
Die Ausübung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie ist in aller Regel mit Einschränkungen der Wahrnehmungsberechtigungen der Abgeordneten und der Fraktionen verbunden. Das BVerfG hat die Zulässigkeit und Grenzen der Regelungsbefugnis systematisch erarbeitet, der ThürVerfGH hat vergleichbar entschieden.
A. Vereinfachte Sachverhalte
1.1 Ausschussvorsitz (2 BvE 10/21)
Nach § 58 GeschO BT „bestimmen“ die Ausschüsse ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreter „nach den Vereinbarungen im Ältestenrat“. Bei der Auswahl orientiert sich der Ältestenrat an den Vorschlägen der Fraktionen und berücksichtigt deren Kandidatenbenennungen in einer von der jeweiligen Fraktionsstärke abhängigen Häufigkeit. Seit der ersten Legislaturperiode wurden dann die jeweils vorgeschlagenen Abgeordneten von den Ausschussmitgliedern durch Akklamation bestätigt. Nur bei – in der Vergangenheit sehr seltenen – Widersprüchen wurde der Vorsitzende durch eine dann erfolgte Mehrheitswahl im Ausschuss bestätigt.
Seit einiger Zeit haben die Ausschüsse das Akklamationsverfahren aufgegeben und führen bezogen auf den vom Ältestenrat jeweils vorgeschlagenen Kandidaten eine Mehrheitswahl durch. Dabei fanden die auf die AfD entfallenen Kandidaten keine Mehrheit, die Ausschussvorsitze in drei Ausschüssen blieben unbesetzt.
Die AfD-Fraktion hat vor dem BVerfG gegen die betreffenden Ausschüsse Klage erhoben.
1.2 Abwahl des Vorsitzenden (2 BvE 1/20)
Vorsitzender des Rechtsausschusses war der AfD-Abgeordnete B. Er ist mit zahlreichen Äußerungen in der Öffentlichkeit aufgetreten, die nach Auffassung der übrigen Mitglieder im Rechtsausschuss im Widerspruch zu den Grundwerten des Grundgesetzes stehen.
Nach verschiedenen Abmahnungen ist der Rückhalt des B im Ausschuss entfallen. Die Ausschussmitglieder haben jegliches Vertrauen verloren und deshalb mehrheitlich die Abwahl des B als Ausschussvorsitzenden durchgeführt. Auch hiergegen klagt die AfD vor dem BVerfG.
1.3 Landtagspräsident (VerfGH 36/24)
Nach der bisherigen Regelung schlug in den konstituierenden Sitzungen des Thüringer Landtags die jeweils stärkste Fraktion einen Abgeordneten für die Wahl des Landtagspräsidenten vor. Nachdem die AfD bei den jüngsten Landtagswahlen die meisten Stimmen erhalten hat, wollen die unterlegenen Parteien zu Beginn der konstituierenden Sitzung die Geschäftsordnung dahingehend ändern, dass künftig der Landtag den Präsidenten „aus seiner Mitte“ wählt. Der die erste Sitzung leitende „Alterspräsident“, ein Abgeordneter der AfD, verhindert dies durch Abbruch der konstituierenden Sitzung. Hiergegen richtet sich ein Eilantrag 1. der C-Fraktion und 2. des Abgeordneten M.
1.4 Fragen
Dazu sind folgende Fragen zu beantworten:
1.4.1 Sind die Hauptsacheanträge an das BVerfG zulässig? Im Fall Thüringen handelt es sich um ein Eilverfahren. Ist es zulässig, auch wenn es die Hauptsache vorwegnimmt?
1.4.2 Welcher Verfassungsrechtssatz könnte bei den Entscheidungen über den Ausschussvorsitz eingeschränkt worden sein – und in welchem Umfang könnten Einschränkungen gerechtfertigt sein?
1.4.3 Musste der „Alterspräsident“ im Thüringer Landtag schon in der konstituierenden Sitzung einen Mehrheitsbeschluss zur Geschäftsordnung zulassen? Hat die stärkste Fraktion ein Recht auf Besetzung der Stelle des Parlamentspräsidenten?
B. Lösung und Entscheidungen
1.4.1 Prozessuale Rechtslage
Die Verfassungsgerichte können nur angerufen werden, wenn ihnen der Rechtsstreit ausdrücklich zugewiesen ist (vgl. z.B. Art. 93 GG/§ 13 BVerfGG bzw. VerfGG Land). Außerdem müssen die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen der jeweiligen Verfahrensart vorliegen.
I. Zuständigkeit der Verfassungsgerichte
1. In allen drei Fällen könnte es sich um Organklagen handeln. Abgeordnete, Fraktionen, Ausschüsse und „Alterspräsidenten“ sind Unterorgane des Parlaments mit eigenen verfassungsrechtlichen Kompetenzen. Das BVerfG ist nach Art. 93 I Nr. 1 GG zuständig in Streitigkeiten oberster Bundesorgane sowie ihrer Unterorgane, soweit es um Wahrnehmungsberechtigungen aus dem Grundgesetz oder aus einer Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans geht. Eine vergleichbare Regelung enthält Art. 80 I Nr. 3 (Thüringer) Verfassung.
2. Bezogen auf die Verfahren vor den Verfassungsgerichten sind zudem Eilverfahren vorgesehen (§ 32 BVerfGG, 26 ThürVerfGHG).
II. Organklagen der AfD-Fraktion vor dem BVerfG
Die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen von Organklagen vor dem BVerfG beurteilen sich nach §§ 63 ff BVerfGG.
1. Es handelt sich bei Organstreitverfahren um kontradiktorische Verfahren. Antragsteller kann somit die AfD-Fraktion des Bundestages sein, Antragsgegner ist der jeweilige Ausschuss, der die Entscheidung über die Wahl bzw. Abwahl des Vorsitzenden getroffen hat. Fraktionen und Ausschüsse sind Unterorgane des Bundestages mit eigenen verfassungsrechtlichen Wahrnehmungsberechtigungen (Art. 38 I 2 GG).
2. Das Organstreitverfahren ist ein subjektives Beanstandungsverfahren (§ 64 I BVerfGG). Die Antragsteller sind danach nur antragsbefugt, wenn sie in ihren eigenen durch das Grundgesetz begründeten Wahrnehmungsberechtigungen betroffen sind oder wenn sie geltend machen können, dass die Zuständigkeiten des Organs, dem sie angehören, beeinträchtigt sein könnten. Dazu das BVerfG:
Rn 69 „Die Antragstellerin ist als Fraktion des Deutschen Bundestages ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung - ebenso wie diejenige der Abgeordneten - aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleiten ist. Hieraus ergibt sich ein Recht der Fraktionen auf gleiche Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung. Es gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen … Dieses Recht erstreckt sich nicht nur auf die parlamentarische Willensbildung im engeren Sinne, sondern auch auf Entscheidungen über die innere Organisation …
Rn 70 Auch gewährt die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages den Fraktionen in § 12 GO-BT das Recht, entsprechend ihrer Stärke bei der Besetzung der Ausschussvorsitze berücksichtigt zu werden. Insofern erscheint es möglich, dass Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG der Antragstellerin … ein verfassungsrechtliches Recht auf gleiche Teilhabe verleiht, das durch die Abwahl vom Ausschussvorsitz sowie durch die Vorenthaltung der Ausschussvorsitze als Folge der Durchführung von Mehrheitswahlen beeinträchtigt sein könnte.“
3. Das Organstreitverfahren ist nach § 64 III BVerfGG fristgebunden.
III. Eilverfahren der Fraktionen und des Abgeordneten vor dem ThürVerfGH
1. Aus der enumerativen Zuweisung der Streitverfahren an das Verfassungsgericht folgt, dass ein Eilverfahren unzulässig wäre, wenn das Verfahren nicht die Zulässigkeitsvoraussetzungen des entsprechenden Hauptsacheverfahrens erfüllen würde. §§ 38, 39 ThürVerfGHG regeln vergleichbar dem Bundesrecht das Organstreitverfahren als kontradiktorisches und als subjektives Beanstandungsverfahren.
a) Antragsteller sind die C-Fraktion und der Abgeordnete M, Antragsgegner ist der „Alterspräsident“, der die konstituierende Sitzung geleitet hat.
b) Zur Antragsbefugnis der Fraktion und des Abgeordneten führt der ThürVerfGH aus:
S. 9/10 „Die Antragsteller sind antragsbefugt. Die Antragstellerin zu 1. ist als Fraktion des Thüringer Landtags durch die Thüringer Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet (vgl. Art. 58 und Art. 59 Abs. 2 ThürVerf). Sie … kann im Wege der Prozessstandschaft eine Verletzung der Rechte des Landtags nach § 39 Abs. 1 ThürVerfGHG geltend machen (ThürVerfGH, Urteil vom 2. Februar 2011 – VerfGH 20/09 –, LVerfGE 22, 537 [542]). Der Antragsteller zu 2. verfügt als Abgeordneter über die Rechte, die Ausfluss des freien Mandats aus Art. 53 Abs. 1 und 2 ThürVerf sind.“
2. In Eilverfahren kann das Rechtsschutzbedürfnis dadurch entfallen, dass die Hauptsache vorweggenommen wird. Darauf zielt der Antrag praktisch ab:
S. 12/13 „Diese Vorwegnahme ist jedoch ausnahmsweise zulässig, weil mit der Konstituierung eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät käme und den Antragstellern in anderer Weise gebotener und ausreichender Rechtsschutz nicht gewährt werden könnte … Daher dürfen die Antragsteller ausnahmsweise vorbeugenden Rechtsschutz begehren“.
1.4.2 Abwehrrecht gegen Entscheidungen über den Ausschussvorsitz
Fraktionen sind Handlungseinheiten von Abgeordneten im Parlament. Deshalb leiten sich ihre Rechte wie bei Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG ab. Sie unterliegen unterschiedlichen Einschränkungen – abhängig davon, ob es um ihre parlamentarischen Mitwirkungen (z.B. Ausschussbesetzungen) oder um die Mitwirkungen bei organisatorischen Entscheidungen geht (z.B. Ausschussvorsitz).
I. Ableitung der Rechte von Fraktionen aus Art. 38 I 2 GG
Bei den Rechten der Fraktionen unterscheidet das BVerfG danach, ob die Fraktionen bei einer parlamentarischen Willensbildung mitwirken (Rn 94, 95) oder bei Entscheidungen parlamentsorganisatorischer Art (Rn 96, 98):
Rn 94 „(1) Fraktionen werden als Zusammenschlüsse von Abgeordneten gegründet und im Deutschen Bundestag tätig …. Ihr Wirken ist eine bedeutende Voraussetzung für die Effektivierung der Tätigkeit der in ihr zusammengeschlossenen Mitglieder des Deutschen Bundestages …. Fraktionen sind daher anerkannte Einrichtungen des Verfassungslebens und als ständige Gliederungen des Deutschen Bundestages Teil der organisierten Staatlichkeit…..
Rn 95 Gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG haben die Fraktionen dementsprechend ein Recht auf formal gleiche Mitwirkung an sämtlichen Gegenständen der parlamentarischen Willensbildung … Aus der durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Freiheit der Abgeordneten, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen, ergibt sich, dass die Fraktionen als politische Kräfte ebenso gleich und entsprechend ihrer Stärke zu behandeln sind wie die Abgeordneten untereinander…Die Mitwirkungsbefugnis der Abgeordneten erstreckt sich auch auf die Ausschüsse des Deutschen Bundestages. Grundsätzlich muss jeder Ausschuss, soweit er Aufgaben des Plenums übernimmt beziehungsweise dessen Entscheidungen vorbereitet, ein verkleinertes Abbild des Plenums sein und in seiner Zusammensetzung dessen Zusammensetzung widerspiegeln, um dem Repräsentationsprinzip Rechnung zu tragen … (Grundsatz der Spiegelbildlichkeit)….
Rn 96 (2) Nach der Rechtsprechung des Senats gilt der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit hingegen nicht für Gremien und Funktionen, die lediglich organisatorischer Art sind und daher nicht dem Einfluss des Prinzips gleichberechtigter Teilnahme an den dem Deutschen Bundestag nach dem Grundgesetz übertragenen Aufgaben unterliegen (vgl. BVerfGE 96, 264 <280>; 140, 115 <151 f. Rn. 94>; 154, 1 <12 Rn. 29>). Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG begründet folglich für sich genommen keinen Anspruch auf Zugang zu Leitungsämtern, bei denen es nicht zur inhaltlichen Vorformung der parlamentarischen politischen Willensbildung kommt. Daraus hat der Senat den weiteren Schluss gezogen, dass sich gerade die Beschränkung der Vergabe von Vorsitzen in Ausschüssen durch die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages im Rahmen der dem Bundestag zustehenden Geschäftsordnungsautonomie hält (vgl. BVerfGE 84, 304 <328>; 140, 115 <151 f. Rn. 94>; 154, 1 <12 Rn. 29>). Bei dem Amt des Ausschussvorsitzes handelt es sich nicht um ein spezifisch mitgliedschaftliches Recht, wenn auch das Amt an das Mandat im Deutschen Bundestag gebunden ist (vgl. BVerfGE 84, 304 <328>).“
Aber auch dann, wenn der strenge Gleichheitssatz – der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit – nicht gilt, bleiben Organisationsentscheidungen des Bundestages im Grundsatz der Gleichheit iSd. Art. 38 I 2 GG verpflichtet.
Rn 98 „Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG begründet einen Status formaler Gleichheit der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse …. Seinen Ausdruck findet dieser verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsanspruch unter anderem im Recht der Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse auf eine faire und loyale Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages …. Indem sich der Deutsche Bundestag eine Geschäftsordnung gibt, bindet er sich selbst und ist gehalten, von ihm eingeräumte Rechte gleichmäßig und sachgemäß zur Geltung zu bringen. Der Gleichbehandlungsanspruch erstreckt sich daher - als Teilhabeanspruch - auch auf jene Beteiligungsrechte, die über die unmittelbar in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wurzelnden spezifischen Statusrechte der Abgeordneten beziehungsweise ihrer Zusammenschlüsse hinausgehen.“
II. Schranken aus der Organisationshoheit des Bundestages
Die Organisationshoheit des Bundestages, die unter anderem seiner Geschäftsordnungsbefugnis zugrunde liegt (Art. 40 I 2 GG), schränkt die Rechte der Abgeordneten und damit auch der Fraktionen (Art. 38 I 2 GG) notwendig ein. Werden die Statusrechte betroffen, müssen verfassungsimmanente Schranken entwickelt werden (dazu Rn. 102). Anders ist es bei Einschränkungen der erst von der Geschäftsordnung (und nicht vom Grundgesetz) begründeten organisatorischen Leitungsrechte (Rn. 103):
Rn 102 „aa) Einschränkungen der dem Mandat entspringenden spezifischen Mitwirkungsbefugnisse der Abgeordneten beziehungsweise ihrer Zusammenschlüsse durch die Geschäftsordnung unterliegen besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen. Sie müssen dem Schutz anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang dienen. Diese müssen gegenüber dem freien Mandat zumindest gleichwertig sein (vgl. BVerfGE 160, 368 <385 Rn. 53>). Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments stellt ein solch gleichwertiges Rechtsgut von Verfassungsrang dar (vgl. BVerfGE 80, 188 <219>; 118, 277 <324>; 130, 318 <348 ff.>), das grundsätzlich geeignet ist, Einschränkungen der Beteiligungsmöglichkeiten der Abgeordneten zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 160, 368 <386 Rn. 54>). …
Rn 103 bb) Ist demgegenüber nicht ein unmittelbar in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankertes spezifisches mitgliedschaftliches Recht betroffen, sondern geht es allein um den formalen Status der Gleichheit der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Form der Teilhabe an Rechtspositionen, die erst die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages einräumt, findet eine verfassungsgerichtliche Überprüfung lediglich dahingehend statt, ob die einschlägigen Bestimmungen der Geschäftsordnung oder ihre Auslegung und Anwendung jedenfalls nicht evident sachwidrig und damit willkürlich sind. … Prüfungsmaßstab ist somit das Willkürverbot …“.
Daraus folgt: Der Abgeordnetenstatus und daraus abgeleitet die Rechtsstellung der Fraktionen aus Art. 38 I 2 GG gewährleisten kein Recht auf Besetzung von Ausschussvorsitzen. Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit ist nicht auf die Leitungsämter des Deutschen Bundestages anzuwenden. Ausschussvorsitzende haben im Wesentlichen organisatorische Aufgaben.
§ 12 Satz 1 GeschO BT ist die grundlegende organisatorische Entscheidung des Bundestages zugunsten eines parlamentarischen Leitungsmodells zu entnehmen, demzufolge alle Fraktionen (proportional) bei der Besetzung von Leitungsämtern zu berücksichtigen sind. Zugleich legt § 58 GO-BT fest, dass die Ausschüsse ihre Vorsitzenden „bestimmen”. Der Wortlaut ist weit gefasst – Bestimmung durch Akklamation, aber auch Bestimmung durch Wahlen im Ausschuss. Die Regelung ist mit dem Gleichheitssatz vereinbar.
III. Konsequenzen für die AfD-Fraktion im Bundestag
Es bestehen keine Anhaltspunkte für eine dem Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung widersprechende Anwendung der §§ 12, 58 GO-BT in den hier streitigen Fällen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Ablauf der Wahlen vorliegend nicht ordnungsgemäß gewesen sein könnte. Auch durch die Abwahl des Vorsitzenden des Rechtsausschusses ist die AfD-Fraktion nicht in ihren Rechten verletzt worden. Die Abwahl ist in der GeschO BT nicht geregelt, unterliegt aber als actus contrarius vergleichbaren Bestimmungen wie die Wahl. Es ist nicht sachwidrig, wenn die Abwahl erfolgte, das Recht zur Benennung eines Nachfolgers aber weiterhin bei der Fraktion bleibt. Findet auch er keine Mehrheit, bleibt der Posten unbesetzt. Wenn die Abwahl damit begründet worden ist, dass jedes Vertrauen zwischen den Mitgliedern und dem Vorsitzenden des Ausschusses verloren gegangen ist, ist dies ein sachlicher Grund, denn nur so lässt sich die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses sicherstellen.
1.4.3 Bestimmung des Parlamentspräsidenten
Ein neu gewähltes Parlament kann im Rahmen seiner konstituierenden Sitzung Geschäftsordnungsbeschlüsse fassen – sei es durch Übernahme der bisherigen Geschäftsordnung oder Mehrheitsentscheidungen zur Neufassung, sonst wäre das Parlament nicht funktionsfähig. Diese Befugnis folgt aus der Geschäftsordnungsautonomie und damit aus dem Selbstverwaltungsrecht der gewählten Abgeordneten. Dazu führt der ThürVerfGH aus:
S. 21 „Die Verfassung gibt insbesondere nicht vor, dass die Wahl des Landtagspräsidenten noch vor dem Beschluss einer Geschäftsordnung zu erfolgen hat. Die Abgeordneten haben demnach das Recht, auch in der konstituierenden Sitzung über die Tagesordnung zu bestimmen und dabei sowohl die Gegenstände als auch die Reihenfolge der Tagesordnung festzulegen. Damit ist eine Debatte und Beschlussfassung über eine Änderung der Geschäftsordnung bereits vor der Wahl des Landtagspräsidenten zulässig.“
Die in Art. 40 I 1 GG und in Art. 57 I Thür. Verfassung vorgesehene Wahl des Parlamentspräsidenten lässt es nicht zu, dass eine Fraktion ein bindendes Benennungsrecht hat. Dazu der ThürVerfGH:
S. 24 „Dem Wortlaut („wählt“) ist unmittelbar das zwingende Erfordernis einer Wahl zu entnehmen (zur Wahl als rechtliche Verpflichtung vgl. Bieler/Poschmann/Schulte, in: Dressel/Poschmann [Hrsg.], Die Verfassung des Freistaats Thüringen, Art. 57 Rn. 11 m. w. N.). Dies steht einem Anspruch auf „Wahl“ eines bestimmten Kandidaten entgegen. Dem Begriff der Wahl wohnt inne, eine Entscheidung treffen zu dürfen, d. h. sich auch gegen einen Kandidaten entscheiden zu können. Der Grundsatz der Freiheit der Wahl (vgl. Art. 46 Abs. 1 ThürVerf sowie Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) steht einer Verengung dieser Entschließungsfreiheit entgegen (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 1978 – 2 BvR 134/76 –, BVerfGE 47, 253 [282]). Eine echte Wahl liegt nur dann vor, wenn sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht ge-währleistet sind und die Wahl frei ist. Die Freiheit der Wahl würde untergraben, wenn keine Auswahlmöglichkeiten und ein faktischer Zwang zur Zustimmung bestünde (Hemmer, Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen, S. 56 f. m. w. N.). Die Wahl wäre ihres Sinns entleert, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte (BVerfG, Urteil vom 18. September 2024 – 2 BvE 1/20, 2 BvE 10/21 –, Rn. 118).“
Der ThürVerfGH weist auch die Sichtweise zurück, dass die stärkste Fraktion die Befugnis hat, vorrangige Wahlvorschläge zu machen. Denn – und insoweit verweist das Gericht auf die oben wiedergegebenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – organisatorische Entscheidungen der Fraktionen (wie die Benennung eines Kandidaten zur Wahl des Parlamentspräsidenten) nehmen nicht am Grundsatz der Spiegelbildlichkeit teil:
S. 29/30 „Zu den Statusrechten des Abgeordneten gehört auch das Stimmrecht und insbesondere das Recht, sich an Wahlen zu beteiligen…. Bestandteil dieser Wahlfreiheit ist auch, an Organisationsentscheidungen des Parlaments mitzuwirken, insbesondere durch Beteiligung an Wahlakten innerhalb des Parlaments (BVerfG, Urteil vom 22. März 2022 – 2 BvE 2/20 –, BVerfGE 160, 368 [384]; Urteil vom 18. September 2024 – 2 BvE 1/20, 2 BvE 10/21 –, Rn. 92)…. Insbesondere gilt der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit – wonach grundsätzlich jeder Ausschuss des Parlaments ein verkleinertes Abbild des Plenums sein muss… nicht für Gremien und Funktionen, die lediglich organisatorischer Art sind und daher nicht dem Einfluss des Prinzips gleichberechtigter Teilnahme an den dem Parlament und der Verfassung übertragenen Aufgaben unterliegen…. Das freie Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. Art. 53 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf) begründet folglich für sich genommen keinen Anspruch auf Zugang zu Leitungsämtern, bei denen es nicht zur inhaltlichen Vorformung der parlamentarischen politischen Willensbildung kommt. Die Wahl von Präsident und Stellvertretern kann nicht im Sinne des Benennungsrechts, sondern als Recht jeder Fraktion, einen Abgeordneten zur Wahl zu stellen, verstanden werden (BVerfG, Beschluss vom 22. März 2022 – 2 BvE 9/20 –, BVerfGE 160, 411 [423 f.]; Urteil vom 18. September 2024 – 2 BvE 1/20, 2 BvE 10/21 –, Rn. 96 f.).“
Der Alterspräsident war danach verpflichtet, eine Änderung der Geschäftsordnung schon in der konstituierenden Sitzung des Parlaments zuzulassen. Die AfD als stärkste Fraktion hatte bezogen auf die Wahl des Parlamentspräsidenten keine „Sonderrechte“: Sie hatte Vorschlagsrechte wie jede andere Fraktion auch, wobei die Abgeordneten des Landtags bei der Wahl nicht an Vorgaben gebunden waren.
Zusammengefasst gilt: Die Fraktionsstärke ist bei Geschäftsordnungsbeschlüssen zu berücksichtigen, die den Status der Fraktionen als Träger politischer Willensbildung im Parlament betreffen. Dieser Grundsatz der „Spiegelbildlichkeit“ gilt hingegen nicht bei Entscheidungen des Parlaments, die Leitung und Ablauf parlamentarischer Handlungsschritte betreffen.
(BVerfG Urteil vom 18.09.2024 (2 BvE 1/20, 2 BvE 10/21/ThürVerfGH Beschluss vom 27.09.2024 VerfGH 36/24))
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