FDP, Grüne und Linken scheitern mit Eilantrag vor dem BVerfG
Der Zweite Senat des BVerfG hat einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung von 216 Mitgliedern des Deutschen Bundestages aus den Oppositionsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und der FDP abgelehnt. Die Antragsteller:innen wollten erreichen, dass die im Herbst 2020 beschlossene Wahlrechtsreform bei der kommenden Bundestagswahl im September nicht anzuwenden ist. Das BVerfG sieht aber möglicherweise problematische Punkte und will die Reform im Hauptsacheverfahren nochmal genau prüfen.
Worum geht es?
Im Bundestag herrscht zwischen den Parteien im Grunde Einigkeit darüber, dass der auf mittlerweile 709 Sitze angewachsene Bundestag wieder kleiner werden muss. Heute sind es schließlich fast 100 Abgeordnete mehr als noch vor zehn Jahren. Dies wirkt sich auch finanziell aus: Im Jahr 2019 beliefen sich die Kosten für den Bundestag auf knapp 1 Milliarde Euro - allein die Diäten der 709 Abgeordneten machen hiervon 460 Millionen Euro aus. Ein solch großes Parlament kostet den Steuerzahler aber nicht nur viel Geld, es ist zudem auch ingesamt weniger arbeitsfähig. Nach aktuellen Berechnungen könnte der Bundestag sogar auf bis zu 1.000 Abgeordnete anwachsen. Die Parteien konnten sich in den letzten Jahren aber auf keine gemeinsame Lösung einigen, mit der sie den Bundestag künftig verkleinern könnten. Und so kam es, dass Union und SPD schließlich im Oktober 2020 praktisch im Alleingang eine Änderung beschlossen, die von vielen Experten und insbesondere von den Oppositionsfraktionen kritisiert wird.
Mit der Gesetzesänderung sollen bis zu drei Überhangmandate nicht mehr kompensiert werden, es soll aber weiterhin an den 299 Wahlkreisen festgehalten werden. FDP, Linke und Grüne hatten zusammen einen alternativen Entwurf für die Gesetzesänderung vorgelegt, der nur 250 Wahlkreise vorsah – ohne Erfolg. In den neuen Regelungen von Union und SPD sehen sie einen Verstoß gegen die Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 I GG und die Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 I 1 GG. Die Regelungen seien zudem so ungenau, dass das Gebot der Normenklarheit aus Art. 20 III in Verbindung mit Art. 20 I und II GG verletzt werde. Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle versuchen sie nun gegen die Änderungen vorzugehen.
Prüfungsaufbau: Abstrakte Normenkontrolle
Relevante Lerneinheit
BVerfG hält Verstoß für möglich
Das BVerfG hält es zumindest für möglich, dass die Kritik nicht unberechtigt ist und will die Fragen im Hauptsacheverfahren nochmal genauer prüfen. Nach Ansicht des BVerfG erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass insbesondere die vorgesehenen Neuregelungen in § 6 BWahlG gegen das Bestimmtheitsgebot und das Gebot der Normenklarheit verstoßen.
Möglicher Verstoß gegen Bestimmtheitsgebot und Gebot der Normenklarheit
Denn nach dem im Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 III GG gründenden Gebot hinreichender Bestimmtheit sei der Gesetzgeber gehalten, Vorschriften so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. Daher sei auch im Bereich wahlrechtlicher Normen ein hinreichender Grad an Bestimmtheit geboten, da der Wahlvorgang der entscheidende Akt sei, in dem der permanente Prozess der Willensbildung des Volkes in die staatliche Willensbildung eingehe.
Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Neuregelungen in § 6 BWahlG diesen Anforderungen nicht genügen. Der Wortlaut des § 6 Abs. 5 Satz 4 BWahlG verhält sich nicht dazu, ob die dort genannten bis zu drei Wahlkreismandate, die bei der Sitzzahlerhöhung unberücksichtigt bleiben sollen, pro Land, pro Partei oder insgesamt auf alle Parteien in allen Ländern bezogen sind. Zwar scheint es naheliegend, dass sich der Regelung im Wege der Auslegung entnehmen lässt, dass insgesamt bis zu drei „Quasi-Überhangmandate“ aus der ersten Verteilung nicht ausgeglichen werden sollen. Die abschließende Beurteilung diesbezüglich muss aber dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Auch im Hinblick auf § 6 Abs. 6 BWahlG erscheint es jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich bei der Auslegung Widersprüche ergeben, die eine zweifelsfreie Normauslegung im Ergebnis unmöglich machen.
Möglicher Verstoß gegen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien
Auch bezüglich der Verletzung der Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien sei der Normenkontrollantrag der Oppositionsfraktionen nicht offensichtlich unbegründet:
Mit dem Anfall von nicht ausgeglichenen Überhangmandaten wird der Erfolgswert der abgegebenen Stimmen differenziert, da Wählerinnen und Wähler mit ihrer Erststimme zum Gewinn von Wahlkreismandaten beitragen, die nicht mit Listenmandaten verrechnet werden können. Auch die Chancengleichheit der politischen Parteien ist betroffen, denn bei einer Partei, die einen unausgeglichenen Überhang erzielt, entfallen auf jeden ihrer Sitze weniger Zweitstimmen als bei einer Partei, der dies nicht gelingt. Dies kann nur in begrenztem Umfang durch das Anliegen einer mit der Personalwahl verbundenen Verhältniswahl gerechtfertigt werden. In der Vergangenheit hat der Senat einen angemessenen Ausgleich zwischen der möglichst proportionalen Abbildung des Zweitstimmenergebnisses im Deutschen Bundestag einerseits und dem uneingeschränkten Erhalt von Wahlkreismandaten andererseits dann als nicht mehr gewahrt angesehen, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten (15 Mandate) überschreitet.
Es wäre daher möglich, dass die Einführung ausgleichsloser Überhangmandate mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 38 I 1 GG und Art. 21 I 1 GG nicht vereinbar seien. Gleichwohl stelle sich die Frage der Rechtfertigung des damit verbundenen Eingriffs in die wahlrechtlichen Gleichheitssätze. Sollte die Einführung von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten zur Stärkung des Persönlichkeitswahlelements nicht erforderlich sein, dann käme die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Bundestages als rechtfertigendes und gleichwertiges Verfassungsgut als Regelung in Betracht. Dies müsse im Hauptsacheverfahren genauer geprüft werden.
§ 6 BWahlG (neue Fassung) verstößt möglicherweise in seiner Gesamtheit gegen verfassungsrechtliche Anforderungen
Das BVerfG stellt zudem dar, dass § 6 BWahlG in seiner neuen Fassung auch unabhängig vom Vortrag der den Antrag stellenden Parteien von Verfassungs wegen zu beanstanden sein könnte und hier noch zu klären sei, ob § 6 BWahlG in seiner Gesamtheit den verfassungsrechtlichen Anforderungen genüge – insbesondere was die Klarheit und Verständlichkeit von Rechtsnormen anbelangt.
Das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot der Normenklarheit soll sicherstellen, dass die Rechtsunterworfenen den Inhalt einer Norm nachvollziehen können. Demgemäß könnte der Gesetzgeber – vorbehaltlich einer weiteren Erörterung im Hauptsacheverfahren – verpflichtet sein, ein Wahlverfahren zu schaffen, in dem die Wählerinnen und Wähler vor dem Wahlakt erkennen können, wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerberinnen und -bewerber auswirken kann.
Es ist jedenfalls nicht offensichtlich ausgeschlossen, dass § 6 BWahlG in seiner neuen Fassung dem nicht genügt. Bereits vor der verfahrensgegenständlichen Neuregelung wies § 6 BWahlG mit der Kombination aus erster Verteilung, Sitzzahlerhöhung und zweiter Verteilung in Verbindung mit den Zwischenschritten der jeweiligen Ober- und Unterverteilung einen erheblichen Komplexitätsgrad auf. Dieses Verfahren wurde mit der Neuregelung unter anderem um die Nichtberücksichtigung von bis zu drei Überhangmandaten bei der Berechnung der Sitzzahlerhöhung ergänzt, wodurch der Komplexitätsgrad der Vorschrift weiter gesteigert wurde.
BVerfG lehnt einstweilige Anordnung aber ab
Auch wenn das BVerfG den Normenkontrollantrag für weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet ansieht, hat es den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Mit Blick auf die Legitimationsfunktion der Wahl entstünde in beiden Varianten eine vergleichbare Situation: Würde die einstweilige Anordnung nicht erlassen und sollte sich der Nomrenkontrollantrag als begründet erweisen, dann bestünden aufgrund des unterlassenen Ausgleichs von bis zu drei Überhangmandaten erhebliche Legitimationsdefizite des nach dem geänderten Wahlrecht zusammengesetzten Bundestages. Dies könnte zudem zu einer Veränderung der parlamentarischen Mehrheit führen.
Würde die einstweilige Anordnung hingegen erlassen werden und bliebe der Normenkontrollantrag dann ohne Erfolg, ergäben sich Beeinträchtigungen der legitimatorischen Wirkung der Bundestagswahl. Denn in so einem Fall bliebe eine verfassungsgemäße Änderung des Bundestagswahlrechts außer Betracht, sodass aufgrund des Vollausgleichs aller “Quasi-Überhangmandate” gegebenenfalls mehrheitsrelevante Sitze zugeteilt würden, die auf der Grundlage des geänderten Bundestagswahlrechts nicht angefallen wären.
Für die Außervollzugsetzung eines Gesetzes bedarf es Gründe von besonderem Gewicht. Im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung können die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe den damit verbundenen Eingriff in die Zuständigkeit des Gesetzgebers aber aus Sicht des BVerfG nicht rechtfertigen.
Prüfungsaufbau: Einstweilige Anordnung
Relevante Lerneinheit
Wie kann es denn überhaupt sein, dass der Bundestag stetig wächst und wie wirkt sich die Eilentscheidung des BVerfG jetzt aus?
Dass der Bundestag in den letzten Jahren gewachsen ist, liegt an bestimmten „Abweichungen“ – damit sind die Überhang- und Ausgleichsmandate gemeint. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei bei der Wahl mehr Direktmandate über die Erststimmen erhält, als ihr Sitze im Bundestag gemäß der Anzahl der Zweitstimmen zustehen. Es entsteht eine Erweiterung. Die Partei kann daher mehr Abgeordnete stellen, als ihr der Anteil an Zweitstimmen verspricht. Zusätzlich kommen die Ausgleichsmandate für die anderen Parteien ins Spiel. Die angefallenen Überhangmandate werden durch diese Ausgleichsmandate ausgeglichen. Die Gesamtzahl der Sitze im Bundestag wird dadurch so lange vergrößert, bis die Parteien mit Überhangmandaten keinen relativen Vorteil mehr darstellen.
Experten schätzen, dass die Zahl der Abgeordnete weiter steigen wird. Als Grund dafür führen sie an, dass sich die Volksparteien in einer schwachen Position befänden – dadurch entstünden viele zusätzliche Überhangmandate. Je kleinteiliger das Parteiensystem, desto größer werde der Bundestag.
Auf die Stimmabgabe der Wähler:innen hat das aktuelle Verfahren am BVerfG und die aktuell veröffentlichte Eilentscheidung aber keine unmittelbaren Auswirkungen. In dem Verfahren geht es insbesondere darum, nach welchen Regeln die abgegebenen Stimmen in Mandate umgerechnet werden.
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