Alleinhaftung des Überholenden

Alleinhaftung des Überholenden

Mithaftung trotz unterlassener doppelter Rückschau beim Linksabbiegen?

Verkehrsunfälle sollten zu Deiner juristischen Grundausstattung gehören und sind Dauerbrenner in Klausuren und Examen. Grund dafür ist, dass solche Fälle die Gerichte permanent beschäftigen. Bei den Klausurklassikern sind in der Regel zwei Pkw beteiligt. Häufig geht es in der Folge um sehr viel Geld. Denn im Straßenverkehr, wo grundsätzlich eine beidseitige Betriebsgefahr zugrunde gelegt wird, ist in den seltensten Fällen nur einer „schuld“. Dass es dazu auch Ausnahmen gibt und wie sich dabei ein Verstoß gegen die doppelte Rückschaupflicht auswirkt, zeigt Dir die Entscheidung des OLG Brandenburg.

Was war geschehen?

A fuhr mit seinem Motorrad durch die Innenstadt. B fuhr mit ihrem Pkw auf derselben Straße. Vor und hinter der B fuhr jeweils ein am Unfall unbeteiligtes Fahrzeug. Vor der Unfallstelle befanden sich zwei durch eine durchgezogene Linie verbundene Fußgängerüberwege mit einer Fußgängerinsel. Hinter der Fußgängerinsel befand sich eine spitz zulaufende Sperrfläche. Die Fahrzeugkolonne dahinter bremste ab, weil das erste Fahrzeug nach links in ein Grundstück abbiegen wollte. Die B wollte ebenfalls nach links abbiegen und leitete ihren Abbiegevorgang am Ende der Sperrfläche ein. A fuhr mit seinem Motorrad hinter den Fahrzeugen und setzte im Bereich der durchgezogenen Linie zum Überholen an. Auf der Gegenfahrbahn kam es zur Kollision mit dem nach links abbiegenden Fahrzeug der B. Diese hatte sich nicht ordnungsgemäß umgesehen und den überholenden A nicht bemerkt. A verlangt nun Schadensersatz und die Feststellung der Ersatzpflicht der B für künftige Schäden aus dem Verkehrsunfall.

Entscheidung des Gerichts

Das OLG Brandenburg hat die Berufung des A nach einem Hinweisbeschluss zurückgewiesen (Beschluss vom 08.10.2024 Az.: 12 U 78/24). Der geltend gemachte Schadensersatzanspruch stehe dem A nicht zu.

Im Folgenden prüfte das Gericht die Entstehung des Anspruchs aus allen in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen. Am relevantesten ist dabei § 7 I StVG. Denn dieser normiert eine Gefährdungshaftung, ein Verschulden ist gerade nicht erforderlich. Neben § 7 I StVG kommen weitere deliktische Anspruchsgrundlagen wie § 18 I StVG, § 823 I BGB, § 823 II BGB i.V.m. einem Schutzgesetz in Betracht.

Bei einem klassischen Verkehrsunfall ist der Haftungstatbestand des § 7 I StVG schnell abgehandelt. Denn dass es bei einem Unfall im fließenden Verkehr zu einer Rechtsgutsverletzung beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs gekommen ist, liegt regelmäßig auf der Hand. Hier solltest Du nicht zu viel Zeit aufwenden.

Der Schwerpunkt der Fallbearbeitung liegt dann bei der Haftungsverteilung zwischen den Unfallbeteiligten.

Zur Erinnerung

Sind zwei Fahrzeughalter an einem Unfall beteiligt, richtet sich die Haftungsverteilung nach § 17 II i.V.m. § 17 I StVG. Voraussetzung ist zunächst, dass der Geschädigte auch dem Grunde nach nach § 7 I StVG haftet. Hier musst Du wiederum § 7 I StVG prüfen und die Haftung des Geschädigten dem Grunde nach darlegen. Zweite Voraussetzung ist, dass der Unfall kein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 III StVG darstellt. Wann ein Ereignis unabwendbar ist, steht in Abs. 3 S. 2. Die Rechtsprechung spricht vom sogenannten Idealfahrer, der alle Gefahrensituationen voraussieht und auch mit Verkehrsverstößen anderer Verkehrsteilnehmer rechnet. Daran wird die Prüfung also selten scheitern.

Steht fest, dass beide dem Grunde nach haften, ist der Schaden nach dem Maß der Verursachungsbeiträge zu verteilen. Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge nach § 17 I StVG ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden überwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Außerdem ist die Betriebsgefahr beider Fahrzeuge zu berücksichtigen. Hier musst Du nun den gesamten Unfallhergang anhand der StVO prüfen. Das Ergebnis Deiner Abwägung ist dabei zweitrangig. Wichtig ist, dass Du die Verursachungsbeiträge sauber herausarbeitest und gegeneinander abwägst.

Wie die Abwägung im Einzelfall funktioniert, zeigt das OLG Brandenburg sehr schön:

Das Gericht stellte zunächst fest, dass die B gegen die Pflicht zur zweiten Rückschau gemäß § 9 StVO verstoßen habe. Danach müsse der Abbiegende vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen den nachfolgenden Verkehr beachten, was die B nicht getan habe. Zum anderen stellte das Gericht mehrere Verstöße des A gegen § 5 StVO fest. Zum einen habe er gemäß § 5 III StVO bei unklarer Verkehrslage überholt. Unklar sei die Lage, wenn unter Berücksichtigung aller Umstände ein gefahrloses Überholen nicht zu erwarten ist. Das Überholverbot greife ein, wenn nicht zuverlässig beurteilt werden kann, was der Vorausfahrende alsbald tun wird. Eine bloß abstrakte Gefahrenlage reiche jedoch nicht aus. Hier sei die Verkehrslage für A insgesamt nicht überschaubar gewesen, zumal er hier mehrere Fahrzeuge gleichzeitig überholen wollte. Er habe die sich aus den Verkehrszeichen ergebenden faktischen Überholverbote (durchgezogene Linie, Sperrfläche und Linksüberholen an einer Fußgängerquerungshilfe) missachtet, sodass insgesamt ein besonders grober Verkehrsverstoß vorliege.

Bei der anschließenden Abwägung kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Verstoß der B gegen die Rückschaupflicht gegenüber dem Verhalten des A nicht mehr ins Gewicht fällt: Wegen des faktischen Überholverbots an dieser Stelle habe die B nicht damit rechnen müssen, an dieser Stelle überholt zu werden, zumal kurz zuvor bereits ein anderes Fahrzeug abgebogen sei. Es könne auch nicht angenommen werden, dass die Betriebsgefahr des Pkw gegenüber dem Motorrad des A erhöht gewesen sei. Dem stehe das besonders grob verkehrswidrige Verhalten des A gegenüber, sodass es im vorliegenden Einzelfall angemessen sei, die Haftung der B ausnahmsweise vollständig zurücktreten zu lassen.

Prüfungsrelevanz

Verkehrsunfälle tauchen immer wieder in Prüfungen auf. Es ist wichtig, dass Du mit der Prüfung des klassischen Verkehrsunfalls vertraut bist. Die Entscheidung ist sehr lehrreich, weil sie genau zeigt, wie die Rechtsprechung die Abwägung der Verschuldens- und Verursachungsbeiträge vornimmt. Auch für Referendar:innen ist die Entscheidung von Bedeutung, da die Prüfungsämter gerade im zweiten Staatsexamen regelmäßig Verkehrsunfallklausuren stellen. Neben der materiellen Lösung spielt hier z.B. die Beweiswürdigung und in der Anwaltsklausur die Zweckmäßigkeitserwägung eine herausragende Rolle. So darfst Du in der Anwaltsklausur aus Klägersicht nicht vergessen, neben dem Halter auch den Versicherer nach §§ 115 I Nr. 1 VVG i. V. m. § 1 PflVG zu verklagen.

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