Nach welchen Kriterien bestimmt sich der gewöhnliche Aufenthalt und was hat das sogenannte Zerrüttungsprinzip im Eherecht damit zu tun?
In einem Streit um die Scheidung eines Diplomaten-Ehepaars musste der BGH den EuGH anrufen, um das auf die Scheidung anwendbare Recht bestimmen zu können. Der EuGH muss nun die Frage klären, ob die Entsendung als Diplomat die Annahme eines „gewöhnlichen Aufenthalts“ beeinflussen kann.
Worum geht es?
Die beiden Eheleute sind seit 1989 verheiratet und deutsche Staatsangehörige. Sie besitzen beide einen Diplomatenpass. Zunächst lebten sie einige Jahre gemeinsam in einer Wohnung in Berlin, die sie im Jahr 2006 angemietet hatten. 2017 zogen sie nach Stockholm, da der Ehemann dort an der Deutschen Botschaft arbeitete. Ihren Wohnsitz in Berlin meldeten sie daher ab, behielten aber die Wohnung in Berlin für den Fall einer späteren Rückkehr nach Deutschland. Als der Ehemann an die Deutsche Botschaft nach Moskau versetzt wurde, zogen die beiden im September 2019 mit ihrem gesamten Hausstand von Stockholm nach Moskau in eine Wohnung auf dem Compound der Botschaft, einem Botschaftskomplex.
Im Januar 2020 reiste die Ehefrau für eine Operation nach Berlin. Als sie im Februar 2021 zurück nach Moskau kehrte und zunächst wieder in der Wohnung auf dem Botschaftskomplex wohnte, teilten die Eheleute ihren beiden Kindern mit, dass sie sich scheiden lassen wollten. Die Ehefrau reiste daher Ende Mai 2021 ab und lebte fortan in der Berliner Mietwohnung, während ihr Ehemann in Moskau blieb. Im Juli 2021 beantragte der Ehemann beim Amtsgericht Berlin-Kreuzberg die Scheidung. Die Frau widersprach dem Antrag, da sie sich erst im Mai 2021 offiziell getrennt hätten.
Im Eherecht gilt das Zerrüttungsprinzip
Das Amtsgericht wies den Scheidungsantrag zurück, da für die Scheidung nach deutschem Recht ein Trennungsjahr erforderlich sei und dieses noch nicht abgelaufen sei. Im Eherecht gilt nämlich das sogenannte Zerrüttungsprinzip: Es geht also darum, ob die Ehe gescheitert ist. Dies wird vermutet, wenn die Ehepartner ein Jahr lang getrennt gelebt haben, § 1565 BGB. Ein solches Trennungsjahr haben die beiden jedoch nicht durchlebt. Darüber hinaus seien keine Gründe für einen Härtefall ersichtlich gewesen. Der Ehemann legte Beschwerde ein und der Fall nahm plötzlich eine überraschende Wendung: Die Scheidung ging am Kammergericht dann plötzlich doch durch – allerdings nicht nach deutschem Recht, sondern nach russischem Sachrecht. Zur Begründung führte das Kammergericht aus, dass sich das auf die Ehescheidung anzuwendende Recht nach Art. 8 Rom III-VO richte, weil eine Rechtswahl gemäß Art. 5 Rom III-VO nicht erfolgt sei.
Wo ist der gewöhnliche Aufenthaltsort?
Bei der Rom III-VO handelt es sich um eine Verordnung, die regelt, welches Recht im Falle einer Ehescheidung in Fällen mit Auslandsbezug zur Anwendung kommt. Haben die Ehegatten keine einvernehmliche Rechtswahl getroffen, soll nach der Rom III-VO ihre Scheidung dem Recht des Staates unterfallen, in dem die Ehegatten zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Nach Ansicht des Kammergerichts Berlin finde im vorliegenden Fall daher Art. 8 lit. B Rom III-VO und damit das russische Sachrecht Anwendung, weil nach dem Vortrag der Eheleute davon auszugehen sei, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Ehemanns in Moskau sei, während der dortige gewöhnliche Aufenthalt der Ehefrau erst mit ihrer Abreise nach Deutschland im Mai 2021 geendet habe. Und da sie keinen Versorgungsausgleichs beantragt habe, müsse dieser nach Art. 17 IV 2 EGBGB auch nicht durchgeführt werden.
Hiergegen legte die Ehefrau Rechtsbeschwerde beim BGH ein. Sie strebt damit eine Entscheidung nach deutschem Recht und zusammen mit dem Scheidungsausspruch eine nach §§§ 137 I, II, 142 I 1 FamFG von Amts wegen im Scheidungsverbund zu treffende Entscheidung über den Versorgungsausgleich an.
Der BGH hat das Verfahren jedoch zunächst ausgesetzt und den EuGH angerufen: Der EuGH soll nun klären, nach welchen Kriterien der gewöhnliche Aufenthalt der Eheleute im Sinne des Art. 8 lit. a und b Rom III-VO zu bestimmen ist. Insbesondere geht es dabei aber auch um die Frage, ob die Entsendung als Diplomat die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts beeinflusse oder sogar ausschließe. Zudem fragt der BGH, ob sich die Eheleute in einem Staat für eine „gewisse Dauer“ aufhalten und zu einem „gewissen Maß“ sozial und familiär integriert sein müssten, um dort einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen.
Ein spannender Fall aus dem Familienrecht mit europarechtlichem Einschlag.
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