BVerfG: Bemerkungen über die Nichtbewertung von schulischen Leistungen

BVerfG: Bemerkungen über die Nichtbewertung von schulischen Leistungen

Ein Verstoß gegen Art. 3 III 2 GG?

Egal, wie lang es her sein mag: jeder hat noch die ein oder andere Anekdote aus der Schulzeit auf Lager. Während die einen in positiven Erinnerungen schwelgen können, mochte dies den Beschwerdeführern wohl nur eingeschränkt gelingen. Jedenfalls dürfte die Konfrontation mit dem jahrelangen Rechtsstreit um Vermerke in ihren Abiturzeugnissen einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen haben. Mehr als 13 Jahre nach dem Abitur brachte das BVerfG nun Klarheit in das Durcheinander um die Bemerkungen zur Nichtbewertung von schulischen Leistungen.

Sachverhalt und Instanzenzug

Die Beschwerdeführer leiden unter fachärztlich diagnostizierter Legasthenie und gehören somit zu den rund 10% der Deutschen, die laut dem deutschen Legasthenieverband von einer Lese- und Rechtschreibschwäche betroffen sind. Sie absolvierten ihr Abitur in Bayern im Jahr 2010 erfolgreich, wobei bei der Benotung der erbrachten Prüfungsleistungen eine Bewertung der Rechtschreibleistungen nicht bzw. nur eingeschränkt stattfand (sog. „Notenschutz“). Dies entsprach der damaligen bayerischen Verwaltungspraxis und wurde so von den ehemaligen Schülern unter Beibringung eines fachärztlichen Attests beantragt. Der hieraus erwachsende andere Bewertungsmaßstab spiegelte sich jeweils in Bemerkungen in den individuellen Abiturzeugnissen wider.

Demgegenüber wurde bei Schülern, deren Einzelleistungen aus anderen Gründen nicht bewertet wurde, entsprechend der früheren Verwaltungspraxis kein solcher Zusatz in das Abiturzeugnis aufgenommen. Die Abiturienten wandten sich hiergegen zunächst auf dem Verwaltungsrechtsweg.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof entschied 2014, dass den heutigen Beschwerdeführern neue Abiturzeugnisse ohne einen Hinweis auf die Nichtbewertung der Rechtschreibleistung auszustellen sind. Sie stellten dabei auf die Bedeutung des Abiturs für den beruflichen Werdegang ab und wiesen auf das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für den Vermerk hin.

Das BVerwG kam 2015 zwar ebenfalls zur Rechtswidrigkeit des Hinweises im Abiturzeugnis. Allerdings sah es darüber hinaus auch den Notenschutz selbst als rechtswidrig an, weil es auch hierfür einer gesetzlichen Grundlage bedürfe. Die Krux dabei: Die Abiturienten könnten nach Ansicht des Senats nicht die Streichung des Hinweises aus dem Abiturzeugnis verlangen und sich gleichzeitig auf die tatsächlich gewährte, aber rechtswidrige Nichtberücksichtigung ihrer Rechtschreibleistung berufen, weil dadurch auch die Note rechtswidrig zustande gekommen sei. Folglich sprach das BVerwG den heutigen Beschwerdeführern keinen Anspruch auf Erteilung eines neuen Abiturzeugnisses zu. Hiergegen richteten sich die Beschwerdeführer mit ihren Verfassungsbeschwerden, da sie in der Zeugnisbemerkung unter anderem einen Verstoß gegen das Verbot der Benachteiligung von behinderten Personen aus Art. 3 III 2 GG sahen.

Entscheidung des BVerfG

Das BVerfG hielt die Verfassungsbeschwerden im Ergebnis für begründet und hob die Entscheidungen des BVerwG gem. § 95 II BVerfGG auf, sodass die Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof rechtskräftig werden.

Zunächst stellte das Gericht fest, dass es sich bei der Legasthenie um eine Behinderung gem. Art. 3 III 2 GG handelt, die vorliegt, „wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung langfristig beeinträchtigt ist.“ Da es sich bei der Legasthenie nicht um eine lediglich geringfügige Beeinträchtigung handele, bei der die Defizite beim Lesen und Schreiben auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung beruhe, lägen die genannten Voraussetzungen vor.

Der Senat bildete gegenüber den legasthenen Schülerinnen und Schülern drei Vergleichsgruppen:

  1. Schülerinnen und Schüler, deren Rechtschreibung regulär bewertet wurde (Vergleichsgruppe 1)

  2. Schülerinnen und Schüler, deren Rechtschreibung und sonstige Prüfungsleistungen aufgrund einer anderen Behinderung nicht bewertet wurde, wobei jedoch kein Zeugnisvermerk auf diesen Umstand hinweist (Vergleichsgruppe 2)

  3. Alle anderen Schülerinnen und Schüler, bei denen die Nichtbewertung der Rechtschreibleistung aufgrund des Ermessens der einzelnen Lehrer erfolgt ist, ohne dass ein Vermerk hierüber geführt wurde

In Bezug auf alle drei Gruppen liege eine Ungleichbehandlung der Betroffenen vor, die jedoch nur in Hinblick auf die Vergleichsgruppe 1 gerechtfertigt sei. Hinsichtlich der beiden weiteren Vergleichsgruppen sei die diskriminierende Verwaltungspraxis aus dem Jahr 2010 unzumutbar.

Das Abiturzeugnis diene gem. Art. 7 I GG i.V.m. Art. 12 I GG und Art. 3 I GG einem legitimen Ziel mit Verfassungsrang, da es allen Schülerinnen und Schülern gleiche Chancen eröffnen soll, entsprechend ihrer Fähigkeiten einen Beruf zu finden. Dem werde der Gesetzgeber in gesteigertem Maße gerecht, wenn bei der Notenvergabe für alle Prüflinge dieselben Anforderungen an ihre im Unterricht erworbenen Kompetenzen gestellt würden. „Ist aus dem Abschlusszeugnis nicht erkennbar, dass im Einzelfall abweichend von den allgemeinen Prüfungsanforderungen von einer Bewertung von Kompetenzen abgesehen wurde, bescheinigt das Zeugnis Leistungen, die so tatsächlich nicht erbracht wurden; es ist insoweit unwahr.“ Da der Zeugnisvermerk dies gerade vermeide, sei er geeignet, dem legitimen Zweck zu dienen.

Die Ungleichbehandlung sei auch erforderlich, da es an milderen, gleich geeigneten Mitteln beispielsweise in Form von schulischen Fördermaßnahmen fehle, die die Beeinträchtigung gegenüber den Mitschülern effektiv beseitigen könne.

Der Zeugnisvermerk ist nach Ansicht des BVerfG auch generell angemessen. Zwar führe er dazu, dass die Defizite der legasthenen Schülerinnen und Schüler offengelegt würden, wodurch sich die Erfolgschancen bei Bewerbungen möglicherweise verschlechterten. Allerdings hätten sich die Betroffenen mit ihrem Antrag bewusst und frei zur Nichtbewertung ihrer Rechtschreibleistung entschieden. Es sei davon auszugehen, dass jeder einzelne Antragsteller vor diesem Schritt bei einer eigenen Prognose die Vorteile der Nichtberücksichtigung der Rechtschreibleistung in Bezug auf die Note gegenüber der Offenlegung der Behinderung abgewogen habe und zu einem Überwiegen des Nutzens gekommen sei.

Wegen der Stellung des Abiturs als allgemein anerkannter Qualifikationsnachweis sei die Offenlegung der Nichtbewertung einzelner Leistungen sogar verfassungsrechtlich geboten, um einen möglichst schonenden Interessenausgleich herzustellen. Insofern falle dem öffentlichen Interesse an der Herstellung von Transparenz über die in Wirklichkeit erbrachten Leistungen ein höheres Gewicht gegenüber dem Interesse der Betroffenen zu.

Da sich diese Argumentation nicht auf die Fallgruppen 2 und 3 übertragen lasse, fehle es diesbezüglich an einer Rechtfertigung. Somit läge eine Diskriminierung im Sinne des Art. 3 III 2 GG gegenüber anderen Schülern vor, deren Rechtschreibleistungen nicht bewertet wurden, ohne dass dies Eingang in das Abiturzeugnis gefunden hätte.

Für die Beschwerdeführer nahm die jahrelange juristische Odyssee somit noch ein gutes Ende, da sie ihre vermerkfreien Abiturzeugnisse erhalten werden. Alle zukünftigen Abiturienten, die unter entsprechenden Einschränkungen leiden, können allerdings damit rechnen, dass sich nicht nur der bayerische Gesetzgeber der Sache annehmen wird. Gestärkt durch die Erwägungen des Senats dürfte dies nun argumentativ jedenfalls leichter möglich sein.

Ausblick

Der Notenschutz bietet schon wegen der unterschiedlichen Vergleichsgruppen einen schönen, modernen Fall zum Art. 3 GG. Aufgrund der Bedeutung der Verfassungsbeschwerde von den frühen Semestern bis hin zum ersten Examen lässt sich die nicht nur für bayerische Studenten relevante Thematik wunderbar in Klausuren prüfen. Diejenigen, die sich aktuell im Referendariat befinden, brauchen sich um die Verfassungsbeschwerde (zum Glück) keine Sorgen mehr machen. Das allseits beliebte Schulrecht kann einem jedoch auch in verwaltungsgerichtlicher, behördlicher oder anwaltlicher Einkleidung begegnen.