Das Prozessgutachten in der Beklagtenklausur: Materielles Gutachten
Nachdem wir in den Teilen 1 bis 6 die Klägerklausur besprochen haben, geht es in der Beitragsreihe nunmehr um die sog. Beklagtenklausur. Auch bei der Beklagtenklausur geht es für Dich um die Frage, ob der Mandant mit Erfolg gerichtlich vertreten werden kann. Gegenüber der Klägerklausur gibt es einen Unterschied im Aufbau, der daraus resultiert, dass bereits ein Prozess läuft. Wie ein praktisch tätiger Anwalt auch, machst Du Dir die Mühe einer materiellen Prüfung erst, wenn Du weißt, dass der Mandant prozessual überhaupt noch verteidigt werden kann. Deshalb prüfst Du hier vor dem materiellen Gutachten die Prozesslage. Die Darstellung erfolgt an den problematischen Stellen wieder im Gutachtenstil, sonst im Urteilsstil.
Beispielsfall:
*Bei Rechtsanwältin Dr. Rogge, Neuer Wall 10, 20345 Hamburg, erscheint am 2. Oktober 2020 Giulia Gambetti, Geschäftsführerin der Gambetti Stahlhandel Hamburg GmbH, und berichtet Folgendes:**Ihr sei vorgestern vom Landgericht Hamburg eine Klage zugestellt worden. Sie beliefere die in Hamburg ansässige Klägerin (Hamburg Steel GmbH, Geschäftsführer Robert Smith) seit Jahren jeden Monat mit 20 Tonnen Stahl zum Preis von 10.000,00 Euro. Die Klägerin verfolge nun einen Schadensersatzanspruch über 10.000,00 Euro wegen eines angeblichen Materialfehlers der Lieferung vom Februar 2020. Die Oberfläche des Stahls soll entgegen der vereinbarten Qualität Risse aufgewiesen haben und dadurch unbrauchbar gewesen sein. Die Klägerin will deshalb einen Deckungskauf getätigt haben, was die Mandantin bezweifelt. Die Mandantin räumt den weiteren Vortrag der Klägerin ein, dass sie zur Lieferung mangelfreien Stahls aufgefordert worden sei, dies aber verweigert habe, da nach ihrer Einschätzung ein Mangel des gelieferten Stahls nicht vorgelegen habe, auch wenn ein Sachverständiger in einem selbstständigen Beweisverfahren die Risse festgestellt habe. Aus dem Gutachten ergebe sich aber auch, dass die Risse erst im Verarbeitungsprozess erkennbar gewesen seien. Im Übrigen könne sie für Materialfehler sowieso nichts, da sie den Stahl selbst nur von der EKO Stahl AG, Vorstandsvorsitzender Karl Döring, Werkstraße 1, 15890 Eisenhüttenstadt, beziehe.**Sie wolle die Attacke aber nutzen, um offene Forderungen gegen die Klägerin zu verwerten. Ihr stehe ein Anspruch über 15.000,00 Euro aus Lieferungen an die Klägerin im Oktober 2019 (5.000,00 Euro) und Dezember 2019 (10.000,00 Euro) zu; die Zahlung habe sie auch mehrfach erfolglos angemahnt.**Sie bittet, alle erforderlichen Schritte zur umfassenden Bereinigung einzuleiten.**Das Landgericht (Zivilkammer, Az.: 338 O 258/20) hat das schriftliche Vorverfahren angeordnet. Die Klageerwiderungsfrist beträgt drei Wochen.*Frau Dr. Rogge bittet dich darum, die Sach- und Rechtslage umfassend zu prüfen und ggf. eine Klageerwiderung zu erstellen.
A. Begehr des Mandanten
Wie bei der Klägerklausur stellst Du zunächst das Begehr des Mandanten dar.
„Der Mandantin ist eine Schadensersatzklage über 10.000,00 Euro wegen einer mangelhaften Lieferung zugestellt worden, die sie für unbegründet hält und gegen die sie sich deshalb verteidigen möchte. Gleichzeitig möchte sie Gegenansprüche in Höhe von 15.000,00 Euro gegen die Klägerin durchsetzen.“
B. Prozesslage
Wie bereits gesagt, steigst Du nicht sofort in das materielle Gutachten ein, sondern prüfst zuerst die Prozesslage. Dabei geht es um die Frage:
Was kann der Mandant prozessual erreichen?
Es kommt entscheidend darauf an, ob die vom Gericht gesetzten Fristen noch laufen und falls nicht, welche Konsequenzen damit verbunden sind. Hierfür musst Du feststellen, ob das Gericht einen frühen ersten Termin anberaumt oder das schriftliche Vorverfahren angeordnet hat.
I. Früher erster Termin (§ 275 Abs. 1 ZPO)
Ergibt sich aus den Aktenauszug, dass ein früher erster Termin stattfinden soll, musst Du prüfen, ob das Gericht eine Klageerwiderungsfrist gesetzt hat (Satz 1). Ist das nicht der Fall, sind die Verteidigungsmittel des Mandanten unverzüglich vorzubringen (Satz 2).
Ist die Klageerwiderungsfrist abgelaufen, droht dem Mandanten, mit seinen Verteidigungsmitteln präkludiert zu sein, wenn deren Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde (§ 296 Abs. 1 ZPO). Hier gilt es deshalb, den Schriftsatz schnellstmöglich nachzureichen.
II. Schriftliches Vorverfahren (§ 276 Abs. 1 ZPO)
Im schriftlichen Vorverfahren läuft zunächst die Frist zur Anzeige der Verteidigungsbereitschaft ab (Satz 1). Sie ist eine Notfrist und beträgt zwei Wochen ab Zustellung der Verfügung. Nach ihrem Ablauf droht der Erlass eines Versäumnisurteils gegen den Mandanten (§ 331 Abs. 3 ZPO). Das gilt aber nicht, wenn die Verteidigungsanzeige noch eingeht, bevor das Versäumnisurteil auf die Geschäftsstelle des Gerichts gelangt ist. Deshalb sollte die Verteidigungsanzeige – in der Klausur verbunden mit der Klageerwiderung – umgehend nachgereicht werden.
Mit dem Ablauf der Verteidigungsanzeigefrist beginnt die Klageerwiderungsfrist. Sie beträgt mindestens zwei Wochen und ist keine Notfrist, kann also auf einen vor Ablauf eingereichten Antrag hin verlängert werden. Ist die Frist rechnerisch bereits abgelaufen, musst Du prüfen, ob die Zustellung wirksam war, denn andernfalls hat die Frist gar nicht begonnen. Erfolgte die Zustellung ordnungsgemäß, droht dem Mandanten die Präklusion seiner Verteidigungsmittel, wenn deren Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde (§ 296 Abs. 1 ZPO).
Hierfür müsste aber überhaupt schon terminiert worden sein und der Termin so zeitnah anstehen, dass das Gericht bspw. mögliche Zeugen nicht mehr rechtzeitig laden könnte. In jedem Fall sollte die Klageerwiderung schnellstmöglich nachgereicht werden.
„Die Prozesslage stellt sich wie folgt dar: Der Mandantin ist am 30. September 2020 die Klage und die Verfügung über die Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens zugestellt worden. Die zweiwöchige Notfrist zur Anzeige der Verteidigungsbereitschaft hat mit dieser Zustellung begonnen und endet am 14. Oktober 2020. Erst dann beginnt die dreiwöchige Klageerwiderungsfrist. Es bleibt deshalb ausreichend Zeit zu prüfen, ob eine Verteidigung gegen die Klage Aussicht auf Erfolg hat und zweckmäßig ist.“
C. Materielles Gutachten
Im materiellen Gutachten geht es wieder um die Frage, was der Mandant materiell erreichen kann, konkret:
Hat eine Verteidigung gegen die Klage Aussicht auf Erfolg?
I. Ist die Klage zulässig?
Zunächst prüfst Du, ob sich aus der Klageschrift oder anderen Angaben im Aktenauszug Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Klage unzulässig sein könnte. Gibt es diese Anhaltspunkte nicht, fasst Du dich kurz.
„Weder aus der Klageschrift noch aus den sonstigen Angaben der Mandantin ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass die Klage unzulässig sein könnte.“
II. Ist die Klage schlüssig?
Eine unschlüssige Klage wird abgewiesen, ohne dass es auf den Vortrag des Beklagten überhaupt ankommt. Die effektivste Verteidigung ist es deshalb, die Schlüssigkeit der Klage anzugreifen. Das setzt natürlich voraus, dass es Angriffspunkte gibt. Hierzu prüfst Du, ob der Kläger zu allen Anspruchsvoraussetzungen Tatsachen vorgetragen hat bzw. ob dort, wo es an einem Vortrag fehlt, Ausnahmen von der Darlegungslast gelten.
„Anhand der Klageschrift ist zu prüfen, ob die Klägerin einen Schadensersatzanspruch gegen die Mandantin schlüssig dargetan hat.
Der Anspruch auf Zahlung von 10.000,00 Euro für eine mangelhafte Lieferung im Februar 2020 könnte sich aus §§ 281 Abs. 1, 437 Nr. 3 BGB ergeben.
Hierzu müsste die Klägerin darlegen, dass die Mandantin im Februar 2020 mangelhaften Stahl geliefert hat, die Ist-Beschaffenheit im Zeitpunkt der Lieferung also von der Soll-Beschaffenheit zum Nachteil der Klägerin abgewichen ist. Zur Ist-Beschaffenheit hat die Klägerin vorgetragen, dass der Stahl Risse in der Oberfläche aufgewiesen habe. Ihr Vortrag lässt sich nur dahin verstehen, dass dies schon bei der Lieferung der Fall gewesen sei. Da sie hierin einen Materialfehler sieht, ist sie der Auffassung, dies entspreche nicht der vereinbarten Qualität. Sie behauptet also eine Beschaffenheitsvereinbarung (§ 434 Abs. 1 Satz 1 BGB). Damit hat sie einen Mangel schlüssig dargetan.
Ein Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung setzt weiter voraus, dass die Klägerin der Mandantin eine angemessene Frist zur Nacherfüllung gesetzt und diese erfolglos abgelaufen ist. Die Klägerin hat vorgetragen, dass sie die Mandantin zur Lieferung mangelfreien Stahls aufgefordert, die Mandantin dies aber abgelehnt habe. Wie lang die Frist war, lässt sich der Klage allerdings nicht entnehmen, so dass nicht beurteilt werden kann, ob die Frist angemessen war. Hierauf kommt es aber nicht an, da die Klägerin weiter behauptet hat, dass die Mandantin eine Nachlieferung abgelehnt habe (§ 281 Abs. 2 Alt. 1 BGB).
Der Schadensersatzanspruch setzt zwar ein Verschulden der Mandantin voraus, zu dem sich in der Klage keine Ausführungen finden. Nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB wird jedoch das Verschulden der Mandantin vermutet, so dass es tatsächlich keines Vortrags der Klägerin bedarf.
Schließlich müsste die Klägerin auch den Schaden schlüssig dargelegt haben. § 281 Abs. 1 BGB gewährt Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Die Klägerin kann also verlangen, so gestellt zu werden, wie sie bei mangelfreier Lieferung gestanden hätte. Sie hätte dann Stahl der vereinbarten Qualität erhalten und dafür an die Mandantin 10.000,00 Euro gezahlt. Durch den behaupteten Deckungskauf musste sie zusätzlich 10.000,00 Euro aufwenden. Hierin liegt ihr ersatzfähiger Schaden.
Die Klage ist schlüssig.“
III. Ist erhebliches Mandantenvorbringen möglich?
Ist die Klage schlüssig, kann der Mandant nur dann Erfolg haben, wenn er die Anspruchsvoraussetzungen bestreitet und/oder Einwendungen und Einreden gegen den Anspruch vorbringen kann.
1. Können einzelne Tatsachenbehauptungen des Klägers bestritten werden?
Gemäß § 138 Abs. 2 ZPO muss sich der Mandant zum schlüssigen Klägervortrag äußern. Tut er das (teilweise) nicht, wird der Klägervortrag als unstreitig behandelt und ohne Beweisaufnahme der Entscheidung des Gerichts zugrunde gelegt (§ 138 Abs. 3 ZPO).
Du prüfst zunächst, ob sich in den Schilderungen des Mandanten Hinweise finden, dass er bestimmte Tatsachenbehauptungen nicht gegen sich gelten lassen möchte.
Beachte: Die folgenden Schritte musst Du für jede einzelne Anspruchsvoraussetzung gesondert Durchlaufen, da Du nicht den gesamten Klägervortrag pauschal bestreiten darfst.
a) Dürfen sämtliche Tatsachen bestritten werden?
Tatsachen, die der Mandant ausdrücklich einräumt oder zu denen er sich nicht gegenteilig äußert, dürfen im Hinblick auf die Wahrheitspflicht der Parteien nach § 138 Abs. 1 ZPO nicht bestritten werden.
Außerdem kommt ein Bestreiten nicht in Betracht, wenn die behauptete Tatsache bereits in einem Vorprozess rechtskräftig festgestellt worden ist.
b) Wie kann/muss bestritten werden?
Kann eine Tatsachenbehauptung des Klägers bestritten werden, kommt es darauf an, welche Anforderungen dabei bestehen.
aa) Einfaches oder substantiiertes Bestreiten?
Ob ein einfaches Bestreiten des Klägervortrags genügt (Leugnen) oder ob der Mandant substantiiert (qualifiziert) bestreiten muss, indem er der Klägerbehauptung eine eigene Schilderung gegenüberstellt, hängt von der Qualität des Klägervortrags ab.
„Die Anforderungen an die Substanziierungslast des Bestreitenden hängen davon ab, wie substanziiert der darlegungspflichtige Gegner vorgetragen hat. In der Regel genügt gegenüber einer Tatsachenbehauptung des darlegungspflichtigen Kl. gem. § 138 II ZPO das einfache Bestreiten des Bekl. Ob und inwieweit die nicht darlegungsbelastete Partei ihren Sachvortrag darüber hinaus substanziieren muss, lässt sich nur aus dem Wechselspiel von Vortrag und Gegenvortrag bestimmen. Je detaillierter der Vortrag der darlegungsbelasteten Partei ist, desto höher ist die Erklärungslast des Gegners gem. § 138 II ZPO.“
BGH II ZR 88/16 Rn. 19
Behauptet der Kläger lediglich das Vorliegen einer Tatsache, genügt es, das pauschal zu bestreiten. Schildert er dagegen einen konkreten Sachverhalt, musst Du konkret erläutern, an welchen Stellen der Mandant anderer Auffassung ist.
bb) Sekundäre Darlegungslast
Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein einfacher Vortrag pauschal bestritten werden kann, gilt dann, wenn den Mandanten eine sekundäre Darlegungslast trifft.
„Ein substantiiertes Bestreiten (gemeint ist: trotz einfachen Vortrags) kann vom Prozessgegner nur gefordert werden, wenn der Beweis dem Behauptenden nicht möglich oder nicht zumutbar ist, während der Bestreitende alle wesentlichen Tatsachen kennt und es ihm zumutbar ist, nähere Angaben zu machen. Dies ist anzunehmen, wenn eine darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr vorzutragenden Geschehensablaufs steht und keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen besitzt, was insbesondere dort der Fall ist, wo das materielle Recht das Nichtvorliegen von Tatsachen zur Anspruchsvoraussetzung erhebt oder sonst nach den Gegebenheiten im konkreten Rechtsstreit das Nichtvorliegen eines Umstandes bewiesen werden muss. In diesen Fällen kann vom Prozessgegner im Rahmen des Zumutbaren das substantiierte Bestreiten der negativen Tatsache unter Darlegung der für das Positivum sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden.“
BGH II ZR 266/97
Die wichtigsten Beispiele:
- Der Kläger behauptet, der Beklagte habe den Mangel der Kaufsache arglistig verschwiegen (§ 444 BGB). Da die Arglist eine für den Kläger im Prozess günstige Tatsache ist, weil sich der Beklagte nicht auf den Gewährleistungsausschluss berufen dürfte, müsste er auch darlegen, dass der Beklagte den Mangel nicht offenbart hat. Naturgemäß kann er hierzu nicht viel sagen. Deshalb muss der Beklagte die Aufklärung in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Weise spezifizieren; der Kläger muss diesen Vortrag lediglich ausräumen (BGH V ZR 181/09 Rn. 12). Kommt der Beklagte der sekundären Darlegungslast nicht nach, gilt der Klägervortrag als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).
- Der Kläger macht eine Leistungskondiktion nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB geltend. Hierzu muss er vortragen, dass der Beklagte etwas durch Leistung und ohne Rechtsgrund erlangt hat. Wenn sich der Beklagte noch nicht dazu geäußert hat, warum er meint, das Erlangte behalten zu dürfen, ist es dem Kläger nicht möglich, den fehlenden Rechtsgrund darzulegen. Es ist deshalb zunächst die Sache des Beklagten, den Behaltensgrund zu benennen.
Beachte: Aus der sekundären Darlegungslast folgt keine sekundäre Beweislast.
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