BVerfG zum Neutralitätsgebot von Regierungsmitgliedern und dem Recht auf Chancengleichheit von Parteien

BVerfG zum Neutralitätsgebot von Regierungsmitgliedern und dem Recht auf Chancengleichheit von Parteien

Organstreitverfahren: AfD vs. Merkel – waren Merkels Äußerungen zur Thüringen-Wahl 2020 verfassungswidrig?

Das BVerfG ist mit seiner Entscheidung seiner bisherigen Linie treu geblieben und hat das Neutralitätsgebot für politische Äußerungen von Regierungsmitgliedern in amtlicher Funktion bekräftigt. Interessant ist dabei aber auch das Sondervotum der Richterin Wallrabenstein, die die Ansicht vertritt, dass die Bundeskanzlerin mit ihren Äußerungen nicht gegen das Verfassungsrecht verstoßen habe, da sie bei Äußerungen zu politischen Fragen keiner Neutralitätskontrolle unterliege.

A.) Sachverhalt

I. Am 5. Februar 2020 fand im Thüringer Landtag die Wahl zum Ministerpräsidenten de Freistaats Thüringen statt. Der Kandidat der Fraktionen von SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bodo Ramelow, hatte in den ersten beiden Wahlgängen die notwendige absolute Mehrheit verfehlt, genau wie der Kandidat der Antragstellerin (AfD). Im dritten Wahlgang nominierte die FDP Thomas Kemmerich als weiteren Kandidaten; dieser wurde mit 45 von 90 Stimmen gewählt. An dieser Wahl wurde –wegen der angenommenen Mitwirkung der Landtagsabgeordneten der Antragstellerin– heftige Kritik geübt, unter anderem auch von der damaligen CDU-Bundesvorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die zu diesem Zeitpunkt auch Mitglied des Präsidiums der CDU war, befand sich auf einer Dienstreise in Südafrika. Am 6. Februar 2020 gab sie (gemeinsam mit dem Präsidenten der Republik Südafrika) eine Pressekonferenz und äußerte sich dabei folgendermaßen:

„*Meine Damen und Herren, ich hatte dem Präsidenten schon gesagt, dass ich aus innenpolitischen Gründen eine Vorbemerkung machen möchte und zwar bezogen auf den gestrigen Tag, an dem ein Ministerpräsident in Thüringen gewählt wurde. Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung für die CDU und auch für mich gebrochen hat, dass nämlich keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen. Da dies in der Konstellation, in der im dritten Wahlgang gewählt wurde, absehbar war, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss.
Zumindest gilt für die CDU, dass sich die CDU nicht an einer Regierung unter dem gewählten Ministerpräsidenten beteiligen darf. Es war ein schlechter Tag für die Demokratie.*“

Eine Mitschrift der Pressekonferenz (einschließlich der obigen Äußerung) wurde sowohl auf der Internetseite der Bundeskanzlerin als auch auf der Internetseite der Bundesregierung veröffentlicht; auf den Internetseiten finden sich das offizielle Dienstwappen der Bundeskanzlerin bzw. der Bundesregierung.

II. Die Antragstellerin rügte mit Schreiben vom 18. Februar 2020 an die Bundeskanzlerin, die Äußerungen in der Pressekonferenz verletzten ihre Rechte aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 i.V. mit Art. 19 Abs. 3 GG; das Gleiche rügte sie auch gegenüber der Bundesregierung wegen der Veröffentlichung auf der Internetseite.

Die Anträge, die Antragsgegnerinnen im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten, die streitgegenständlichen Äußerungen auf den Internetseiten zu löschen, hatten sich erledigt, nachdem die Mitschrift der Pressekonferenz auf den jeweiligen Internetseiten entfernt worden waren.

III.
1.) Vorbringen der Antragstellerin

Die Antragstellerin trug vor, die Äußerungen der Antragsgegnerin zu I. sowie die Veröffentlichung auf deren Internetseite verletzten sie in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG. Mit dieser Äußerung und ihrer Veröffentlichung hätten die beiden Antragsgegner ihre Pflichten zur neutralen und sachlichen Wahrnehmung ihres Amtes verletzt. Die Äußerungen der Bundeskanzlerin (Antragsgegnerin zu I.) seien in ihrer amtlichen Funktion erfolgt; die Bundeskanzlerin könne bei einer Pressekonferenz während einer Dienstreise keine „privaten“ Erklärungen abgeben, wie auch die Formulierung „aus innenpolitischen Gründen“ zeige. Die Bundeskanzlerin sei zur Abgabe dieser Äußerungen nicht befugt gewesen; sie habe damit gegen dies staatliche Neutralitätspflicht verstoßen und das Sachlichkeitsgebot verletzt, indem sie sich abträglich zu einer Partei geäußert habe. Bei der Veröffentlichung dieser Erklärung durch die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung (Antragsgegnerin zu II.) handle es sich um amtliche Verlautbarungen. Die Aussage, es sollten keine Mehrheiten mithilfe der Antragstellerin gewonnen werden, entfalte eine abschreckende Wirkung und beeinflusse das Verhalten potenzieller Wähler und gewählter Abgeordneter.

2.) Vorbringen der Antragsgegner
Die Antragsgegner trugen vor, die Anträge der Antragsteller seien sowohl unzulässig (a) als auch unbegründet (b) und daher zurückzuweisen.

a) Keine Antragsbefugnis
Die gerügten Äußerungen seien nicht in amtlicher Funktion erfolgt. Es handle sich um eine innenpolitische Stellungnahme, die sich an den Landesverband der CDU in Thüringen gerichtet und den Parteitagsbeschlüssen der CDU entsprochen habe. Hierbei seien keine amtlichen Ressourcen für private Zwecke eingesetzt worden. Bei der Auslandsreise der Bundeskanzlerin habe es keine andere Möglichkeit der Äußerung gegeben.

b) Keine Beeinträchtigung der Rechte der Antragstellerin
Die Rechte der Antragstellerin seien durch die Äußerungen nicht beeinträchtigt worden, die Bundeskanzlerin habe ihre eigene Partei kritisiert. Die Verfassung gebe der Antragstellerin keinen Anspruch, als möglicher Koalitionspartner akzeptiert zu werden. Die gerügte Äußerung sei weder unsachlich noch polemisch gewesen, sondern habe nur die geltende Beschlusslage der CDU wiedergegeben. Der Vorgang (Ministerpräsidentenwahl in Thüringen) habe in der nationalen und internationalen Presse und in der Politik zu erheblichen Irritationen geführt; die Bundeskanzlerin habe sich hierzu erklären müssen und habe nicht bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland warten können. Die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung und das Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland sei gefährdet gewesen. Mit der Dokumentation der Äußerungen habe man nur der allgemeinen Informationspolitik entsprochen.

Dieser Sachvortrag wurde in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG am 21. Juli 2021 sowohl von der Antragstellerin wie auch von den Antragsgegnern noch vertieft und ergänzt.

Das BVerfG hat durch Urteil für Recht erkannt:

  • Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
  • Die Antragsgegnerin zu I. hat durch die im Rahmen einer Pressekonferenz mit dem Präsidenten der Republik Südafrika am 6. Februar 2020 in Pretoria getätigte Äußerung „*Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung gebrochen hat, für die CDU und auch für mich, nämlich, dass keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen. Da dies absehbar war in der Konstellation, wie im dritten Wahlgang gewählt wurde, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb auch das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden muss. Zumindest gilt für die CDU, dass die CDU sich nicht an einer Regierung unter dem gewählten Ministerpräsidenten beteiligen darf. Es war ein schlechter Tag für die Demokratie.*“ die Antragstellerin in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt.
  • Die Antragsgegnerinnen zu I. und II. haben durch die Veröffentlichung der unter 2. wiedergegebenen Äußerung unter der Überschrift „Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem Präsidenten der Republik Südafrika, Cyril Ramaphosa“ auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung am 6. Februar 2020 die Antragstellerin in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt.
  • Die Anträge der Antragstellerin auf Erstattung ihrer notwendigen Auslagen werden, auch soweit sie die für erledigt erklärten Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend, abgelehnt.

B.) Gründe

I.) Zulässigkeit der Anträge

1.) Parteifähigkeit im Organstreitverfahren

Die Antragstellerin ist als politische Partei, die an Bundestags- und Landtagswahlen teilnimmt im Organstreitverfahren streitfähig, soweit sie eine Verletzung ihres Rechts auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb geltend macht (ständige Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfGE 154, 320, 330). Auch die Antragsgegnerin zu I. (Bundeskanzlerin) ist parteifähig; sie hat diese nicht dadurch verloren, dass ihr Amt gemäß Art. 69 Abs. 2 GG seit Oktober 2021 beendet ist. Maßgeblich für die Parteifähigkeit eines Beteiligten ist sein Status zum Zeitpunkt der Anhängigmachung des Verfassungsstreits. Die Antragsgegnerin zu II. (Bundesregierung) ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 11 GG i.V. mit § 63 BVerfGG parteifähig.

2.) Antragsbefugnis

Die Antragstellerin ist antragsbefugt; es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie durch die Äußerungen und deren Veröffentlichungen in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt worden ist.

3.) Rechtsschutzbedürfnis

Die Antragstellerin hat auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Das Organstreitverfahren dient der Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen. Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn und solange über die behauptete Rechtsschutzverletzung Streit besteht. Das Rechtsschutzbedürfnis ist auch nicht entfallen, weil die Äußerungen abgeschlossen sind und ihr Gegenstand (Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten Thüringens) mittlerweile weggefallen ist (Wahl eines anderen Ministerpräsidenten). Darüber hinaus hat die Antragstellerin ein erhebliches Interesse an der Klärung der Frage, ob sie derartige Aussagen in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzen.

II.) Begründetheit der Anträge

Das BVerfG hält die Anträge für begründet; sowohl die streitgegenständliche Äußerung der Bundeskanzlerin als auch die Veröffentlichung auf den Internetseiten verletzten das Recht der Antragstellerin auch Chancengleichheit im politischen Wettbewerb gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG. Das BVerfG hat bei seiner Entscheidung die nachfolgenden Kriterien zugrunde gelegt.

1.) Recht der Parteien auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb

In der freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volk aus und wird in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 GG). Die demokratische Legitimation haben Wahlen nur dann, wenn sie frei sind. Diese Freiheit bezieht sich nicht nur auf den Akt der Stimmabgabe, sondern umfasst auch, dass die Wähler ihr Urteil in einem freien und offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen und fällen können (BVerfGE 148, 11, 23). Dabei kommt den politischen Parteien entscheidende Bedeutung zu. Es ist für den Prozess der politischen Willensbildung unerlässlich, dass die Parteien gleichberechtigt an ihm teilnehmen können. Ihr Recht auf Chancengleichheit steht in engem Zusammenhang mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl gem. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG.
Art. 21 Abs. 1 GG garantiert den Parteien nicht nur die Freiheit ihrer Gründung, sondern auch die Mitwirkung auf der Basis gleicher Rechte und Chancen.

2.) Politische Neutralität der Staatsorgane

Die chancengleiche Beteiligung an der politischen Willensbildung erfordert die Neutralität der Staatsorgane im politischen Wettbewerb der Parteien, d.h. Staatsorgane dürfen nicht zu Gunsten oder zu Lasten einer politischen Partei auf den Wahlkampf einwirken. Staatsorgane haben allen zu dienen und müssen sich neutral verhalten. Dies gilt auch außerhalb von Wahlkampfzeiten; der Prozess der politischen Willensbildung ist nicht auf den Wahlkampf beschränkt, sondern findet fortlaufend statt. Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG schützt das Recht der Parteien auf Chancengleichheit in seiner Gesamtheit.

3.) Äußerungsbefugnisse einzelner Mitglieder der Bundesregierung

Auch Mitglieder der Bundesregierung haben in Wahrnehmung ihres Amtes den Grundsatz der Verfassung auf Chancengleichheit zu beachten. Dem Neutralitätsgebot steht nicht entgegen, dass Inhaber von Regierungsämtern regelmäßig eine Doppelrolle als Regierungsmitglied und als Parteipolitiker haben. Auch wenn eine strikte Trennung der Sphären „Bundesminister“, „Parteipolitiker“ und „Privatperson“ nicht immer möglich ist, muss das Neutralitätsgebot im amtlichen Tätigkeitsbereich eines Regierungsmitglieds beachtet werden. Dies bedeutet, Regierungsmitglieder dürfen sich nicht am politischen Meinungskampf beteiligen und dabei auf die Möglichkeiten und Mittel zurückgreifen, die ihnen das Regierungsamt eröffnet und die die politischen Mitbewerber nicht haben.

4.) Inanspruchnahme des Regierungsapparates bei politischen Äußerungen

Das BVerfG betont, dass die Frage, ob die Äußerung eines Regierungsmitgliedes unter Inanspruchnahme der Autorität des Regierungsamtes oder der mit ihm verbundenen Ressourcen erfolgt sei, nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu bestimmen ist. Die Autorität wird in Anspruch genommen bei amtlichen Verlautbarungen, bei offiziellen Publikationen und Pressemitteilungen sowie auf offiziellen Internetseiten. Dies gilt auch für das Amt des Bundeskanzlers/der Bundeskanzlerin. Die herausgehobene Stellung des Bundeskanzlers führt bei der Beachtung des Neutralitätsgebotes nicht dazu, dass hier großzügigere oder strengere Maßstäbe anzulegen wären. Dies würde dem Sinn und Zweck der Chancengleichheit der Parteien widersprechen.

5.) Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien

Das BVerfG betont, dass grundsätzlich jeder Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien zu unterbleiben habe, der nicht von der Verfassung legitimiert und von einem so hohen Gewicht sei, dass er dem Grundsatz der Chancengleichheit die Waage halten könne.

a) Gleichwertige Verfassungsgüter

Das BVerfG sieht nur zwei gleichwertige Verfassungsgüter, die einen Eingriff legitimieren können: die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung und das Ansehen und Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft.

aa) Handlungsfähigkeit der Bundesregierung

Die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung stellt ein Rechtsgut von Verfassungsrang dar; es ist Aufgabe des Bundeskanzlers, diese sicherzustellen (vgl. Art. 63, 67, 68 GG). Welche Maßnahmen hierfür erforderlich sind, obliegt dem weiten Spielraum des Bundeskanzlers.

bb) Ansehen und Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland

Die Erhaltung des Ansehens und des Vertrauens in die Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft ist ebenfalls ein hohes Verfassungsgut, für dessen Schutz die Bundesregierung und der Bundeskanzler zu sorgen haben. Das Grundgesetz bindet die Bundesrepublik in die internationale Gemeinschaft ein und ist auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtet. Deutschland muss innerhalb der Staatengemeinschaft als berechenbarer und verlässlicher Partner angesehen werden; die außenpolitische Handlungs- und Bündnisfähigkeit ist sicherzustellen. Diese Aufgabe obliegt der Bundesregierung, insbesondere dem Bundeskanzler. Auch dieses Verfassungsgut ist dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien gleichwertig.

b) Befugnis zur Information und Öffentlichkeitsarbeit

Die Aufgabe der Bundesregierung zur Staatsleitung schließt die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit mit ein. Dies Inanspruchnahme setzt grundsätzlich die Beachtung der bestehenden Kompetenzordnung voraus; gleichwohl können auch Angelegenheiten der Länder Gegenstand der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung sein, wenn diese länderübergreifende Bedeutung haben und Anlass für eine bundesweite Informationsarbeit sein können. Es ist der Bundesregierung bei Ausübung dieser Befugnis von Verfassungs wegen untersagt, die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel und Möglichkeiten zu Gunsten oder zu Lasten einzelner Parteien einzusetzen. Art 21 Abs. 1 Satz 1 GG lässt es nicht zu, die Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen, um Regierungsparteien zu unterstützen oder Oppositionsparteien zu bekämpfen.

III. Begründetheit der Anträge im Einzelnen

Nach den zuvor genannten Maßstäben ist das BVerfG zur Überzeugung gelangt, dass die Anträge sowohl hinsichtlich der Äußerung als auch bezüglich der Veröffentlichung auf den Internetseiten begründet sind. Es stellte hierzu fest:

1.) Die Äußerung der Bundeskanzlerin geschah in amtlicher Funktion

Das BVerfG führt aus, dass die konkreten Umstände ergeben, dass die streitgegenständlichen Äußerungen der Antragsgegnerin zu I. in Wahrnehmung ihres Amtes als Bundeskanzlerin erfolgt seien. Sie habe sich auf einer Auslandsreise als Bundeskanzlerin befunden und habe sich bei einer offiziellen Pressekonferenz mit dem Präsidenten von Südafrika geäußert. Dieses Umfeld, das ihr aufgrund ihres Amtes als Bundeskanzlerin zur Verfügung stand, weist klar auf die amtliche Funktion hin. Auch die vorgenommene Qualifizierung als „Vorbemerkung aus innenpolitischen Gründen“ führe zu keiner anderen Einschätzung, genauso wenig wie die Tatsache, dass die Wahl eines Ministerpräsidenten in Thüringen nicht dem Regelzugriff der Bundesregierung unterfalle. Auch ein Handeln jenseits der eigentlichen Kompetenz könne ein Handeln in amtlicher Funktion sein. Der äußere Rahmen spreche gegen eine Äußerung als Privatperson oder als Parteipolitikerin. Schließlich spreche auch das Vorbringen, die angegriffene Äußerung habe dazu gedient, das Vertrauen des Koalitionspartners wiederherzustellen sowie die geltend gemachte außenpolitische Relevanz der Ministerpräsidentenwahl klar für eine Äußerung in amtlicher Funktion.

2.) Negative Qualifizierung der Antragstellerin

Das BVerfG legt dar, dass die streitbefangenen Äußerungen eine negative Qualifizierung der Antragstellerin beinhalteten und damit in einseitiger Weise auf den politischen Wettbewerb eingewirkt haben. Bei der Auslegung der Äußerung sei auf den objektiven Empfängerhorizont abzustellen, nicht auf die Intention des Äußernden. Die Aussagen, eine Mehrheitsbildung mit der AfD sei unverzeihlich und müsse rückgängig gemacht werden, dies sei ein schlechter Tag für die Demokratie, ließen keine Zweifel an der negativen Qualifizierung der Antragstellerin aufkommen. Damit werde die Antragstellerin als eine Partei dargestellt, mit der die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit als demokratieschädlich erachtet werde.

3.) Eingriff in das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe

Mit dieser negativen Qualifizierung habe die Antragsgegnerin zu I einseitig in den Prozess des politischen Wettbewerbs eingegriffen.

4.) Keine Rechtfertigung des Eingriffs in das Recht der Antragstellerin

Der Eingriff war nach Ansicht des BVerfG nicht gerechtfertigt; verfassungsrechtliche Gründe für den Eingriff lagen nicht vor. Weder der Schutz der Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung noch die Wahrung des Ansehens und Vertrauens in die Bundesrepublik Deutschland waren gefährdet. Es habe keine Zweifel ausländischer Partner an der Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit der Bundesrepublik gegeben noch lagen objektive Anknüpfungspunkte hierfür vor.

Auch die vorliegenden internationalen Presseartikel führten zu keiner anderen Einschätzung. Schließlich rechtfertigte auch die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit nicht die Veröffentlichung der Äußerungen auf den amtlichen Internetseiten.

Diese Veröffentlichungen hätten den amtlichen Charakter noch verstärkt (Dienstwappen, Bundesadler) und damit den Grundsatz der Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt, indem Ressourcen verwandt wurden, die der Antragstellerin nicht zur Verfügung standen.

Auch die Informationspflicht der Bundesregierung und das Inforamtionsfreiheitsgesetz könnten den Eingriff nicht rechtfertigen, zumal eine Auskunftspflicht einen entsprechenden Antrag voraussetze.

C.) Kostenerstattung nach § 34a Abs. 3 BVerfGG

Das BVerfG hat eine Kostenerstattung abgelehnt. Im Organstreitverfahren findet eine Kostenerstattung nur ausnahmsweise statt, wenn besondere Billigkeitsgründe vorliegen. Solche Billigkeitsgründe hat das BVerfG nicht gesehen. Aus dem gleichen Grund hat es auch keine Kosten für die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erstattet.

D.) Sondervotum der Richterin Wallrabenstein

Die Richterin Wallrabenstein ist der Ansicht, dass die Bundeskanzlerin mit ihren Äußerungen nicht gegen das Verfassungsrecht verstoßen habe; sie unterliege bei Äußerungen zu politischen Fragen keiner Neutralitätskontrolle.

Bei der Frage der Einordnung der Äußerung der Bundeskanzlerin als Amtsausübung sei der Maßstab des objektiven Empfängerhorizontes ungeeignet. Regierungsmitglieder würden in der Bevölkerung regelmäßig in ihrer Doppelrolle (Regierungsmitglied, Parteimitglied) wahrgenommen und deshalb gäbe es nur begrenzte Neutralitätserwartungen; die Maßstäbe der Neutralitätskontrolle seien daher verfehlt. Die Bürgerinnen und Bürger erwarteten nur insoweit von Regierungsmitgliedern Neutralität, als diese die Funktion der Fachverwaltung ausübten. Das Regierungshandeln soll nach der Erwartung der Bevölkerung nicht neutral sein, sondern parteipolitische geprägt; daher könne auch die Selbstdarstellung einer Regierung keiner Neutralitätspflicht unterliegen. Dies gelte auch für Äußerungen einzelner Regierungsmitglieder zu konkreten politischen Fragen.

Die Auffassung der Senatsmehrheit regierungsamtliche Äußerungen einer Neutralitätskontrolle zu unterwerfen, sei nur für den Wahlkampf sinnvoll. Regierungsressourcen dürften nicht für den Wahlkampf verwendet werden. Wichtig sei deshalb kein inhaltliches Äußerungsverbot, sondern ein Ressourcennutzungsverbot. Dies sei nur für wirtschaftliche Ressourcen plausibel (Ersparung eigener Aufwendungen). Der Senat habe mit der Gleichstellung der Nutzung der Ressourcen und der Nutzung der Amtsautorität die Beschränkung auf wirtschaftliche Ressourcen aufgegeben. Dies habe die fatale Folge, dass aus dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien nicht nur ein Ressourcennutzungsverbot folge, sondern auch ein Äußerungsverbot für Regierungsmitglieder geltend gemacht werden könne. Dies schade der demokratischen Willensbildung.

E.) Anmerkungen

Das BVerfG ist mit seiner Entscheidung vom 15. Juni 2022 seiner bisherigen Linie treu geblieben und hat das Neutralitätsgebot für politische Äußerungen von Regierungsmitgliedern in amtlicher Funktion bekräftigt.

Dieses Neutralitätsgebot dient vor allem dem Schutz der Chancengleichheit der Parteien, besonders jener, die nicht an der Regierung beteiligt sind. In deren Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung darf nur eingegriffen werden, wenn der Eingriff verfassungsrechtlich legitimiert ist. Das ist nur selten der Fall – das BVerfG sieht nur zwei Verfassungsgüter mit demselben Gewicht wie das Recht auf Chancengleichheit. Das BVerfG hat bekräftigt, dass der Schutz der Chancengleichheit der Parteien nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG ein sehr wichtiges Verfassungsgut in der Demokratie sei und nicht nur während des Wahlkampfs, sondern auch außerhalb dieser Zeiten gelte. Die hiermit verbundenen Einschränkungen bei politischen Äußerungen von Regierungsmitgliedern lassen sich nicht vermeiden, wenn man verhindern will, dass von Regierungsmitgliedern die Ressourcen der Regierung für den politischen Meinungskampf und die politische Willensbildung verwandt werden, die anderen Parteien (in der Opposition) nicht zur Verfügung stehen.

Zum Abschluss der Besprechung nochmal zusammengefasst:

Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 15. Juni 2022 (- 2 BvE 4/20 - und - 2 BvE 5/20 -):

1. Für den Bundeskanzler gelten die Maßgaben zur Abgrenzung des Handelns in amtlicher Funktion von der nicht amtsbezogenen Teilnahme am politischen Wettbewerb grundsätzlich in gleicher Weise wie für die sonstigen Mitglieder der Bundesregierung.

2. Aus der Kompetenzordnung innerhalb der Bundesregierung folgt zwar – verglichen mit den übrigen Kabinettsmitgliedern – ein gegenständlich weiteres Äußerungsrecht des Bundeskanzlers, nicht jedoch ergeben sich daraus andere Anforderungen mit Blick auf die Beachtung des Neutralitäts- und Sachlichkeitsgebots.

3. Gründe, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen und der Bundesregierung eine Befugnis zum Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien verleihen, müssen durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann.

4. Als der Chancengleichheit der Parteien gleichwertige Verfassungsgüter kommen der Schutz der Stabilität und Handlungsfähigkeit der Bundesregierung sowie das Ansehen und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft in Betracht.

5. Der Bundeskanzler verfügt bei der Frage, welcher Maßnahmen es zur Erhaltung der Stabilität und Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung bedarf, ebenso wie im Bereich der auswärtigen Politik über einen weiten Einschätzungsspielraum. Bei Eingriffen in den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien muss plausibel dargelegt werden können oder in sonstiger Weise ersichtlich sein, dass die einen solchen Eingriff rechtfertigenden Verfassungsgüter tatsächlich betroffen sind und einen Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG erforderlich gemacht haben.