Juristische Aufarbeitung der MH17 Tragödie durch Urteil in Amsterdam beendet
Fast ein Jahr ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vergangen. Der Krieg dauert an und vor allem die Gebiete in der Ostukraine sind weiterhin stark umkämpft. Bereits vor 9 Jahren wurde die internationale Gemeinschaft auf tragische Weise mit in den Konflikt hineingezogen, als im Sommer 2014 ein Passagierflugzeug in dem schon damals umkämpften Gebiet der Ostukraine in Snischne abstürzte. Die fast ausgebuchte Maschine war auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur in Malaysia. Das Ende des Passagierflugzeugs MH17 der Fluggesellschaft Malaysia Air war ein zutiefst verstörendes und schreckliches Ereignis. Fast 300 unschuldige Menschen verloren dabei ihr Leben. Schnell kam der Verdacht auf, dass das Flugzeug von einer Bodenluft-Rakete getroffen wurde. Wer den Absturz verursachte, war zunächst unklar. Russland und die Ukraine beschuldigten sich gegenseitig für das Unglück verantwortlich zu sein.
Worum geht es?
Sofort wurden Forderungen laut, den Fall aufzuklären. Insbesondere die Angehörigen der Opfer wollten, dass die Verantwortlichen gefunden werden. Bereits vor sechs Jahren veröffentlichte ein international einberufenes Ermittlerteam ihren Abschlussbericht zu dem Absturz.
Die juristische Aufarbeitung fand durch ein niederländisches Urteil im November 2022 ein Ende. Ob der Gerechtigkeit damit genüge getan ist, bleibt fraglich, da die vier Angeklagten ihre Strafe wohl niemals antreten werden. Der Prozess wurde in deren Abwesenheit geführt. In diesem Beitrag wird der außergewöhnliche Strafprozess noch einmal aufgegriffen.
Aus dem Gutachten des internationalen Ermittlerteams, welches von den Niederlanden geleitet wurde, ging hervor, dass die Maschine von einer Boden-Luft-Rakete vom Typ BUK-M1 getroffen wurde. Dies konnte eindeutig anhand von Trümmerteilen, die an der Absturzstelle gesichert wurden, festgestellt werden. Die Rakete war auf der linken Seite vor dem Cockpit des Flugzeuges detoniert. Einschusslöcher in Trümmerteilen sowie Schrapnelle im Cockpit und in Leichen der Piloten ließen diesen Schluss zu. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Rakete absichtlich abgefeuert wurde. Unklar ist, ob ein Passagierflugzeug oder ein Militärflugzeug getroffen werden sollte oder ob die Rakete ohne Ziel abgefeuert wurde. Der konkrete Tatbestand konnte jedenfalls nicht vor einem UN-Gericht, konkret dem EGMR geklärt werden, da Russland mit seinem Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein solches Verfahren blockierte. Die niederländische Regierung entschied sich daraufhin für ein Verfahren nach nationalem Recht, da 193 von 298 Opfern aus den Niederlanden stammen. Vor diesem wurden schließlich vier Beschuldigte, drei Russen und einen Ukrainer, wegen Mordes angeklagt. Die vier Angeklagten waren zwar vorgeladen, aber erschienen nicht vor Gericht. Vermutlich halten sie sich in Russland oder der Ostukraine auf. Eine Auslieferung seitens Russlands gilt als unwahrscheinlich.
Ein Prozess mit Abwesenden?
Dass die Beschuldigten überhaupt in Abwesenheit verurteilt werden konnten, liegt an einer Besonderheit des niederländischen Strafprozessrechtes. Ein Hauptverfahren in den Niederlanden hat grundsätzlich einen ähnlichen Ablauf wie in Deutschland. Es beginnt mit der Benennung und Belehrung der Angeklagten. Anschließend wird die Anklage von dem Staatsanwalt vorgetragen und es folgt die Beweisaufnahme. Nachdem alle Zeugen und Gutachter angehört wurden, hat der Angeklagte das letzte Wort.
In den Niederlanden ist der Angeklagte nicht verpflichtet, vor Gericht zu erscheinen. Ein Urteil in dessen Abwesenheit ist möglich. Er muss zuvor nur ordnungsgemäß geladen werden. In dem MH17-Prozess nutzte das Gericht offizielle Rechtshilfegesuche an Russland, sodass diese von russischen Gerichten geladen wurden. Zusätzlich wurden die Angeklagten über Facebook und WhatsApp über die Anklagepunkte informiert. Am Ende hatte sich nur einer der Angeklagten anwaltlich vertreten lassen. Auf der Anklagebank nahm keiner von ihnen persönlich Platz.
Ein solcher Prozess wäre in Deutschland derzeit jedoch nicht möglich. Der § 285 I StPO ist dahingehend eindeutig, dass gegen einen Abwesenden keine Hauptverhandlung stattfindet. Würde die Hauptverhandlung in einem Strafprozess ohne den Angeklagten stattfinden, läge ein Revisionsgrund gemäß § 338 Nr. 5 StPO vor. Anders sieht es vor den Zivil- oder Verwaltungsgerichten aus. Hier ist ein Nichterscheinen des Beklagten, der sich allein von seinem Anwalt vertreten lässt, recht häufig. Eine Ausnahme im Strafverfahren stellt § 232 I StPO dar. Demnach kann die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten durchgeführt werden, wenn er ordnungsgemäß geladen und belehrt wird und als Strafmaß nur eine Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen, eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, Fahrverbot, Einziehung, Vernichtung oder Unbrauchbarmachung infrage kommt. Eine Anwendung bei einem Mordvorwurf käme keinesfalls in Betracht.
Es stellt sich die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber eine Möglichkeit wie in den Niederlanden schaffen sollte. Festzuhalten bleibt zunächst, dass eine Beteiligung des Angeklagten an dem Verfahren meist in seinem Interesse ist. Der Angeklagte kann so sein Fragerecht nutzen und auch sein Recht „auf das letzte Wort“. Selbst wenn der Angeklagte zunächst nur seinen Verteidiger sprechen lässt, hat er später die Möglichkeit noch auszusagen. Er kann sich zudem während der Verhandlung mit seinem Verteidiger besser absprechen, wenn er den Prozess selbst verfolgt. Es ist naheliegend, dass es zumeist ein Vorteil für den Angeklagten ist, vor Gericht anwesend zu sein.
Interessenausgleich
Auf der anderen Seite müssen auch die Interessen der Opfer betrachtet werden. Es hat die Niederländer schwer getroffen, dass ihre Angehörigen in einem fremden Land bei einem fremden Konflikt gestorben sind. Ein Vater, der seine Tochter bei dem Absturz verlor, sagte z.B. Folgendes „Sie wurde einfach vom Himmel geschossen! In einem unbekannten Land, in dem ein Krieg herrscht“.
Der Prozess und die Aufarbeitung des Unglücks war für das niederländische Volk, aber auch für die Angehörigen der anderen Nationen besonders wichtig. In Deutschland könnte man durch die gesetzlichen Vorgaben diesen Interessen vermutlich weniger gerecht werden. Auch wenn es sich bei dem MH17-Absturz um ein besonders tragisches wie seltenes Ereignis handelt, sind andere Szenarien denkbar, wo eine Verhandlung vor einem UN-Gericht nicht geführt werden kann und auf nationales Recht zurückgegriffen werden müsste. Bei der konkreten Umsetzung könnte sich dann auf schwere Verbrechen beschränkt werden, die von besonderem öffentlichem Interesse sind.
Einige wenige Angehörige der MH17-Opfer haben im Übrigen vor dem EGMR gegen die Ukraine eine Klage eingereicht. Die ukrainischen Behörden tragen ihrer Ansicht nach eine Mitschuld, weil die Flugrouten über dem Kriegsgebiet nicht vollständig gesperrt waren. Der Flugverkehr war auch für Passagierflugzeuge geöffnet und ukrainische und russische Fluglotsen arbeiteten an dem Tag zusammen. Tatsächlich gab es über dem Gebiet am Tag des Abschusses eine Sperrung, aber nur bis zu einer Höhe von 8000 Metern. Russland hingegen hatte seinen Luftraum im Grenzgebiet zur Ukraine bis auf 16 Kilometer Höhe gesperrt. Die Sperrung erfolgte nur wenige Stunden vor dem Absturz der MH17. Diese Höhe gilt als maximale Reichweite für BUK-Raketen. Diese Tatsache wurde ebenfalls als Beweis für die russische Beteiligung herangezogen. Nach dem Unglück änderten die Airlines ihre Flugrouten und umflogen die Ostukraine. Seit Februar 2022 fliegen keine Passagierflugzeuge mehr über den gesamten ukrainischen Luftraum.
Du möchtest weiterlesen?
Dieser Beitrag steht exklusiv Kunden von Jura Online zur Verfügung.
Paket auswählen