Nach EZB-Urteil des BVerfG: Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fahren gegen Deut­sch­land ein­ge­leitet

Nach EZB-Urteil des BVerfG: Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fahren gegen Deut­sch­land ein­ge­leitet

EU-Kommission hält Urteil des BVerfG für “gefährlichen Präzedenzfall”

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den milliardenschweren Staatsanleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) hat vor etwa einem Jahr europaweit für Wirbel gesorgt. Nun hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV gegen Deutschland eingeleitet. Sie hält das Urteil für einen “gefährlichen Präzedenzfall”.

Das Urteil hatte 2020 teils Zustimmung erhalten, aber auch für viel Kritik gesorgt. Es hat insbesondere Fragen über das Verhältnis von BVerfG und EuGH aufgeworfen.

Worum geht es?

Hintergrund ist eine Entscheidung des BVerfG, welche im Mai vergangenen Jahres für viel Aufsehen sorgte. Der Zweite Senat hatte die Wertpapierkäufe der EZB ebenso wie ein einschlägiges Urteil des EuGH als ausbrechende Rechtsakte (“ultra vires”) bewertet. Die EZB habe laut BVerfG mit ihren Beschlüssen zum Staatsanleihekaufprogramm aus 2015 kompetenzüberschreitend gehandelt (Urteil vom 05.05.2020, Az. 2 BvR 859/15 u.a.). Die Verfassungsbeschwerden mehrerer Personen waren insofern erfolgreich, als die Richter feststellten, dass Bundesregierung und Bundestag es unterlassen haben, gegen die EZB-Entscheidung für das Public Sector Purchase Programme (PSPP) vorzugehen.

Dem stehe auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11. Dezember 2018 nicht entgegen, da es im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der zur Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüsse nicht mehr nachvollziehbar - und damit ebenfalls “ultra vires” - ergangen sei.

Hintergrund des BVerfG-Urteils

Die EZB hat 2015 ein neues Programm ins Leben gerufen - das PSPP - und Staatsanleihen angekauft. Mit dem Kaufprogramm wollte die EZB eine drohende Deflation bekämpfen und die Wirtschaft in der EU ankurbeln. Bis Ende 2018 belief sich das Gesamtvolumen der Ankäufe auf etwa 2,6 Billionen Euro.

Der EZB obliegt aber grundsätzlich nur ein Mandat für Geldpolitik; Wirtschaftspolitik ist hingegen Sache der einzelnen Mitgliedstaaten. Im Kern ging es also um die Frage, wie viel wirtschaftspolitische Folgen eine geldpolitisch deklarierte Maßnahme der EZB haben darf - also, ob sie mit ihrer PSPP-Maßnahme im Ergebnis kompetenzwidrig gehandelt hat.

2017 hatten die BVerfG-Richter des 2. Senats dem EuGH daraufhin mehrere Fragen zum PSPP-Verfahren vorgelegt. Diese Fragen betrafen vor allem das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, das Mandat der EZB für die Währungspolitik und einen möglichen Übergriff in die Zuständigkeit und Haushaltshoheit der Mitgliedstaaten. Sie befürchteten, dass der Ankauf eine verdeckte Staatsfinanzierung sein könnte, die zulasten des deutschen Steuerzahlers gehe.

Der EuGH hielt die Bedenken des BVerfG hinsichtlich des Ankaufprogramms für unbegründet. Er hatte der EZB einen weiten Beurteilungsspielraum eingeräumt.

Die Verfassungsbeschwerden, über die das BVerfG entscheiden musste, richteten sich gegen das Anleihekaufprogramm. Die Deutsche Bundesbank dürfe an diesem Programm nicht mitwirken und der Bundestag sowie die Bundesregierung seien verpflichtet, geeignete Maßnahmen gegen das Programm zu ergreifen.

Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet

Nun hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. In Art. 258 AEUV heißt es:

“Hat nach Auffassung der Kommission ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen, so gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme hierzu ab; sie hat dem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung zu geben.

Kommt der Staat dieser Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission den Gerichtshof der Europäischen Union anrufen.”

Laut EU-Kommission verstoße das Urteil des BVerfG gegen den Vorrang des EU-Rechts. Deutschland habe damit gegen fundamentale Prinzipien des EU-Rechts verstoßen. Insbesondere habe sich das BVerfG gegen einen Spruch des EuGH hinweggesetzt. Dies sei ein gefährlicher Präzedenzfall, da Urteile des obersten EU-Gerichts für alle Mitgliedstaaten bindend seien. Mit der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens hat die Bundesregierung nun zwei Monate Zeit, sich schriftlich zu den Vorwürfen zu äußern.

Aufbau der Prüfung: Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 ff. AEUV
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