AG Lübeck zum Wildpinkeln

AG Lübeck zum Wildpinkeln

Ungestörtes Urinieren bei Meeresrauschen?

Besonders unter Männern ist Wildpinkeln in der Natur keine Seltenheit. Dass sich ein Herr, der dabei erwischt wird, gegen den Bußgeldbescheid öffentlichkeitswirksam zur Wehr setzt, ist wohl als ungewöhnlich anzusehen. Gänzlich außergewöhnliche Züge nimmt der Fall nun jedoch nicht nur wegen des Ortes des Geschehens an, sondern auch durch die Art und Weise, wie das Gericht seine rechtlichen und tatsächlichen Überzeugungen sprachlich verpackt.

Sachverhalt

Das Setting dieses skurrilen Falles könnte kaum malerischer sein: eine Gruppe Menschen sitzt an einem Sommerabend zusammen am Strand, vor ihnen die Ostsee. Man kann die frische Luft riechen und das Rauschen des Meeres hören. Es dämmert und wird immer dunkler, aber das soll die Runde nicht weiter stören. Schließlich war es dann gegen halb 1 soweit, als einen unter ihnen ein höchst menschliches Bedürfnis plagte: er musste dringend Wasser lassen. Mangels einer nahen Toilette entschied sich der Herr kurzerhand dazu, sich mit dem Rücken zum Strand zu positionieren und den Dingen dort am Spülsaum der Ostsee, ungefähr 20 Meter von den Freunden seinen natürlichen Lauf zu lassen. Ungestört blieb er dabei allerdings nicht. Das Ordnungsamt der Hansestadt Lübeck wurde auf den Vorgang aufmerksam und belegte den Mann wegen eines Verstoßes gegen § 118 OWiG wegen der Belästigung der Allgemeinheit mit einer Geldbuße von 60 Euro.

Nach § 118 OWiG handelt derjenige ordnungswidrig, der eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen.

Dies wollte der Betroffene nicht auf sich sitzen lassen und legte Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Dies mündete schließlich im gerichtlichen Verfahren vor dem AG Lübeck, das sich bei der Wahrheitsfindung nicht nur aus rechtlichen Gesichtspunkten alle Mühe gab.

Entscheidung des AG Lübeck

Das AG Lübeck sprach den Betroffenen frei, denn aus seiner Sicht sei das Urinieren als „naturrechtlich verankerte menschliche Willensbetätigung“ von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt und verwirkliche unter den konkreten Umständen gerade nicht den Tatbestand des § 118 OWiG.

Der Vorgang des Urinierens habe bereits nicht die Qualität einer grob ungehörigen Handlung erreicht, die dadurch gekennzeichnet werde, dass sie sich nicht in die Ordnung einfüge, die für ein gedeihliches Zusammenleben nach aktuellem Verständnis erforderliche sei und in einem Maße den anerkannten Grundsätzen der Sitte sowie des Anstands und der Ordnung zuwiderliefe, dass eine Belästigung der Allgemeinheit ermöglicht werde.

Zunächst vermochte das Gericht wegen der fehlenden Eignung zur Verletzung des Schamgefühls eine grobe Ungehörigkeit des Urinierens bereits nicht zu erkennen. Hierbei stützte es sich auf den rein natürlichen Vorgang des Urinierens in „öffentlichen Bedürfnisanstalten“ unter Männern. Dieses fände schließlich als „geselliges Wasserlassen“ regelmäßig an durchgehenden Pissoirs, an Rinnen oder anderen Vorrichtungen statt, weswegen eine schambehaftete Tendenz zu verneinen sei. Soweit die Notdurft außerhalb geschlossener Räume verrichtet werde, sei es anerkannt, sich hierzu nach den Möglichkeiten vor Ort aus dem Blickfeld anderer Personen zu entfernen bzw. sich jedenfalls abzuwenden und diskret zu verhalten. Dem sei der Betroffene gerecht geworden, indem er sich im Schutz der Dunkelheit 20 Meter von der Gruppe entfernt habe und dem möglichen Laufweg von Spaziergängern, die wegen der fortgeschrittenen Uhrzeit höchstens ganz vereinzelt zu erwarten gewesen seien, weggedreht habe. Darüber hinaus sei der Mann aufgrund der Dunkelheit für Dritte allenfalls noch schemenhaft zu erkennen gewesen und habe nicht damit rechnen müssen, plötzlich mit einer Taschenlampe angeleuchtet und unmittelbar angesprochen zu werden.

Auch habe sich niemand über den Vorgang beschwert und die genannten Zeugen hätten „nicht sofort interveniert, sondern gewartet, bis der Betroffene nach bürgerlichen Maßstäben wieder ansprechbar war“.

Zudem unterfalle das Urinieren unter freiem Himmel gesellschaftlich einer gewissen Duldung und Üblichkeit, wobei beispielsweise an Arbeiten auf Feld und Flur, die Tätigkeit von Jägern und Radsportlern oder an weitere naturnahe Beschäftigungen zu denken ist. In Abgrenzung zu bergigen Landschaften und Waldrändern gäbe es wegen der Offenheit der örtlichen Gegebenheiten am Meer bereits weniger Rückzugsmöglichkeiten, was dem Betroffenen nicht zum Nachteil gereicht werden könne. Das Gericht stellt insofern nüchtern fest: So sei „es halt an der Küste“.

Auch der zweite Anknüpfungspunkt, nämlich die Verunreinigung und mögliche Gerüche, führten nach Auffassung des Gerichts zu keiner groben Ungehörigkeit im Sinne des § 118 OWiG. Schließlich sei bei einer Wassermenge von 21.631 Kubikkilometer von Brackwasser ein derartiger Verdünnungsgrad selbst bei wiederholtem Urinieren eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung vollkommen ausgeschlossen.

Zum Ende hin nehmen die Ausführungen des Gerichts fast poetische Züge an, die in einem bemerkenswerten Schlusspunkt münden: In Parallelität zur Tierwelt habe der Mensch „unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee“.

Fazit

Der Fall ist eindeutig in die Kategorie „Kuriositäten“ einzuordnen. Er zeigt jedoch anschaulich auf, dass auch die Tatbestände von Ordnungswidrigkeiten nach dem OWiG nicht zum Selbstzweck angewendet werden. Vielmehr ist bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der groben Ungehörigkeit sowie bei der entsprechenden Subsumtion Fingerspitzengefühl für die Eigenheiten des jeweiligen Einzelfalls unter Berücksichtigung des Schutzzweck der Norm geboten. Die Entscheidung ist damit nicht nur wegen der sprachlichen Spitzfindigkeiten, sondern auch als Anregung zur Entwicklung der erforderlichen Argumentationsfertigkeiten eine Empfehlung.

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