Tupfer-Fall

A. Sachverhalt

Der Kläger war im Frühjahr 1949 an einem Bandscheibenvorfall erkrankt. Sein behandelnder Arzt, Dr. G. in K., überwies ihn in die Behandlung des Beklagten. Dieser operierte den Kläger am 31. Mai 1949. Bei der Operation wurden kleine und mittlere Wattetupfer verwendet, die mit schwarzen, aus der Wunde heraushängenden Fäden versehen waren, sowie große Gazetupfer, die mit Klemmen befestigt waren. Die Tupfer wurden vor Gebrauch und bei Beendigung der Operation gezählt. Ihre Zahl stimmte überein. Nachdem die Operationswunde bereits verheilt war, trat plötzlich eine Eiterung ein, die zunächst von Dr. G. und seinem Vertreter behandelt wurde. Der Kläger stellte sich dann wieder dem Beklagten vor. Dieser verordnete Bäder und später eine Penicillinkur, die keinen Erfolg hatte. Am 21. November 1949 öffnete der Beklagte erneut die Operationswunde. In dieser fand sich ein bei der ersten Operation zurückgebliebenes Tupferstück, das von dem Beklagten entfernt wurde. Die Wunde heilte danach schnell ab.

Der Kläger hat behauptet, dass er durch das Zurücklassen des Tupferstücks in der Wunde und die Verzögerung der zweiten Operation große Schmerzen erlitten und sehr schwere Gesundheitsschäden davongetragen habe. Infolgedessen habe er seinen Betrieb umstellen und zusätzliche Arbeitskräfte beschäftigen müssen, wodurch ihm erhebliche Geschäftsverluste entstanden seien. Er hat mit der Klage die Feststellung begehrt, dass der Beklagte ihm zum Ersatz allen auf die Operation und die weitere Behandlung zurückzuführenden Schadens verpflichtet sei. Das Landgericht hat durch Versäumnisurteil diesem Antrage entsprochen. Der Beklagte hat gegen das Versäumnisurteil Einspruch eingelegt. Das Landgericht hat darauf das Versäumnisurteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Im Berufungsrechtszuge hat der Kläger seine Anträge geändert. Er hat nunmehr Zahlung von 16.916,20 DM, des durch einen Sachverständigen zu ermittelnden Geschäftsverlustes und eines angemessenen Schmerzensgeldes für die bis zum 30. April 1952 erlittenen Schmerzen sowie die Feststellung verlangt, dass der Beklagte zum Ersatz allen zukünftigen Vermögens- und Nichtvermögensschadens verpflichtet sei. Das Berufungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen und die weiteren Klageanträge abgewiesen.

 

B. Worum geht es?

Der Kläger macht Ansprüche gegen den Beklagten wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers geltend, weil der Beklagte als Operateur (während der ersten Operation) einen Tupfer vergessen hatte. Das Berufungsgericht war – vor Inkrafttreten der §§ 630a ff. BGB, insbesondere der Beweislastregelungen in § 630h BGB – zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Beklagten ein Verschulden, das seine Haftung begründen würde, nicht nachgewiesen sei. Für die Frage, ob den Beklagten an dem Zurücklassen des Tupfers ein Verschulden trifft, kommt es maßgeblich auch auf die Art und die Größe des Tupfers an, insbesondere darauf, ob es sich um das größere Stück eines mittleren Wattetupfers gehandelt hat. Das Beweisproblem des Klägers besteht nun darin, dass der Beklagte den Tupfer entfernt hatte und seine Beschaffenheit nicht mehr festgestellt werden kann. Der BGH hatte nun folgende Frage zu beantworten:

„Wie sind Lücken in der Beweisführung zu bewerten, wenn die Unaufklärbarkeit von einer Partei schuldhaft herbeigeführt wurde?“

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH weist im Tupfer-Fall I (Urt. v. 16.4.1955 - VI ZR 72/54) darauf hin, dass Lücken in der Beweisführung dann zu Lasten der nicht beweispflichtigen Partei gehen, wenn sie die Unaufklärbarkeit schuldhaft herbeigeführt hat. Damit begründet er den Grundsatz der Beweisvereitelung:

„Wenn auch der Kläger für die Umstände, die für ein Verschulden des Beklagten sprechen, beweispflichtig ist, so hat doch die Lücke in der Beweisführung, die dadurch entstanden ist, daß das bei der zweiten Operation entfernte Tupferstück nicht mehr vorhanden ist, nicht der Kläger sondern der Beklagte zu vertreten. Durch das Zurückbleiben des Tupferstücks in der Wunde hatte der Kläger nach der ersten Operation erhebliche Beschwerden erduldet. Der Beklagte mußte, als er das Tupferstück bei der zweiten Operation fand und entfernte, damit rechnen, daß der Kläger ihn wegen des Zurückbleibens des Tupfers in Anspruch nehmen würde, und er konnte auch erkennen, daß bei einer gerichtlichen Auseinandersetzung der Parteien Art und Größe des Tupfers eine Rolle spielen würden. Er hätte daher dafür sorgen müssen, daß der herausoperierte Tupfer nicht verloren ging, oder doch wenigstens Art, Größe und Beschaffenheit des. Tupfers genau festlegen müssen. Das hat er unterlassen. Eine durch diese schuldhafte Unterlassung etwa verursachte Unaufklärbarkeit kann daher nicht dem Kläger zum Nachteil gereichen, sondern sie muß sich zu Ungunsten des Beklagten auswirken (RGZ 128, 121 [125]; BGHZ 6, 224 [227]; Stein-Jonas-Schönke ZPO 17. Aufl. §282 Anm. IV 7 b).“

D. Fazit

Die ZPO enthält mehrere Vorschriften, die ein beweisvereitelndes Verhalten sanktionieren (§§ 371 III, 427, 441 III 3, 444, 446, 453 II, 454 I ZPO). Ihnen ist gemeinsam, dass das Gericht die streitige Behauptung, deren Beweis vereitelt wurde, als bewiesen ansehen kann. Darüber hinaus lässt sich diesen Vorschriften iVm § 242 BGB ein allgemeiner beweisrechtlicher Grundsatz entnehmen, wonach derjenige, der dem beweispflichtigen Gegner vorprozessual oder während des Prozesses die Beweisführung schuldhaft (wenigstens fahrlässig) erschwert
oder unmöglich macht, daraus keine beweisrechtlichen Vorteile ziehen darf.