BVerfG zur Bezeichnung eines Sängers als Antisemit: Der Fall Xavier Naidoo (Teil 1)

BVerfG zur Bezeichnung eines Sängers als Antisemit: Der Fall Xavier Naidoo (Teil 1)

Der Fall Xavier Naidoo – ein Fall im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht

Nach Art. 5 I 1 G hat jeder das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Bei Art. 5 I 1 GG handelt es sich um ein besonders gewichtiges Grundrecht.

Der folgende Fall spielt im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht. Für das Verständnis und die Auflösung der widerstreitenden Interessen ist die Kenntnis der „Lüth“-Entscheidung von Bedeutung.

Der Verfassungsbeschwerde gingen zwei zivilrechtliche Entscheidungen (1. Instanz: LG Regensburg (LG Regensburg, Urteil vom 17.07.2018 - 62 O 1925/17; Berufungsinstanz: OLG Nürnberg Urteil vom 22.10.2019 - 3 U 1523/18) voran, in der sich die Beschwerdeführerin (Bf.) gegen die Verurteilung zu einer Unterlassung einer Äußerung wandte.

Zivilrechtlich liegt dem der materiell-rechtliche Unterlassungsanspruch aus §§ 1004 I BGB analog, 823 II BGB zugrunde.

Aus verfassungsprozessualer Sicht handelt es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde.

In diesem Zusammenhang muss zum einen der besondere Prüfungsmaßstab des BVerfG beachtet werden; auf der anderen Seite geht es im fachgerichtlichen Verfahren um die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Zivilrecht (über die „Einfallstore“ der generalklauselartigen und auslegungsbedürftigen Tatbestände der §§ 1004 I, 823 II BGB).

In diesem Fall entfaltet die Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 5 I 1 GG mittelbare Drittwirkung über § 1004 I BGB.

A. Sachverhalt / Tatbestand

Die Bf. hielt einen Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“. Auf Nachfrage aus dem Publikum, wie sie in diesem Zusammenhang den Popsänger X, einen deutschen Soul- und R&B-Sänger, Songwriter, Komponist und Musikproduzent, einordne, antwortete diese:

“Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.”

Sowohl die Nachfrage als auch die Äußerung der Bf. bezogen sich dabei vor allem auf die Lieder „Raus aus dem Reichstag“ und „Marionetten“ des X.

In vierter Strophe des erstgenannten Liedes heißt es etwa:

„Wie die Jungs von der Kleinherzbank, die mit unserer Kohle zocken / Ihr wart sehr, sehr böse, steht bepisst in euren Socken / Baron Totschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel / Der Schmock ist’n Fuchs und ihr seid nur Trottel.“

Weiter heißt es in dem Liedtext „Marionetten“ auszugsweise:

„Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein / Seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter / Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein / Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter.“

Die Bf. wies in daraufhin auf die antisemitische Codierung hin, wie etwa durch die Verwendung der Bezeichnung „Totschild“, des jiddischen Begriffs des „Schmock“ sowie des als listig geltenden Fuchses in diesem Zusammenhang. Ferner könne im Lied „Marionetten“ der dort verwendete Puppenspieler als klassisches antisemitisches Klischee verstanden werden.

Die Bf. wies zudem – zutreffend – auf eine Rede des X aus dem Jahr 2014 bei einer Versammlung sog. Reichsbürger vor dem Reichstag hin. Auch auf ein Interview mit einer überregional und bundesweit wöchentlich erscheinenden Zeitschrift wies die Bf. hin. Dort äußerte sich X dazu, ob es berechtigt sei, Deutschland für besetzt zu halten. Die Liedtexte, Äußerungen sowie die daraus hervorgehende politische Einstellung des X waren unter anderem Gegenstand eines Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages sowie mehrerer Artikel in Zeitschriften und Zeitungen, die sich allesamt kritisch mit den Gegenständen auseinandersetzten.

X sieht sich durch die eingangs erwähnte Äußerung, er sei Antisemit, in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt.

Gegen diese Äußerung ging X nun – nachdem mehrere Abmahnungen erfolglos waren – im fachgerichtlichen Rechtsschutz vor.

X ist der Auffassung, dass durch die Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung der Bf. die Meinungsfreiheit schon gar nicht betroffen sei. Vielmehr handele es sich um eine reine Tatsachenbehauptung, die falsch sei. An der Verbreitung falscher Tatsachen könne allerdings kein schützenswertes Interesse bestehen. Jedenfalls aber müsse die Meinungsfreiheit zurücktreten.

Auch das Instanzgericht stützte den Unterlassungsanspruch im Wesentlichen darauf, es falle entscheidungserheblich zur Last der Bf., dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können. Die Bf. habe nicht ausreichend gewichtige Anhaltspunkte dafür vortragen können, dass die ganze Persönlichkeit des Klägers die Bezeichnung als Antisemit rechtfertigt.

Die Bf. hingegen ist der Auffassung, dass es sich hierbei um eine zulässige Meinungsäußerung handele. Die Gerichte hätten die Meinungsfreiheit grundlegend verkannt.

Ist die zulässige Verfassungsbeschwerde begründet?

B. Prüfungsschema

Es geht zum einen um die Frage, der Begründetheit einer Urteilsverfassungsbeschwerde, zum anderen um die Frage, ob die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. verletzt wurde.

Im Rahmen der Begründetheit der Urteilsverfassungsbeschwerde ist zwingend nach dem Obersatz der eingeschränkte Prüfungsumfang darzustellen. Erst danach prüfen Sie das betroffene Grundrecht / die betroffenen Grundrechte. Es gilt der Grundsatz: Vorrang der Freiheitsrechte vor den Gleichheitsrechten (und innerhalb der jeweiligen Gruppe Vorrang des spezielleren Grundrechts vor dem allgemeineren).

Die Begründetheit der Urteilsverfassungsbeschwerde:

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der Beschwerdeführer in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist, Art. 93 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG.

I. Prüfungsmaßstab bei der Urteilsverfassungsbeschwerde

II. Schutzbereich

1. Persönlicher Schutzbereich
2. Sachlicher Schutzbereich
a) Meinung
  • Meinung ist jedes Werturteil (jedes Dafürhalten im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung)
  • Tatsachenbehauptungen sind von der Meinungsfreiheit erfasst, wenn sie Voraussetzung für die Meinungsbildung und subjektiv wahrhaftig sind.
b) Geschützte Verhaltensweisen
  • Jedenfalls Bilden, Haben, Äußern und Verbreiten der Meinung

III. Eingriff

IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

1. Bestimmung der Schranke
  • Qualifizierter Gesetzesvorbehalt („Allgemein“)
2. Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage
a) Formelle Verfassungsmäßigkeit
b) Materielle Verfassungsmäßigkeit
aa) Schrankenspezifische Anforderungen
  • Problem: „Allgemein“
  • aA: Formelle Theorie. Ein Gesetz ist „allgemein“, wenn es nicht eine bestimmte Meinung, eine Meinung als solche verbieten will.
  • aA: Materielle Theorie. Ein Gesetz ist „allgemein“, wenn es einem im Verhältnis zur Meinungsfreiheit höherrangigen Recht zur Durchsetzung verhelfen will
  • hM: Kombinationsformel des BVerfG. Ein Gesetz ist „allgemein“, wenn nicht eine bestimmte Meinung, eine Meinung als solche verbieten will, sondern vielmehr einem im Verhältnis zu Meinungsfreiheit höherrangigen Recht zur Durchsetzung verhelfen will.
bb) Verhältnismäßigkeit
  • Wechselwirkungslehre: Das die Meinungsfreiheit einschränkende Gesetz ist selbst im Lichte der Meinungsfreiheit auszulegen (verfassungskonforme Auslegung).
cc) Zensurverbot, Art. 5 I 3 GG
dd) Ggf. sonstige Anforderungen an die materielle Verfassungsmäßigkeit
3. Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes

V. Lösung

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die Beschwerdeführerin in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist, Art. 93 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG.

Ein solcher Verstoß kommt hier nach dem Vortrag der Bf. im Hinblick auf die Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 GG, in Betracht.

C. Prüfung

I. Prüfungsmaßstab bei der Urteilsverfassungsbeschwerde

Akte der Judikative überprüft das BVerfG nur eingeschränkt. Es begrenzt seine Prüfung auf die Verletzung sog. „spezifischen Verfassungsrechts“. Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts sind den sachnäheren Fachgerichten vorbehalten.

Anmerkung: In diesem Zusammenhang spricht man auch davon, dass das BVerfG keine allgemein zuständige „Superrevisionsinstanz“ aller Gerichtsbarkeiten ist.

Akte der Judikative werden daher nur auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts überprüft, d.h.:

1. Hat das Fachgericht bei der Anwendung dieser Rechtsnorm(en) die Bedeutung der Grundrechte grundlegend verkannt?
a) Hat das Fachgericht nicht erkannt, dass Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte einschlägig sind?
b) Hat das Gericht die Bedeutung einschlägiger Grundrechte oder grundrechtsgleicher Rechte grundsätzlich verkannt, indem es z.B. ihren Schutzbereich unzutreffend bestimmt hat?

2. Handelt es sich um eine objektiv willkürliche Entscheidung des Fachgerichts?

II. Verletzung der Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 GG

Es könnte ein Verstoß gegen Art. 5 I 1 GG vorliegen. Dazu müsste der Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG betroffen sein und das Urteil einen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Eingriff hierin darstellen.

1. Schutzbereich

a) persönlicher Schutzbereich

In personeller Hinsicht ist Art. 5 Abs. 1 GG ein sog. Jedermann-Grundrecht, so dass sich auch die Bf. als natürliche Person auf den Schutzbereich berufen kann.

b) sachlicher Schutzbereich

In sachlicher Hinsicht umfasst der Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.

Die Eröffnung des sachlichen Schutzbereichs setzt daher voraus, dass es sich bei der Äußerung der Bf. um eine von Art. 5 I 1 GG geschützte Meinung handelt

Meinung sind jedes Werturteil, jede Ansicht oder Anschauung, unabhängig davon, ob sie private oder öffentliche Angelegenheiten betrifft im Sinne eines Dafürhaltens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung.

Der Begriff der Meinung ist daher grundsätzlich weit auszulegen.

Vorliegend hat die Bf. auf Nachfrage aus dem Publikum in Bezug auf den X geäußert, bei ihm handele es sich um einen Antisemiten.

Fraglich ist, ob es sich bei dieser Äußerung überhaupt um eine Meinung oder nicht vielmehr nur um eine Tatsachenmitteilung handelt.

Eine Meinung zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung aufweist (Werturteil). Von der Meinung ist die Tatsachenbehauptung abzugrenzen. Tatsachen sind objektive, dem Beweis zugängliche Umstände.

Grundsätzlich werden Tatsachen - im Gegensatz zu Werturteilen - nicht von Art. 5 I 1 GG geschützt. Wenn und soweit eine Tatsachenäußerung jedoch Voraussetzung für die Bildung einer Meinung ist, wird die Tatsachenäußerung von der Meinungsfreiheit geschützt. Die bewusste Behauptung unwahrer Tatsachen wird allerdings nicht geschützt.

Weichenstellend für die Prüfung einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch eine Meinungsäußerung ist die Erfassung des Inhalts der Aussage, insbesondere die Klärung, in welcher Hinsicht sie ihrem objektiven Sinn nach das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt (konkrete Sinndeutung nach Wortlaut, Kontext und Begleitumständen der Äußerung). Maßgeblich für die Deutung ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums hat. Fernliegende Deutungen sind auszuscheiden.

Die Äußerungen über X sind stark durch die subjektive Einstellung der Bf. geprägt. Zwar enthält die Äußerung der Bf. sicherlich auch einen Tatsachenkern. Es handelt es sich aber gleichwohl nicht um eine unwahre Tatsachenbehauptung.

Die Frage, ob X Antisemit sei, ist daher abhängig von dem individuellen Urteil der Bf.

Es handelt sich bei den Äußerungen der Bf. daher um Werturteile, die dem sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen.

Der Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG ist somit eröffnet.

2. Eingriff

Die instanzgerichtlichen Urteile müssten in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit eingreifen. Nach einem weiten (modernen) Verständnis ist unter einem Eingriff jedes staatliche Handeln zu verstehen, das dem Einzelnen ein Verhalten oder den Genuss eines Rechtsguts, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.

Dies ist bei einem zivilrechtlichen Urteil, das einer Unterlassungsklage stattgibt (§ 1004 I BGB analog) der Fall. Somit wurde in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit eingegriffen.

IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich allerdings gerechtfertigt sein…

Mit der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung beschäftigen wir uns in der kommenden Woche im zweiten Teil dieser Urteilsbesprechung und widmen uns dann der Prüfung der formellen und materiellen Verfassungsmäßigkeit sowie der Verhältnismäßigkeit - hier liegt dann in der Angemessenheit der absolute Schwerpunkt des Falles. Die Ausführungen des BVerfG stellen wir Dir dann klausurorientiert vor. Schaue Dir bis dahin einmal unsere Lerneinheit zur Meinungsfreiheit an und vertiefe den Prüfungsaufbau.