Anlässlich einer Unterlassungsklage gegen die Videoüberwachung in einem kommunalen Park waren die damit befassten Gerichte gezwungen, sich mit der Anspruchsgrundlage auseinanderzusetzen. Da die DSGVO in Art. 12-22 zwar Ansprüche auf Auskunft, Berichtigung, Löschung und Einschränkung der Datenverarbeitung aufführt, nicht aber auf Unterlassen einer nach Auffassung eines Klägers rechtswidrigen Datenerhebung, mussten die Gerichte zur Ableitung des Anspruchs Stellung nehmen.
Der BGH hat für vergleichbare Unterlassungsansprüche gegen eine Datenverarbeitung durch Private ein Verfahren ausgesetzt und eine Auslegungsvorlage an den EuGH gestellt (Beschl. vom 26.09.2023 – VI ZR 97/22). Nun mussten sich die Gerichte mit dem öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch befassen.
Die Ausgangsinstanz hat mangels Regelung eines Unterlassungsanspruchs in der DSGVO dem Kläger die Anspruchsgrundlage und damit schon die Klagebefugnis abgesprochen (VG Regensburg, 06.08.2020, RN 9 K 19.1061). Der BayVGH hat den vom VG unterstellten abschließenden Charakter der DSGVO verneint und einen schlichten öffentlich-rechtlichen Abwehr- und Unterlassungsanspruch aus einer Analogie zu § 1004 I 2 BGB abgeleitet (Urteil vom 30.05.2023 – 5 BV 20.2104). Das BVerwG hat unter Verweis auf BVerfGE 152, 152 Rn. 42 (Beschl. vom 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 – „Recht auf Vergessen I“) unmittelbar Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG als Anspruchsgrundlage herangezogen, weil das innerstaatliche Verfassungsrecht durch das Unionsrecht insoweit „nicht vollständig determiniert ist“. Oder schlichter ausgedrückt: Die Grundrechte werden durch das Unionsrecht nur dann verdrängt, wenn das Schutzniveau identisch ist.
A. Vereinfachter Sachverhalt
In der Innenstadt der Stadt B befindet sich ein Park. Durch die Polizei hat der Stadtrat davon Kenntnis genommen, dass in den letzten Jahren jeweils 50-100 Straftaten mit örtlichem Bezug zum Park gemeldet wurden (Körperverletzung, Beleidigung, Bedrohung, Rauschgiftkriminalität, Eigentumsdelikte und Sachbeschädigung). Auf der Grundlage des Landesdatenschutzgesetzes entschied sich der dafür zuständige Rat daraufhin für eine Videoüberwachung, „um Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum von Personen, die sich im Bereich öffentlicher Einrichtungen oder sonstiger baulicher Anlagen öffentlicher Stellen aufhalten, zu schützen“ (so die Ermächtigungsgrundlage in Art. 24 I Nr. 1 BayDSG). Von einer näheren Dokumentation der Vorfälle wurde abgesehen.
K durchquert täglich den Park auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstelle. Er ist der Auffassung, dass eine Videoüberwachung angesichts der Anzahl der festgestellten Delikte unverhältnismäßig ist, zumal der Rat keine Regelung über die Löschung der Bilddaten getroffen hat und die Anzahl der Verstöße durch die Maßnahme offenbar nicht zurückgegangen ist. Deshalb hat K gegen B Klage vor dem Verwaltungsgericht auf Unterlassen erhoben.
Mit Erfolg?
B. Entscheidung
Die Unterlassungsklage hat Erfolg, weil sie zulässig und begründet ist.
I. Zulässigkeit
1. Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts
Das angerufene Verwaltungsgericht verweist den Rechtsstreit, wenn der Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet ist (§ 17a II GVG) oder wenn es sachlich nicht zuständig ist (§ 83 VwGO).
a) Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 I VwGO in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten eröffnet, sofern nicht abdrängende Sonderzuweisungen eingreifen oder der Rechtsstreit zwischen am Verfassungsleben beteiligten Stellen über Fragen des Verfassungsrechts geführt wird. Das Begehren des Klägers steht im Sachzusammenhang zum Betrieb einer kommunalen Einrichtung. Die Daseinsvorsorge durch eine Gemeinde beurteilt sich nach öffentlichem Recht (Gemeindeordnung), sofern nicht ausdrücklich Handlungsformen des Privatrechts gewählt worden sind. Letzteres ist hier nicht ersichtlich.
b) Sachlich zuständig ist das angerufene Verwaltungsgericht (§ 45 VwGO), der Rechtsstreit ist nicht nach §§ 47, 48 VwGO dem OVG oder nach § 50 VwGO dem BVerwG zugewiesen.
2. Beteiligte
Parteien des Rechtsstreits sind K als Kläger und die Stadt B als juristische Person des öffentlichen Rechts. Ausnahmsweise kommt eine Klage unmittelbar gegen den Bürgermeister in seiner Zuständigkeit als Vertreter einer Gemeinde im Prozess in Betracht, wenn das Landesrecht in Ausführung des § 61 Nr. 3 VwGO ausdrücklich Behörden als beteiligungsfähig bezeichnet.
3. Klageart
Klageart könnte eine allgemeine Leistungsklage sein. Leistungsklagen kommen in Betracht, wenn der Beklagte zu einem Tun oder Unterlassen verurteilt werden soll (vgl. zum Leistungsbegriff § 241 BGB). Von diesem weiten Leistungsbegriff gehen etwa §§ 43 II 2, 111, 113 IV VwGO aus. Besteht die erstrebte Leistung im Erlass eines Verwaltungsaktes, kommt die Verpflichtungsklage als besondere Ausgestaltung einer Leistungsklage zur Anwendung, in allen übrigen Fällen eines Leistungsbegehrens verbleibt es bei der allgemeinen Leistungsklage. Dies gilt namentlich auch für Unterlassungsbegehren, unabhängig davon, ob es sich auf einen Verwaltungsakt oder – wie im vorliegenden Fall – auf ein schlichtes Verwaltungshandeln bezieht.
4. Besondere Sachentscheidungsvoraussetzungen
Besondere Sachurteilsvoraussetzungen benennt das Gesetz für die allgemeine Leistungsklage nicht. Da jedoch niemand einen „allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch“ haben kann und deshalb nicht jede öffentlich-rechtliche Bindung der Verwaltung gerichtlich durchzusetzen vermag, gilt der in § 42 II VwGO zum Ausdruck kommende allgemeine Rechtsgedanke auch für die allgemeine Leistungsklage.
Die Klagebefugnis entfällt nur dann, wenn es auszuschließen ist, dass der Kläger ein subjektives Recht hat und in diesem Recht verletzt sein kann. Zwar erwähnt Art. 79 I DSGVO Datenschutzansprüche nur insoweit, als sie auf der DSGVO beruhen. Auch wenn das Unionsrecht dem nationalen Recht vorgeht, folgt daraus nicht ohne weiteres, dass das – immerhin verfassungsrechtlich gewährleistete – Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG ausgeschlossen ist. Das aber reicht aus, um die von § 42 II VwGO geforderte „Möglichkeit einer Rechtsverletzung“ anzunehmen.
II. Begründetheit
Die Klage ist begründet, wenn dem Kläger der geltend gemachte Anspruch zusteht.
1. Anspruchsgrundlage
Die Ableitung eines schlichten öffentlich-rechtlichen Abwehr- und Unterlassungsanspruchs ist problematisch, weil eine einfachgesetzliche Regelung für das öffentliche Recht fehlt.
a) Der BayVGH (Urteil vom 30.05.2023 – 5 BV 20.2104) sieht in Art. 79 I DSGVO keine Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten und führt zur Anspruchsgrundlage aus:
Rn. 29 „Art. 79 Abs. 1 DSGVO ist keine Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten im Hinblick auf eine Unterlassungsklage nach § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG gegen eine rechtswidrige Datenverarbeitung zu entnehmen (ebenso Nemitz in Ehmann/Selmayr, DSGVO, Art. 79 Rn. 3 und 5; Schaffland/Wiltfang, DSGVO, 9. EL 2022, Art. 79 Rn. 1 und 1c m.w.N.; Martini in Paal/Pauly, a.a.O., Art. 79 Rn. 17; LG Frankfurt, B.v. 15.10.2020 – 2-03 O 356/20; LG Darmstadt, U.v. 26.5.2020 – 13 O 244/19; Boehm in Simitis/Hornung/Spiecker, DSGVO, 1. Aufl. 2019, Art. 79 Rn. 10).“
Rn. 33 „Die Videoüberwachung … stellt eine Datenverarbeitung im Sinne der DSGVO dar. Sie bedarf einer Rechtfertigung entsprechend den Bestimmungen in Art. 6 DSGVO, da nach Art. 6 Abs. 1 DSGVO die Verarbeitung personenbezogener Daten nur rechtmäßig ist, wenn mindestens eine der in Abs. 2 geregelten Bedingungen erfüllt ist. Da die Voraussetzungen des auf der Rechtsgrundlage von Art. 6 Abs. 2 Buchst. e, Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO erlassenen Art. 24 Abs. 1 BayDSG für die Videoüberwachung …. aber nicht vorliegen und Wiederholungsgefahr besteht, hat der Kläger einen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG wegen Eingriffs in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht, hier in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung.“
b) Das BVerwG als Revisionsgericht (Beschl. vom 02.05.2024 – 6 B 66/23) leitet demgegenüber den schlichten öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch unmittelbar aus den betroffenen Grundrechten ab, zumal die Grundrechte als subjektive Rechte Anspruchsqualität haben und vor hoheitlichen Eingriffen schützen, unabhängig davon, ob der Eingriff zielgerichtet oder faktisch durch schlichtes Verwaltungshandeln erfolgt.
Bezogen auf das Nebeneinander von DSGVO und Grundrechten bezieht sich das BVerwG auf die Entscheidung des BVerfG zum Persönlichkeitsschutz beim „Recht auf Vergessen“ (BVerfGE 152, 152 Rn. 41-43). Dort wurde ausgeführt, dass der nationale Gesetzgeber bei Ausfüllung der Eingriffsrechtfertigung nach Art. 6 III 1 b) DSGVO weiterhin an die Grundrechte gebunden ist. Mit der vorliegenden Entscheidung dehnt das Gericht diesen Gedanken auch auf die grundrechtliche Anspruchsgrundlage aus, sodass die Heranziehung von Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG als Anspruchsgrundlage nicht an der DSGVO scheitern kann.
Rn. 10 „Für die in Rede stehende Videoüberwachung stützt sich die Beklagte auf Art. 24 des Bayerischen Datenschutzgesetzes vom 15. Mai 2018 (GVBl. S. 230 - BayDSG). Hierbei handelt es sich um eine mitgliedstaatliche Rechtsgrundlage, die den Erlaubnistatbestand des Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO festlegt (Art. 6 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO). … Insofern hat der Bayerische Landesgesetzgeber hiermit im Anwendungsbereich der Datenschutz-Grundverordnung von den ihm eröffneten Gestaltungsspielräumen Gebrauch gemacht.
Deshalb ist das innerstaatliche Recht ebenso wie seine Anwendung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist innerstaatliches Recht und dessen Anwendung, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, dabei aber - wie hier - durch dieses nicht vollständig determiniert ist, am Maßstab des Grundgesetzes zu messen. Die Bindung an die Grundrechte ist danach ein Korrelat der politischen Entscheidungsverantwortung, entspricht also der jeweiligen legislativen und exekutiven Verantwortung. Die Beachtung der Grundrechte bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung haben die deutschen Gerichte und insbesondere das Bundesverfassungsgericht zu gewährleisten (BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 - BVerfGE 152, 152 Rn. 42 “Recht auf Vergessen I”).“
Rn 11 „Die Grundrechte schützen den Bürger aber bereits als solche in ihrer abwehrrechtlichen Dimension vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen jeder Art, auch solchen durch schlichtes Verwaltungshandeln (Verwaltungsrealakt). Infolgedessen kann der Bürger, wenn ihm eine derartige Rechtsverletzung droht, unmittelbar gestützt auf das jeweils berührte Grundrecht Unterlassung verlangen, sofern ihm das einfache Gesetzesrecht keinen solchen Anspruch vermittelt (vgl. dazu vor Geltung der Datenschutz-Grundverordnung: BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2012 - 6 C 9.11 - BVerwGE 141, 329 Rn. 22 “Hamburger Reeperbahn”). Dem Kläger steht deshalb das von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zur Seite und vermittelt ihm einen subjektiv-öffentlichen Unterlassungsanspruch gegen die Beklagte. Ob sich der Kläger ergänzend auch auf einen im europäischen Recht wurzelnden Unterlassungsanspruch berufen könnte, wie ihn das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs thematisiert, bedarf vorliegend keiner Klärung.“
2. Anspruchsvoraussetzungen
Voraussetzung ist, dass durch die Videobeobachtung ein Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht erfolgt, der andauert. Das ist der Fall. Voraussetzung ist weiter, dass der Eingriff nicht gerechtfertigt ist. Insoweit kommt es für den danach erforderlichen Gesetzesvorbehalt weiterhin auf die Regelung der Duldungspflichten im nationalen Recht an, hier also auf Art. 24 I Nr. 1 BayDSG (vgl. Art. 6 III 1 Buchst. b DSGVO).
Der BayVGH hat den danach erforderlichen Gefahrentatbestand als nicht erfüllt angesehen:
Rn. 50 Die Vorfallzahlen „belegen eine relativ geringe Dichte von Straftaten, Ordnungswidrigkeiten und Verstößen … im K…Garten, nämlich 74 im Jahr, also nur ca. einen polizeilich dokumentierten Vorfall alle fünf Tage. Auch ist nicht dokumentiert, von welcher Art und Schwere die einzelnen Vorfälle waren (z.B. Schwere der Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte).“
Rn. 51 „Nach Einführung der Videoüberwachung trat keine nennenswerte Veränderung der Zahl der Vorfälle ein.“
Rn. 52 „Diese Entwicklung der relevanten Vorfälle zeigt, dass es nicht nur an der Erforderlichkeit der Videoüberwachung, sondern größtenteils auch an der Geeignetheit der Videoüberwachung, d.h. an ihrer Wirksamkeit und Effizienz zur Gefahrenabwehr fehlt“.
Rn. 55 „Die Gefahrensituation im Hinblick auf den Schutz der in Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 BayDSG genannten Rechtsgüter ist von der Beklagten nicht ausreichend dargelegt bzw. durch Dokumentationen und Belege untermauert worden.“
Rn. 63 „Dabei ist zu beachten, dass die Beklagte sich nicht auf die bloße Aufzeichnung von Bildern, die nur anlassbezogen ausgewertet werden, beschränkt, sondern auch die zeitgleiche, dauerhafte Beobachtung über einen Monitor ermöglicht. Im Verhältnis der bloßen Beobachtung durch … Personen … stellt eine Videobeobachtung gegenüber dem menschlichen Auge eine großflächigere und intensivere Beobachtung auch bei schwierigen Lichtverhältnissen dar…. Durch die zusätzliche Aufzeichnung des gewonnenen Bildmaterials werden die beobachteten Lebensvorgänge zudem technisch fixiert und können in der Folge abgerufen, aufbereitet und ausgewertet werden.“
Rn. 65 „In der Gesamtabwägung der geschilderten Gefahrensituation für die in Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BayDSG genannten Rechtsgüter einerseits und der Intensität des Eingriffs in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG andererseits ist die von der Beklagten vorgenommene großflächige Videoüberwachung … nicht gerechtfertigt; es ist bereits nicht nachvollziehbar, dass sie geeignet und erforderlich wäre. Auch ist sie im Hinblick auf die schutzwürdigen Belange der Besucher des Gartens nicht verhältnismäßig im engeren Sinn, d.h. nicht angemessen.“
Mangels Duldungspflicht greift der grundrechtliche Unterlassungsanspruch durch.
Ergebnis
Die Stadt wird verpflichtet, die Videobeobachtung zu unterlassen.
(Beschl. vom 02.05.2024 – 6 B 66/23)
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