BVerfG zur Verantwortlichkeit des Kfz-Halters bei Verkehrsverstößen

BVerfG zur Verantwortlichkeit des Kfz-Halters bei Verkehrsverstößen

Verstöße gegen die StVO werden von den zuständigen Bußgeldstellen in aller Regel allein auf der Beweisgrundlage verfolgt, dass das Kraftfahrzeug an der fraglichen Stelle fotografiert wurde und das Foto im Anschluss daran als einziges Beweismittel verwendet wird. Wird Einspruch gegen die Bußgeldbescheide eingelegt, stützen die Amtsgerichte ihre Entscheidungen auf diese Beweislage. Das BVerfG hat im Anschluss an seine Entscheidung vom 31.08.1993 (2 BvR 843/93) erneut klargestellt, dass selbst in Bagatellfällen eine solche Beweisführung eine Verurteilung nicht tragen kann.

A. Vereinfachter Sachverhalt

B ist Halter eines Kraftfahrzeugs, das von der Polizei in einer Parkzone (Zeichen 314 Anl. 3 StVO) mit Zusatzzeichen Bild 318 (Parkscheibe) fotografiert worden ist – einschließlich der hinter der Windschutzscheibe liegenden Parkscheibe. Danach war im Zeitpunkt der Aufnahme die zulässige Parkdauer bereits zwei Stunden überschritten. Gegen den Bußgeldbescheid legte B rechtzeitig Einspruch ein. In der Verhandlung vor dem Amtsgericht hat B geschwiegen. Die Feststellungen zur Person basierten auf den Angaben im Bußgeldbescheid, die er bestätigte, und auf der verlesenen Auskunft des Fahreignungsregisters. Die Feststellungen zur Sache beruhten auf den verlesenen Angaben im Bußgeldbescheid, den Lichtbildern sowie dem Umstand, dass B der Halter des Fahrzeugs ist.

Das Amtsgericht verhängte gegen B eine Geldbuße in Höhe von 30 Euro wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstparkdauer. Sein Rechtsmittel (Rechtsbeschwerde) wurde vom OLG nicht zugelassen. B hat umgehend Verfassungsbeschwerde gegen die amtsgerichtliche Entscheidung erhoben und eine Verletzung des Art. 3 I GG geltend gemacht. Er sieht sich einer willkürlichen Rechtsanwendung dadurch ausgesetzt, dass auf seine Täterschaft trotz Fehlens entsprechender Beweise geschlossen worden sei.

Wie wird das BVerfG entscheiden?

B. Entscheidung

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

1. Zuständigkeit des BVerfG

Das BVerfG ist nur zuständig, wenn ihm ein Verfahren ausdrücklich zugewiesen ist. Dazu zählt die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG.

2. Zulässigkeitsvoraussetzungen

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Verfassungsbeschwerde richten sich nach §§ 13 Nr. 8a, 90 ff BVerfGG.

a) Streitgegenstand

Streitgegenstand kann jede Maßnahme der öffentlichen Gewalt und damit auch eine Entscheidung eines Gerichts sein. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil des in der Bußgeldsache zuständigen Amtsgerichts (vgl. § 67 OWiG).

b) Beschwerdebefugnis

Die Beschwerdebefugnis setzt voraus, dass der Antragsteller B behaupten kann, durch den angegriffenen Hoheitsakt selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem Grundrecht oder in einem durch Art. 93 I Nr. 4a GG gleichgestellten Recht betroffen zu sein. Gerichtsentscheidungen beruhen auf einer Rechtsanwendung. Wird nur die Belastung durch die fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts und die daraus folgende Grundrechtsverletzung gerügt, reicht dies für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde nicht aus. Es bedarf der Behauptung einer spezifischen Grundrechtsverletzung.

Dazu führt das BVerfG (Beschluss vom 17.05.2024 – 2 BvR 1457/23) in Rn. 11 aus:

„Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind zwar Sache der dafür zuständigen Gerichte und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen; ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt jedoch unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht (vgl. BVerfGE 74, 102 <127>; stRspr). Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Von einer willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 4, 1 <7>; 74, 102 <127>; 83, 82 <84>; 87, 273, 278 f.>; 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>; stRspr). Dieser Maßstab gilt auch für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und der von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen (vgl. BVerfGE 4, 294 <297>; 96, 189 <203>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. März 2023 – 1 BvR 1620/22 –, Rn. 10 m.w.N.).“

B rügt eine willkürliche Rechtsanwendung durch das Amtsgericht, weil trotz Fehlens entsprechender Beweise auf seine Täterschaft geschlossen worden sei.

c) Rechtswegerschöpfung

Der Rechtsweg ist erschöpft, nachdem die B erfolglos Rechtsbeschwerde an das OLG eingelegt hat (vgl. §§ 304, 310 StPO).

d) Frist

Die Frist zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde beträgt bei Gesetzen ein Jahr (§ 93 III BVerfGG), sonst – so bei Entscheidungen der Gerichte – ein Monat, sie wurde eingehalten.

II. Begründetheit

Das BVerfG hebt die angegriffene Entscheidung auf, wenn sie die Grundrechte des B verletzt (§ 95 II BVerfGG). In Betracht kommt ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG. Bei der Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch das BVerfG kommt es darauf an, ob die beanstandete Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Gerichtsverfahren bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht. So liegen die Dinge nach BVerfG im vorliegenden Fall, in dem es zu einer Verurteilung gekommen ist, ohne dass Beweismittel vorgelegen haben (Beschluss vom 17.05.2024 – 2 BvR 1457/23 – Rn. 13):

„Nach § 49 Abs. 1 Nr. 13 Variante 3 StVO handelt ordnungswidrig im Sinne des § 24 StVG, wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen eine Vorschrift über Parkscheiben nach § 13 Abs. 1 oder Abs. 2 StVO verstößt. Das Amtsgericht hat seine Feststellungen zur Sache allein auf die verlesenen Angaben im Bußgeldbescheid, auf Lichtbilder des Fahrzeugs sowie auf den Umstand gestützt, dass der Beschwerdeführer der Halter des in Rede stehenden Fahrzeugs sei. Damit hat das Amtsgericht zu dem Verkehrsverstoß, der dem Beschwerdeführer angelastet wird, in seiner Person weder ein aktives Tun noch ein Begehen durch Unterlassen festgestellt. Die Angaben im Bußgeldbescheid – wie auch die Lichtbilder, die allein das Fahrzeug des Beschwerdeführers zeigen – haben bezüglich der Frage, ob der Beschwerdeführer das Fahrzeug bei der bestimmten Fahrt auch tatsächlich geführt hat, keinerlei Aussagekraft. Der Beschwerdeführer hat zu dem ihn betreffenden ordnungswidrigkeitenrechtlichen Vorwurf geschwiegen. Auch aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer Halter des in Rede stehenden Pkws ist, darf bei Fehlen jedes weiteren Beweisanzeichens nicht auf dessen Täterschaft geschlossen werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 - 2 BvR 843/93; BGHSt 25, 365 <367 ff.>; vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 20. November 1973 - 2 Ss OWi 1374/73, S. 249; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26. Februar 2020 - IV-2 RBs 1/20; Fromm, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Aufl. 2021, § 61 OWiG Rn. 1; Tiemann, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, § 261 StPO Rn. 57).“

Somit stellt das BVerfG fest, dass das angegriffene Urteil des Amtsgerichts den Beschwerdeführer B in seinem Grundrecht aus Art. 3 I GG verletzt (vgl. § 93c II i.V.m. § 95 I 1 BVerfGG). Die angegriffene Entscheidung wird vom BVerfG aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (vgl. § 93c II i.V.m. § 95 II BVerfGG). Der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln über die Rechtsbeschwerde ist damit gegenstandslos.

(BVerfG Beschluss vom 17.05.2024, 2 BvR 1457/23)

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