BGH zur “Wittenberger Sau”: Beleidigung oder Mahnmal?

BGH zur “Wittenberger Sau”: Beleidigung oder Mahnmal?

In Stein gemeißelter Antisemitismus?

An der Wittenberger Stadtkirche ist in vier Metern Höhe eine Plastik zu sehen, die als „Judensau“ bezeichnet wird. In Karlsruhe muss nun entschieden werden, ob sie abgenommen werden muss oder nicht. Handelt es sich um eine Beleidigung oder um Erinnerungskultur?

Worum geht es?

Die Wittenberger Stadtkirche in Sachsen-Anhalt gehört seit 1996 zum UNESCO-Welterbe und war vor vielen hundert Jahren die Predigtkirche von Martin Luther. Doch die St. Marien ist auch aus einem anderen, heftig umstrittenen Grund bekannt: Ihre Darstellung der „Judensau“ an ihrer Südfassade. Die Plastik sorgt schon lange für große Empörung und wird teilweise als Beleidigung verstanden. Ob sie nun entfernt werden muss oder nicht, darüber wird der BGH noch im Juni entscheiden.

Relief „Judensau“ aus dem 13. Jahrhundert

Das Relief stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist in vier Metern Höhe an der Kirchenmauer angebracht. Es zeigt ein auf der Seite liegendes Schwein mit Zitzen, an denen zwei Menschen saugen, ein anderer schaut in ihr Hinterteil. Die Personen sollen aufgrund ihrer Kleidung Juden darstellen. Zudem trägt die Plastik eine Inschrift, die sich auf eine judenfeindliche Schrift von Martin Luther bezieht. In Berichterstattungen ist sie unter der Bezeichnung „Judensau“ bekannt geworden.

In Karlsruhe muss nun entschieden werden, ob das antisemitische Schmährelief beseitigt werden muss oder nicht. Hintergrund ist die Klage eines Bonner, jüdischen Glaubens, der sich durch die Plastik persönlich beleidigt sieht. Er fordert daher gegen die Eigentümerin der Stadtkirche, das angebrachte Relief zu entfernen. Aber liegt eine Beleidigung vor? Oder handelt es sich um Kunst? Und welche Rolle spielt die angebrachte Infotafel der Kirche?

OLG Naumburg: Relief nicht beleidigend

Bereits das OLG Naumburg hat sich mit der Plastik beschäftigt. Im Februar 2020 entschied es, dass sie im heutigen Kontext nicht mehr beleidigend sei. Dies liege an einer von der Kirche vorgenommenen „Kommentierung“ im Jahr 1988, die die ursprüngliche (beleidigende) Wirkung der Plastik neutralisiere. Seit rund 34 Jahre ist am Fuße der Plastik eine künstlerische Bodenplatte angebracht, zudem ist eine Informationsstele zu sehen.

Auf der Infotafel heißt es, dass Schmähplastiken dieser Art besonders im Mittelalter verbreitet waren. Nach Auffassung des Klägers und seines Rechtsbeistands sei diese jedoch eher schädlich. In der mündlichen Verhandlung vor dem BGH brachte sein Anwalt vor, dass dieser Text vielmehr „verharmlosend und relativierend“ sei. Es fehle schlichtweg an einer Distanzierung zum Antisemitismus durch die Kirchengemeinde. Den Text auf der Bodenplatte bezeichnete er als „wirres Geschwurbel“:

Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.

BGH: Relief ursprünglich „in Stein gemeißelter“ Antisemitismus

Ob die Plastik heute noch durch die versehenen Informationen durch die Kirche beleidigend ist oder nicht, wird in Karlsruhe am 14. Juni 2022 entschieden. Zumindest ursprünglich sei das Relief „in Stein gemeißelter Antisemitismus“ gewesen, verkündete der Vorsitzende des sechsten Zivilsenats. Die Frage danach, ob der Kläger durch die Plastik in beleidigender Weise auch persönlich angesprochen wurde, war aber auch bereits Frage seiner Aktivlegitimation. Zwar würde der Kläger durch die Schmäh-Plastik nicht persönlich angesprochen, so der BGH in der mündlichen Verhandlung. Allerdings würden die in Deutschland lebenden Juden als Gruppe durch ein gemeinsames Schicksal (das Überleben des Holocaust) gesehen und seien daher kollektiv beleidigungsfähig.

Dass es sich dabei um Kunst handeln könnte oder nicht, spiele keine Rolle – so zumindest der ehemalige Kollege Prof. Dr. Thomas Fischer, wie er auf LTO schrieb. In seinem Gastbeitrag auf LTO wies er darauf hin, dass die Rechtsprechung heute einem offenen Kunstbegriff folge, wonach auch die „Judensau“-Plastik Kunst sei. Kunst als solche und Strafbarkeit würden sich aber nicht gegenseitig ausschließen, so Fischer.

Kirchengemeinde beruft sich auf Mahnmal

Die Rechtsanwältin der Kirchengemeinde verwies darauf, dass man es sich nicht leicht gemacht habe, die „Judensau“-Plastik zu erhalten. Bereits in den 1980er-Jahren habe sich die Stadtkirchengemeinde mit der jüdischen Gemeinde auseinandergesetzt und es zum Teil eines Mahnmals gemacht. Es wurde daher bis heute belassen.

Das war letztlich […] ein klares Bekenntnis, dass Erinnerungskultur sein muss.

Zudem wies Rechtsanwältin darauf hin, dass auch in der Bibel enthaltene antisemitische Stellen nicht gestrichen werden. Auch Filme, in denen Sklaverei behandelt werden, würden weiter gezeigt und nicht verboten werden, so die Anwältin, die als Beispiel „Vom Winde verweht“ nannte.

Schließlich argumentierte sie auch mit den Ausführungen der Naumburger Richter:innen aus der vorherigen Instanz. In dem Urteil heißt es, dass der Informationstext der Kirche es unmissverständlich zum Ausdruck bringe, dass die Beklagte sich von der Judenverfolgung und der verspottenden Zielrichtung der Schmähplastik distanziere. Die Rechtsanwältin hält diese Ausführungen für Tatsachenfeststellungen des OLG Naumburg – in der Revision kann der BGH die Entscheidung aber nur auf Rechtsfehler hin überprüfen. Somit wäre der Informationstext den Karlsruher Richter:innen verschlossen.

Gemeinde will zeitgemäß werden, Kläger will Entscheidung

Wie der BGH aufgrund dieser ganzen Umstände entscheiden wird, bleibt daher mit Spannung zu erwarten. Fischer schrieb auf LTO zumindest, dass nach seiner Auffassung das Werk in seiner jetzigen Form beleidigend sei. Etwas anderes würde gelten, „wenn es in einen musealen, dem Gedenken gewidmeten Zusammenhang gestellt würde.

Bereits jetzt kündigte aber der amtierende Pfarrer der Kirche an, dass jüngst ein Mitarbeiter eingestellt worden sei, der Vorschläge für einen zeitgemäßeren Umgang mit der „Judensau“-Plastik machen solle. Der Pfarrer räumte ein, dass der Text der Bodenplatte „vielleicht zu undeutlich“ sei. Der Kläger hingegen forderte, aus der Wittenberger Stadtkirche ein Museum für „christlichen Antisemitismus“ zu machen. Zudem kündigte er an, notfalls auch vor das BVerfG oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen.