BGH zum merkantilen Minderwert bei einem Unfallfahrzeug

BGH zum merkantilen Minderwert bei einem Unfallfahrzeug

Ist beim merkantilen Minderwert eines Unfallfahrzeugs im Rahmen eines hypothetischen Verkaufs von einem Netto- oder Bruttoverkaufspreis auszugehen?

Der merkantile Minderwert ist der aufgrund eines Unfalls reduzierte Verkaufswert selbst bei vollständiger und ordnungsgemäßer Reparatur. Muss dann bei der Ermittlung dieses merkantilen Minderwerts von einem Nettokaufpreis ausgegangen werden oder ist die Umsatzsteuer mit einzubeziehen und anzusetzen?

A. Sachverhalt

Die Klägerin (K), die Leasingnehmerin eines bei der V-GmbH geleasten Pkw, nimmt die beklagte Haftpflichtversicherung (B) auf Ersatz des merkantilen Minderwerts aufgrund eines Verkehrsunfalls, bei welchem der Pkw durch einen Versicherungsnehmer der B beschädigt wurde, in Anspruch. Die volle Haftung der B dem Grunde nach stand außer Streit. Nach den Leasingbedingungen ist K ermächtigt, Ansprüche im eigenen Namen und auf eigene Kosten geltend zu machen.

K verlangt von B die Zahlung der Umsatzsteuer von 19 % bezüglich des merkantilen Minderwerts.

B. Entscheidung

K macht insofern einen Schadensersatzanspruch geltend.

Deliktische Ansprüche

(Vertragliche, vertragsähnliche oder dingliche Ansprüche kommen nicht in Betracht). Es besteht dem Grunde nach ein deliktischer Anspruch.

I. § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, § 7 I StVG

K könnte gegen B einen Schadensersatzanspruch haben auf Zahlung der Umsatzsteuer von 19 % bezüglich des merkantilen Minderwerts nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, § 7 I StVG.

1. Gewillkürte Prozessstandschaft

K macht keinen eigenen Anspruch geltend, sondern macht ein Recht der geschädigten Leasinggeberin, der V-GmbH, geltend. Sie macht ein fremdes Recht im eigenen Namen geltend. Hierzu wurde sie von der V-GmbH ermächtigt im Rahmen der Leasingbedingungen und sie hat an der Geltendmachung im eigenen Namen ein schutzwürdiges Interesse. Sie handelt also in gewillkürter Prozessstandschaft. (Fälle gesetzlicher Prozessstandschaft sind z.B. § 80 I InsO, §§ 1368, 1984 I, 2039 S. 1 BGB.)

Die Klägerin (Leasingnehmerin) ist befugt, diesen Anspruch in gewillkürter Prozessstandschaft geltend zu machen …

2. Direktanspruch gegen B nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG

Die geschädigte Leasinggeberin, die V-GmbH, hat einen Direktanspruch gegen B als Haftpflichtversicherer des Schädigers nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, sofern sie einen solchen Schadensersatzanspruch gegen den Halter (Schädiger) nach § 7 I StVG hat.

Ein Schadensersatzanspruch nach § 7 I StVG setzt voraus: Rechtsgutsverletzung, Halter, Betrieb eines Kfz, haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Betrieb eines Kfz), kein Ausschluss nach § 7 II StVG, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden). (Der BGH ist nur auf die Prüfungspunkte des Schadens und der haftungsausfüllenden Kausalität eingegangen.)

a) Rechtsgutsverletzung

Eine Rechtsgutsverletzung als Sachbeschädigung ist in Form der Eigentumsverletzung am Kfz der Geschädigten durch den Verkehrsunfall erfolgt.

b) Halter

Der Schädiger (und Versicherungsnehmer von B) ist Halter des gegnerischen Kfz.

c) Betrieb eines Kfz

Die Sachbeschädigung ist beim Betrieb des Kfz des Halters eingetreten.

d) Haftungsbegründende Kausalität

Die haftungsbegründende Kausalität zwischen der Rechtsgutverletzung und dem Betrieb eines Kfz ist gegeben.

e) Kein Ausschluss nach § 7 II StVG

Es liegt auch kein Ausschluss der Ersatzpflicht nach § 7 II StVG vor.

f) Schaden

Ferner müsste ein Schaden, also ein unfreiwilliges Vermögensopfer, entstanden sein. Nach § 249 I BGB kann grundsätzlich Naturalrestitution verlangt werden. Im Rahmen der von § 249 I BGB vorausgesetzten Differenzhypothese (= Differenz zwischen realer und hypothetischer Vermögenslage) kann der Differenzschaden als Schadensersatz gefordert werden. Nach § 249 II 1 BGB kann statt der Herstellung der dazu erforderliche Geldbetrag verlangt werden. Gem. § 251 I BGB hat die Entschädigung in Geld zu erfolgen, wenn die Herstellung nicht möglich oder zur Entschädigung des Gläubigers nicht genügend ist.

Bei erheblicher Beschädigung umfasst der Anspruch gemäß § 251 Abs. 1 BGB auch den Ersatz des merkantilen Minderwerts, weil insoweit eine Herstellung gemäß § 249 BGB nicht möglich ist …

Fraglich ist, wie der merkantile Minderwert zu ermitteln und in welchem Umfang er zu ersetzen ist.

aa) Merkantiler Minderwert

Beim merkantilen Minderwert handelt es sich

um eine Minderung des Verkaufswerts, die trotz völliger und ordnungsgemäßer Instandsetzung eines bei einem Unfall erheblich beschädigten Kraftfahrzeuges allein deshalb verbleibt, weil bei einem großen Teil des Publikums eine den Preis beeinflussende Abneigung gegen den Erwerb unfallbeschädigter Kraftfahrzeuge besteht …. Grund ist, dass auch bei instandgesetzten Unfallfahrzeugen verborgene technische Mängel nicht auszuschließen sind und das Risiko höherer Schadensanfälligkeit infolge nicht fachgerechter Reparatur besteht. Damit erzielen Unfallfahrzeuge auf dem Gebrauchtwagenmarkt einen geringeren Preis als unfallfreie. Diese Wertdifferenz stellt einen unmittelbaren Sachschaden dar ….

Dabei spielt es keine Rolle, ob der Pkw verkauft oder weiter benutzt wird. Die Ersatzpflicht besteht somit unabhängig davon,

ob der Geschädigte das Fahrzeug verkauft und sich der Minderwert tatsächlich in einem geringeren Verkaufspreis manifestiert (vgl. Senatsurteil vom 2. Dezember 1966 aaO). Denn wenn sich der Geschädigte entschließt, sein Fahrzeug weiter zu gebrauchen, so begnügt er sich mit der Benutzung eines Fahrzeugs, dessen Wert nach der allgemeinen Verkehrsauffassung geringer ist als der eines unfallfrei gefahrenen Fahrzeugs ….

bb) Keine Umsatzsteuer

Hinsichtlich der Schadenshöhe entscheidet das Gericht gem. § 287 I 1 ZPO unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung. Im Kern der Entscheidung ging es um die Frage, ob auch zusätzlich die Umsatzsteuer von 19 % verlangt werden kann und insofern ein hypothetischer Bruttoverkaufspreis anzusetzen ist. Dazu hat der BGH ausgeführt:

Der Ersatz des merkantilen Minderwerts unterliegt nicht der Umsatzsteuer nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG, weil es sich bei dieser nach dem Gesetz (§ 251 Abs. 1 BGB) zu zahlenden Entschädigung (ebenso wie bei nach § 249 BGB zu zahlendem Schadensersatz) nicht um eine Leistung gegen Entgelt handelt, es also am erforderlichen Austausch gegenseitiger Leistungen fehlt ….

Grundlage für die Schätzung des merkantilen Minderwerts ist ein hypothetischer Verkauf des Fahrzeugs … Dabei ist von Netto-, nicht von Bruttoverkaufspreisen auszugehen ….

Auch wenn die Begründung des Anspruchs auf Ersatz des merkantilen Minderwerts… nicht voraussetzt, dass der Geschädigte das Unfallfahrzeug verkauft und sich der Minderwert tatsächlich in einem geringeren Verkaufspreis manifestiert, ist der Berechnung der Höhe dieses Ersatzanspruchs doch gedanklich ein Verkauf zugrunde zu legen. Die argumentative Herleitung des Anspruchs, dass Unfallfahrzeuge auf dem Gebrauchtwagenmarkt einen geringeren Preis erzielen als unfallfreie, weil verborgene technische Mängel nicht auszuschließen sind und das Risiko höherer Schadensanfälligkeit infolge nicht fachgerechter Reparatur besteht …, schlägt sich bei der Berechnung des merkantilen Minderwerts dahingehend nieder, dass gemäß § 287 ZPO geschätzt wird, um wieviel geringer der erzielbare Verkaufspreis bei einem gedachten Verkauf des beschädigten Fahrzeugs nach der Reparatur im Vergleich zum erzielbaren Verkaufspreis ohne die Beschädigung wäre. Die Minderung des Verkaufspreises ist Ausdruck der Bewertung des eingetretenen unmittelbaren Sachschadens durch den Markt …

Daher ist auf den Nettoverkaufspreis abzustellen. Umsatzsteuer könnte sich ohnehin nicht auf den merkantilen Minderwert eines Fahrzeugs auswirken. Bei einem Privatverkauf dürfte dem Käufer die Umsatzsteuer schon nicht in Rechnung gestellt werden und beim Verkauf durch einen umsatzsteuerpflichtigen Unternehmer müsste dieser die auf den Verkaufspreis entfallende Umsatzsteuer an das Finanzamt abführen, sodass diese lediglich einen durchlaufenden Posten darstellen würde.

Sollte der merkantile Minderwert fälschlich aufgrund eines Bruttoverkaufspreises ermittelt worden sein, wäre dieser

in der Weise nach unten zu korrigieren, dass von ihm ein dem “Umsatzsteueranteil” entsprechender Betrag abgezogen wird ….

Denn es gilt das schadensrechtliche Bereicherungsverbot.

Eine solche ist von dem Wertinteresse, das Gegenstand des Entschädigungsanspruchs aus § 251 BGB ist … und auf Ausgleich der Differenz zwischen dem Wert des Vermögens, wie es sich ohne das schädigende Ereignis darstellen würde, und dem durch das schädigende Ereignis verminderten Wert gerichtet ist …, nicht erfasst.

Gegen die Nichtberücksichtigung der Umsatzsteuer kann auch nicht angeführt werden, dass es bei § 251 BGB keine dem § 249 II 2 BGB entsprechende Bestimmung gebe, wonach die Umsatzsteuer nur verlangt werden kann, wenn sie tatsächlich angefallen ist.

Damit wird der Regelungsinhalt des § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB verkannt. … Dies setzt denklogisch voraus, dass der Geschädigte für die Wiederherstellung Umsatzsteuer zahlen muss und das seinen Schaden erhöht, wie dies etwa bei der Reparatur oder der Wiederbeschaffung einer beschädigten Sache der Fall sein kann. Bei einem (gedachten) Verkauf der beschädigten Sache, der Grundlage für die Berechnung des merkantilen Minderwerts ist, kommt das hingegen nicht in Betracht. Dort wird die Umsatzsteuer, falls sie überhaupt anfällt (nicht beim Verkauf von “privat”), vom Geschädigten vereinnahmt und anschließend abgeführt, stellt sich also nur als durchlaufender Posten dar. Die Frage, ob sich die Regelung des § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB auf die Entschädigung gemäß § 251 BGB übertragen lässt oder nicht, stellt sich daher für den Ersatz des merkantilen Minderwerts von vornherein nicht.

g) Haftungsausfüllende Kausalität

Ferner ist die haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutverletzung und Schaden) gegeben.

Ergebnis

K hat gegen B keinen Schadensersatzanspruch auf Zahlung der Umsatzsteuer von 19 % bezüglich des merkantilen Minderwerts nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, § 7 I StVG.

II. § 823 I BGB; § 823 II BGB i.V.m. § 1 II StVO

Weitergehende Ansprüche aus § 823 I BGB und § 823 II BGB i.V.m. § 1 II StVO konnten und mussten vom BGH nicht geprüft werden.

(Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 I BGB setzt voraus: Rechtsgutsverletzung, Handlung, haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Handlung), Rechtswidrigkeit, Verschulden, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden).)

(Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 II BGB setzt voraus: Schutzgesetz, Verletzung (Handlung), haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Handlung), Rechtswidrigkeit, Verschulden, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden).)

C. Prüfungsrelevanz

Das Deliktsrecht mit dem Schwerpunkt auf der Prüfung des Schadens ist regelmäßig Prüfungsgegenstand. In der vorliegenden Entscheidung ging es dabei um die Ermittlung des merkantilen Minderwerts und zwar insbesondere, ob Umsatzsteuer geltend gemacht werden kann.

Die Entscheidung ist sehr prüfungsrelevant, da sie die Möglichkeit bietet, Schadensersatzansprüche aus dem Deliktsrecht in Form der Gefährdungshaftung nach § 7 I StVG in Kombination mit einem Direktanspruch gegen den Versicherer nach § 115 VVG und prozessual einer gewillkürten Prozessstandschaft zu prüfen und sich dabei intensiv mit dem Schaden gem. §§ 249, 251 BGB auseinanderzusetzen.

(BGH Urt. v. 16.7.2024 – VI ZR 188/22)8/22)

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