern auf Abgeordnete bestimmter unionskritischer Parteien, die voraussichtlich nicht an einer Sperrklausel scheitern werden. Auch ist zu berücksichtigen, dass es sich bei Parteien, die auf nationaler Ebene eine kleine Splitterpartei sein mögen, um solche handeln kann, die einer im Europäischen Parlament gut vertretenen Parteienfamilie angehören oder ihr zumindest nahestehen und deren Abgeordnete daher zu einer Zersplitterung, wie sie mit Sperrklauseln abgewehrt werden soll, gar nicht beitragen. Damit besteht eine Besonderheit im Tatsächlichen, die Sperrklauseln gerade in Bezug auf die gemeineuropäische Integrationsfunktion des Europäischen Parlaments besonderen Einwänden unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit aussetzt.

Soweit zur Verteidigung der angegriffenen Sperrklausel auf die Schwierigkeit hingewiesen wird, qualifizierte Mehrheiten im Europäischen Parlament zu erreichen, ist ferner daran zu erinnern, dass die Anordnung qualifizierter Mehrheiten in den Verträgen gerade auf eine breite Zustimmung im Europäischen Parlament zielt und nicht zuletzt mit Blick auf das institutionelle Gleichgewicht mit den anderen Organen (Art. 13 EUV) in Kauf nimmt, dass das Europäische Parlament bei unüberwindbaren Meinungsverschiedenheiten keine durchsetzbare Position erlangt (vgl. BVerfGE 129, 300 <332>).

(4) Im Hinblick auf die Integrationskraft der Fraktionen ist schließlich nicht ersichtlich, dass in der kommenden Wahlperiode neu gewählte Abgeordnete kleinerer Parteien von vornherein keine Aufnahme in einer der etablierten Fraktionen oder - je nach Wahlergebnis in den anderen Mitgliedstaaten - in einer neu gegründeten weiteren Fraktion finden könnten. Auch wenn die Integrationskraft der Fraktionen im Europäischen Parlament nicht überbewertet werden darf und im Zuge einer intensiveren Politisierung die Bereitschaft einer Fraktion, Abgeordnete aufzunehmen, die auf nationaler Ebene als Konkurrenten auftreten, abnehmen könnte, sind die Anreize für die Anbindung von Abgeordneten an eine Fraktion doch beträchtlich, sodass nicht ohne Weiteres von einer unverträglich hohen Anzahl fraktionsloser Abgeordneter ausgegangen werden kann (vgl. dazu bereits BVerfGE 129, 300 <327 ff.>). Es wird allerdings zu beobachten sein, wie sich eine denkbare Wahl von Abgeordneten weiterer, in der deutschen Parteienlandschaft im Wettbewerb stehender Parteien auswirken wird. Gesicherte Einschätzungen sind derzeit auch diesbezüglich nicht möglich. Sich etwa konkret abzeichnenden Fehlentwicklungen kann der Gesetzgeber Rechnung tragen.“

C. Fazit

Eine hochaktuelle und sehr kontrovers diskutierte Entscheidung, die sicherlich jedenfalls bis zur Europawahl (25.5.2014) in unzähligen mündlichen Prüfungen Gegenstand des Prüfungsgesprächs sein wird. Absolute Pflichtlektüre!

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