Justiz-Streit zwischen Polen und der EU spitzt sich zu
Nach Auffassung des polnischen Verfassungsgerichts verstoßen Teile des EU-Rechts gegen die polnische Verfassung. Der Europäische Gerichtshof dürfe keine Entscheidungen über die polnische Justiz treffen. Das Urteil ist juristisches Neuland, zwischen Warschau und Brüssel verschärft sich der Konflikt. Droht ein rechtlicher „Polexit“?
Worum geht es?
Das Trybunał Konstytucyjny hat Anfang Oktober ein Urteil getroffen, das für Aufsehen sorgt. Insbesondere in Brüssel, dem Herzen der Europäischen Union, sorgt man sich um die Auffassung des polnischen Verfassungsgerichts. Denn dieses hat entschieden, dass Teile des EU-Rechts nicht mit der Verfassung des souveränen Staates Polen vereinbar seien. Es geht um die Frage nach dem Vorrang des Rechts und Vorwürfe an den EuGH, dass er sich unberechtigt in das polnische Justizwesen einmische. Der Streit zwischen Polen und der EU spitzt sich zu.
Streit um polnische Justizreform
Konkret ging es in dem Verfahren vor dem obersten Gericht um die Frage, ob Bestimmungen aus den EU-Verträgen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitspracherecht bei Fragen nach der Rechtsstaatlichkeit begründet, mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Mateusz Morawiecki, der polnische Regierungschef der nationalkonservativen PiS-Partei, hatte das Gericht um Klärung der Frage gebeten.
Hintergrund ist ein mittlerweile jahrelanger Streit zwischen der EU und Polen, der die umstrittene Justizreform des Landes betrifft. Zuletzt äußerte der EuGH im März 2021 rechtsstaatliche Bedenken bezüglich der Justizreform, die Kritiker:innen zufolge insbesondere regierungskritische Richter:innen unter Druck setze. Dem europäischen Gericht zufolge könnte der polnische Richterwahlmodus durch den Landesjustizrat KRS unionsrechtswidrig sein. Das EU-Recht könne den Mitgliedstaat Polen daher zwingen, einzelne nationale Vorschriften außer Acht zu lassen – auch wenn es um Verfassungsrecht geht.
Überblick Europarecht: Rechtsakte der EU
Urteil des polnischen Verfassungsgerichts
Dies sah das polnische Verfassungsgericht anders, das selbst im Mittelpunkt der Kritik steht. Kritiker:innen zweifeln daran, ob es sich bei dem Trybunał Konstytucyjny noch um ein politisch unabhängiges Gericht handelt. Dessen Entscheidung rührt nun an den Grundsätzen der Europäischen Union und betrifft den Anwendungsvorrang des EU-Rechts. Denn mit EU-Beitritt übertrag ein Mitgliedstaat eine Reihe an Kompetenzen, wodurch die Europäische Union verbindliches Recht für alle schaffen kann. Dabei gilt der Grundsatz, dass das unmittelbar anwendbare Unionsrecht Anwendungsvorrang vor jeglichem nationalen Recht genießt – also auch vor nationalem Verfassungsrecht. So sehen es zumindest der EuGH und das BVerfG.
Das polnische Verfassungsgericht beurteilt dies nun anders – zumindest dann, wenn es um den sensiblen Bereich des nationalen Justizwesens gehe. Zwar sei das Land weiterhin bereit, EU-Regeln zu respektieren. Dies allerdings nur in den von EU-Verträgen ausdrücklich und direkt abgedeckten Bereichen. Ansonsten seien Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar, da diese über dem EU-Recht stehe, so das Gericht. In der polnischen Entscheidung heißt es:
Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstößt gegen […] die Regeln des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regeln, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt bleibt.
Die Verfassungsgerichtspräsidentin Przylebska erklärte, dass die EU-Integration einen Stand erreicht habe, in dem die Verfassung nicht das höchste Recht der Republik Polen sei – was mit der Verfassung unvereinbar sei.
Die Organe der EU handeln außerhalb der Grenzen der Kompetenz, die ihnen von Polen zuerkannt wird.
Brüssel zeigt sich besorgt
Die EU-Kommission reagierte „besorgt“ auf die Entscheidung aus Polen. EU-Justizkommissar Didier Reynders kommentiert, dass Brüssel „alle Mittel“ ausschöpfen werde, damit das EU-Recht in Polen gewahrt bleibe. Konkret könnte es um viel Geld gehen, die EU könnte dem Mitgliedstaat etwaige Mittel kürzen. Verschiedene Expert:innen sprechen außerdem von einem „rechtlichen Polexit“. Der französische Europa-Staatssekretär Clément Beaune sprach sogar von einem „Angriff auf die EU“.
Solange-Entscheidung des BVerfG
Die Frage nach dem Anwendungsvorrang von Unionsrecht wurde dabei auch schon vom BVerfG und vom EuGH beantwortet. 1964 hatte der EuGH in der Rechtssache Costa/ENEL den absoluten Vorrang des Europarechts gegenüber allen Normen des nationalen und damit auch des Verfassungsrechts von Mitgliedstaaten festgestellt. Wesentlich waren dabei zwei Gedanken: Zum einen der Gedanke, dass Mitgliedstaaten bewusst auf Souveränitätsrechte verzichtet haben. Von der Übertragung von Hoheitsrechten sollen sich Mitgliedstaaten nicht mehr einseitig durch Schaffung nationaler Rechtsvorschriften lösen können. Zum anderen könnten ansonsten die Vertragsziele gefährdet werden, wenn nationalstaatliches Recht Vorrang vor Unionsrecht hätte.
Und wenn es um das Verhältnis von deutschem Recht und Unionsrecht geht, kommt man an zwei Entscheidungen des BVerfG nicht vorbei: Solange I und II. Ausgangspunkt in unserer Verfassung ist Art. 24 I GG. Art. 24 Abs. 1 GG ordnet zwar nicht schon selbst die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit des von der zwischenstaatlichen Einrichtung gesetzten Rechts an, noch regelt er unmittelbar das Verhältnis zwischen diesem Recht und dem innerstaatlichen Recht, etwa die Frage nach dem Anwendungsvorrang. Art. 24 Abs. 1 GG ermöglicht es aber die Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen und dem von solchen Einrichtungen gesetzten Recht Geltungs- und Anwendungsvorrang vor dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland durch einen entsprechenden innerstaatlichen Anwendungsbefehl beizulegen.
Dies ist für die europäischen Gemeinschaftsverträge und das auf ihrer Grundlage von den Gemeinschaftsorganen gesetzte Recht durch die Zustimmungsgesetze zu den Verträgen gemäß Art. 24 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 1 GG geschehen. Aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag, der sich auf Art. 189 Abs. 2 EWGV erstreckt, ergibt sich die unmittelbare Geltung der Gemeinschaftsverordnungen für die Bundesrepublik Deutschland und ihr Anwendungsvorrang gegenüber innerstaatlichem Recht.
Worum es bei Solange I und Solange II genau ging und was davon besonders prüfungsrelevant ist, haben wir hier für Dich klausurorientiert aufbereitet:
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