BVerfG entscheidet über Triage-Regelung

BVerfG entscheidet über Triage-Regelung

Das BVerfG verpflichtet Staat zu Triagevorgaben

Menschen mit Behinderungen dürfen bei einer pandemiebedingten Triage nicht benachteiligt werden. In Karlsruhe hatten die neun Beschwerdeführenden mit ihrer Verfassungsbeschwerde Erfolg – der Gesetzgeber muss tätig werden.

Worum geht es?

In einer spannenden Entscheidung hat sich das BVerfG zum Ende des Jahres doch noch zu einer möglichen Triage-Situation in Deutschland geäußert – und sieht Regelungsbedarf beim Gesetzgeber. Dieser muss nun in der Corona-Pandemie unverzüglich Vorkehrungen treffen, um Menschen mit Behinderung im Falle einer solch medizinischen Krise zu schützen. Zu anderen Personengruppen äußerten sich die Karlsruher Richter:innen indes nicht. Der Erste Senat hatte ausschließlich über ein Diskriminierungsverbot von Behinderten zu entscheiden, die die Verfassungsbeschwerde erfolgreich einlegten. Im August 2020 hatte ihr Eilantrag hingegen noch keinen Erfolg gehabt.

Beschwerdeführende rügen Untätigkeit

Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen rügten mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Untätigkeit des Gesetzgebers und warfen ihm vor, verfassungswidrig keine Vorgaben für die Triage-Situation gemacht zu haben. Eine solche drohe aktuell wegen der Corona-Pandemie. Sie brachten vor, mit ihren Beeinträchtigungen durch Covid-19 spezifisch gefährdet zu sein und dadurch ein erhöhtes Risiko tragen, daran auch zu sterben.

Sollte es daher bei medizinischen Behandlungen zu einer Triage-Situation kommen, seien sie benachteiligt. Denn gesetzliche Vorgaben für die Entscheidung über die Zuteilung der intensivmedizinischen Kapazitäten gibt es bislang nicht. Sie fürchteten daher eine benachteiligende Behandlung und rügten mit ihrer Verfassungsbeschwerde, dass der Gesetzgeber das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 III 2 GG verletze, weil er für den Fall einer Triage in der aktuellen Situation nichts unternommen habe, um Menschen mit Behinderungen wirksam vor einer solchen Benachteiligung zu schützen.

Bislang keine gesetzliche Grundlage

Tatsächlich gibt es bislang keine gesetzlichen Regelungen, wie medizinisches Personal im Falle einer Triage-Situation handeln soll beziehungsweise muss. Bei der Triage handelt es sich um ein medizinisches Dilemma, bei dem von Ärzt:innen bestimmt werden muss, wem die (nicht für alle ausreichenden) Ressourcen zukommen – und wem nicht. Dabei sollen so viele Menschen gerettet werden wie möglich, was aber nicht ohne eine Priorisierung geht. Diese Entscheidungen fallen schwer, denn sie entscheiden über Leben und Tod – ohne gesetzliche Grundlage.

Die Grundlage für eine solche Entscheidung bildeten bislang klinisch-ethische Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften, etwa der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Diese sind aber nicht rechtlich bindend. Entscheidendes Kriterium der Empfehlungen: Die klinischen Erfolgsaussichten. Wer also die besseren Chancen auf eine Heilung hat, soll danach die Plätze oder Geräte auf der Intensivstation bekommen. Durch ihre Beeinträchtigungen und Vorerkrankungen fürchteten die Beschwerdeführer, im Rahmen solcher Entscheidungen stets benachteiligt zu werden.

Verfassungsrechtlicher Dreh- und Angelpunkt: Art. 3 III 2 GG

Nun hat das BVerfG entschieden, dass der Gesetzgeber Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen muss. Das bisherige Unterlassen solcher Regelungen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger Behandlungsressourcen benachteiligt wird, verletze Art. 3 III 2 GG.

Art. 3 III 2 GG:

Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Das BVerfG führte zunächst aus, dass aus dem Grundrecht des Art. 3 III 2 GG gleich mehrere Schutzdimensionen folgen: Zum einen schützt Art. 3 III 2 GG abwehrrechtlich gegen staatliche Benachteiligung, zum anderen enthält es aber auch das Gebot, Benachteiligungsgruppen wegen einer Behinderung durch Maßnahmen auszugleichen. Schließlich entfaltet das Grundrecht auch seine Auswirkungen auf alle Reichsgebiete als objektive Wertentscheidung.

Außerdem folgt aus Art. 3 III 2 GG auch ein Schutzauftrag für den Gesetzgeber, der sich in bestimmten Situationen zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten kann. Dazu gehören Situationen, die von struktureller Ungleichheit geprägt sind – dies könnte bei einer drohenden Triage der Fall sein.

BVerfG: Gesetzgeber muss Regelungen treffen

In Karlsruhe erkannte man in der aktuellen Situation eine konkrete Pflicht des Staates, wirksame Vorkehrungen zu treffen. In unserer Rechtsordnung, die auf eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft ausgerichtet ist, dürfe eine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung nicht hingenommen werden, insbesondere dann nicht, wenn diese unmittelbar das Leben und die Gesundheit bedrohen.

Besteht das Risiko, dass Menschen in einer Triage-Situation bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt werden, verdichtet sich der Schutzauftrag […] zu einer konkreten Pflicht des Staates, hiergegen wirksame Vorkehrungen zu treffen.

Daher forderten die Karlsruher Richter:innen den Gesetzgeber auf, entsprechende Regelungen zu treffen. Dabei bestehe ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum, wie die konkrete Schutzpflicht aus Art. 3 III 2 GG erfüllt werden soll und dem Gesetzgeber kommen dadurch mehrere Möglichkeiten zu, ein Risiko der Benachteiligung zu bekämpfen. Das Gesundheitswesen dürfe dabei aber nicht in personeller und sachlicher Hinsicht belastet werden, außerdem dürfen durch gesetzliche Mechanismen Patient:innen ohne Behinderung wiederum nicht benachteiligt werden.

Abschließend betonte das BVerfG, dass die verbotene Abwägung von Leben gegen Leben nicht von vornherein einer Regelung entgegenstehe, Kriterien zu treffen, nach denen zu entscheiden ist, wie die Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden. Der Gesetzgeber könne etwa Vorgaben zum Verfahren machen: Der Erste Senat nannte an dieser Stelle ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen oder bestimmte Dokumentationspflichten, um eine Entscheidung bei der Triage nachvollziehbar zu machen. Schließlich könnte der Gesetzgeber, so der Erste Senat, auch Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege treffen, um auf die Vermeidung von Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triage-Situation hinzuwirken.

Reaktionen

Es handelt sich um eine aufsehenerregende Entscheidung des BVerfG, die von mehreren Seiten positiv entgegengenommen wird. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte die Entscheidung und betonte, dass Menschen mit Behinderung mehr als alle anderen staatlichen Schutz bräuchten – erst recht im Fall einer Triage. Ähnlich kommentierte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) die Ausführungen des BVerfG. Gegenüber der „Rheinischen Post“ führte er aus, dass Fragen von Leben und Tod durch den Gesetzgeber entschieden werden müssten und nicht durch private Übereinkünfte.

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, geht sogar noch einen Schritt weiter und sieht in der Karlsruher Entscheidung eine generelle Bedeutung über die Pandemie hinaus. Er verweist darauf, dass durch Behinderungen auch in anderen medizinischen Bereichen keine Benachteiligungen geschaffen werden dürften, etwa bei Organspenden oder in der Pflege.

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