BVerfG zum Verbot von Gottesdiensten

A. Sachverhalt

Der Antragsteller zu 1. ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in B Zweck des Vereins ist die Förderung der Religion. Der Verein unterhält in B die St. A-Kirche mit dazugehörigen Gemeinderäumen und Wohnflächen. In den Gemeinderäumen finden regelmäßig Gottesdienste statt, die von den vom Antragsteller zu 1. geförderten Priestern des Instituts St. P verantwortet werden. Der Antragsteller zu 2. besucht nach eigenen Angaben regelmäßig die Heilige Messe in der St. A-Kirche.

Die Antragsteller begehren den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel festzustellen, dass die Abhaltung von öffentlichen Gottesdiensten in der St. A-Kirche in B unter Einhaltung bestimmter gesundheitlicher Schutzmaßnahmen zulässig ist. Dies ist nach maßgeblicher Auslegung der landesrechtlichen Vorschriften durch die Fachgerichte aufgrund der SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Senates von Berlin (im Folgenden: Corona-Verordnung Berlin) derzeit untersagt.

Die Antragsteller haben vor dem Verwaltungsgericht Berlin im Wege eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die Feststellung begehrt, dass der Antragsteller zu 1. berechtigt ist, in der St. A..-Kirche öffentliche Gottesdienste mit einer Teilnehmerzahl von bis zu 50 Personen abzuhalten, wobei der Antragsteller zu 1. durch geeignete Maßnahmen, insbesondere durch Zuweisung von markierten Sitzplätzen an die Teilnehmenden, sicherzustellen hat, dass diese beim Betreten und Verlassen des Gebäudes sowie während der Gottesdienste einen Mindestabstand von 1,5 Metern untereinander einhalten, ferner, dass sich alle Teilnehmenden jeweils mit Vor- und Nachnamen, vollständiger Anschrift und Telefonnummer in Anwesenheitslisten eintragen, welche der Antragsteller zu 1. dauerhaft verwahrt und dem Land Berlin auf dessen Aufforderung hin zur Verfügung stellt. Der Antrag wurde abgelehnt (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 7. April 2020 - VG 14 L 32/20 -). Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht zurück (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. April 2020 - OVG 11 S 21/20 -).

Ist der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet?

B. Die Entscheidung des BVerfG (Beschl. v. 10.4.2020 – 1 BvQ 31/20

Das BVerfG stellt zunächst den Maßstab für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG dar. Dabei nimmt das BVerfG eine Folgenabwägung vor, wobei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache grundsätzlich außer Betracht bleiben, es sei denn, der Antrag in der Hauptsache ist von vornherein unzulässig, offensichtlich unbegründet oder offensichtlich begründet. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, kommt es zu einer sogenannten Doppelhypothese. Es wägt die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen ab, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre:

„Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 112, 284 <291>; 121, 1 <14 f.>; stRspr). Bei offenem Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der - hier noch zu erhebenden - Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2020 - 1 BvQ 15/20 -, Rn. 16; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr).“

 

I. Unzulässigkeit oder offensichtliche Unbegründetheit einer Verfassungsbeschwerde

Das Ergebnis einer Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache stelle sich als offen dar:

„Zwar erscheint eine Verfassungsbeschwerde zum derzeitigen Zeitpunkt weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Ihre Erfolgsaussichten stellen sich in der Kürze der dem Bundesverfassungsgericht für seine Entscheidung zur Verfügung stehenden Zeit vielmehr als offen dar.“

II. Folgenabwägung

Daher sei über den Antrag auf einstweilige Anordnung aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden:

„Dabei müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe so schwerwiegend sein, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabweisbar machen. Bei der Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von den angegriffenen Regelungen Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur die Folgen für den Antragsteller (vgl. für förmliche Gesetze BVerfGE 122, 342 <362>; 131, 47 <61>).“

Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte eine Verfassungsbeschwerde Erfolg, wäre ein überaus schwerwiegender und nach dem Glaubensverständnis der Antragsteller auch irreversibler Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit zu Unrecht erfolgt:

„Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte eine Verfassungsbeschwerde der Antragsteller Erfolg, wäre es dem Antragsteller zu 1. zu Unrecht untersagt, öffentliche Gottesdienste unter den im Antrag bezeichneten Umständen abzuhalten; der Antragsteller zu 2. könnte in diesem Fall trotz eines verfassungsrechtlichen Anspruchs nicht an solchen Gottesdiensten teilnehmen. Die Antragsteller legen nachvollziehbar dar, dass die Abhaltung von öffentlichen Gottesdiensten und die Teilnahme hieran ein zentraler Bestandteil ihres Glaubens sind und dass diese Akte des Glaubens nicht durch – nach wie vor zulässige – andere Formen der Glaubensbetätigung wie die individuelle stille Einkehr in Kirchen oder die Übertragung von Gottesdiensten im Internet ersetzt werden können. Daher bedeutet das Verbot öffentlicher Gottesdienste nach der Corona-Verordnung Berlin einen überaus schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Das gilt nach den plausiblen Angaben der Antragsteller noch verstärkt, soweit sich das Verbot auch auf öffentliche Gottesdienste während der Osterfeiertage als dem Höhepunkt des religiösen Lebens der Christen erstreckt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20 -, www.bundesverfassungsgericht.de).“

Würde demgegenüber im Wege der einstweiligen Anordnung festgestellt, dass der Antragsteller zu 1. berechtigt ist, künftig oder (hilfsweise) jedenfalls über die Osterfeiertage öffentliche Gottesdienste mit einer Teilnehmerzahl von bis zu 50 Personen abzuhalten und hätte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, würden sich voraussichtlich sehr viele Menschen zu Gottesdiensten versammeln. Das würde nicht nur die St. A…-Kirche betreffen, sondern auch andere Kirchen:

„Dem steht nicht entgegen, dass sich der Feststellungsantrag nur auf die St. A…-Kirche bezieht. Zum einen weisen die Antragsteller selbst darauf hin, dass die Corona-Verordnung Berlin keinen Ausnahmetatbestand enthalte, unter den ihr Begehren subsumiert werden könnte. Dann würde der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung wie eine auf öffentliche Gottesdienste beschränkte vorläufige Außervollzugsetzung des verordnungsrechtlichen Verbots öffentlicher Veranstaltungen nach Maßgabe der von den Antragstellern konkret bezeichneten Voraussetzungen wirken, auf die sich auch andere Kirchengemeinden berufen könnten. Diese könnten bei einem Erlass der einstweiligen Anordnung ohnehin mit Blick auf das Gebot der Gleichbehandlung geltend machen, dass ihnen das Abhalten öffentlicher Gottesdienste unter denselben Voraussetzungen erlaubt wird wie dem Antragsteller zu 1.“

Dadurch würde sich die Ansteckungsgefahr erhöhen und die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems erhöhen:

„Angesichts dessen würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Corona-Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtung bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach der maßgeblichen Risikoeinschätzung des Robert-Koch-Instituts vom 26. März 2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html) erheblich erhöhen, obwohl dies durch ein Verbot öffentlicher Gottesdienste in verfassungsrechtlich zulässiger Weise hätte vermieden werden können (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2020 – 1 BvR 755/20 – und Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20 -, www.bundesverfassungsgericht.de). Diese Gefahren blieben auch nicht auf jene Personen beschränkt, die freiwillig an den Gottesdiensten teilgenommen haben, sondern würden sich durch mögliche Folgeinfektionen und die Belegung von Behandlungskapazitäten auf einen erheblich größeren Personenkreis erstrecken.“

Die von den Antragstellern angebotenen Sicherheitsmaßnahmen seien nicht hinreichend wirksam:

„Diese Annahme wird auch durch das Vorbringen der Antragsteller nicht durchgreifend in Frage gestellt. Sie sind der Ansicht, dass die von ihnen angebotenen Maßnahmen (Begrenzung der Teilnehmer auf 50 Personen, Kontrolle des Zugangs zum Kirchengebäude, Zuweisung markierter Sitzplätze in der Kirche mit einem Mindestabstand von 1,5 Metern, Anlegung von Teilnehmerlisten) nach dem derzeitigen Erkenntnisstand einen hinreichend wirksamen Schutz vor der Entstehung der oben genannten Gefahren bieten können. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht Berlin im Beschluss vom 7. April 2020 – VG 14 L 32/20 – über die Ablehnung des Antrags der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Anordnung angenommen, dass davon nicht mit hinreichender Sicherheit ausgegangen werden könne, ohne dass dies von den Antragstellern ernsthaft in Frage gestellt wird. Das Gericht hat insoweit auf die Einschätzung des Robert-Koch-Instituts verwiesen, wonach ein Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen das Risiko einer Übertragung des Corona-Virus zwar vermindere, nach derzeitigem Erkenntnisstand aber nicht angenommen werden könne, dass dadurch die Verbreitung der Infektion zuverlässig verhindert werde, zumal auch eine Übertragung im Wege der Schmierinfektion oder eine Ansteckung über die Bindehaut der Augen nicht ausgeschlossen sei (Hinweis auf https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText1). Hinzu kommt nach Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Wahrung des Mindestabstands beim Betreten und Verlassen der Kirche und während des Gottesdienstes kaum verlässlich sichergestellt werden könne und beim gottesdiensttypischen gleichzeitigen Sprechen (Beten) und Singen von den Teilnehmern vermehrt potenziell virushaltige Tröpfchen in die Luft abgegeben werden dürften. Außerdem sei nach derzeitigen Erkenntnissen die Ansteckungsgefahr umso größer, je länger der Kontakt mit anderen Personen andauere; danach bestehe ein „hohes Ansteckungsrisiko“ bei einem Kontakt zu einer erkrankten Person ab 15 Minuten (Hinweis auf ein Merkblatt der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Stand 31. März 2020, https://www.infektionsschutz.de/fileadmin/infektionsschutz.de/Downloads/Merkblatt-Infektionsschutz-Coronavirus.pdf). Diese Zeitspanne wird bei Gottesdiensten aber regelmäßig überschritten.“

Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 II GG auch verpflichtet ist, müsse das grundrechtlich geschützte Recht auf die gemeinsame Feier von Gottesdiensten derzeit zurücktreten:

„Nach der Bewertung etwa des Robert-Koch-Instituts kann in dieser frühen Phase der Corona-Pandemie ein Kollabieren des staatlichen Gesundheitssystems mit zahlreichen Todesfällen nur dadurch vermieden werden, dass die Ausbreitung der hoch infektiösen Viruserkrankung durch eine möglichst weitgehende Verhinderung von Kontakten verlangsamt wird (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/NeuartigesCoronavirus/Risikobewertung.html; vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20 -, www.bundesverfassungsgericht.de). Die Grundentscheidung, ein solches Szenario trotz aller damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Probleme möglichst zu vermeiden, wurde im Übrigen entgegen der Annahme der Antragsteller nicht durch „die Wissenschaft“ getroffen, sondern durch die politisch hierfür Verantwortlichen.“

Der überaus schwerwiegende Eingriff in die Glaubensfreiheit zum Schutz von Gesundheit und Leben sei auch deshalb derzeit vertretbar, weil die Corona-Verordnung Berlin und damit auch das hier in Rede stehende Verbot öffentlicher Gottesdienste bis zum 19. April 2020 befristet sei:

„Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei ist – wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung – hinsichtlich des im vorliegenden Verfahren relevanten Verbots von öffentlichen Gottesdiensten eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen und zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von Gottesdiensten unter – gegebenenfalls strengen – Auflagen zu lockern (vgl. bereits Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20 -, www.bundesverfassungsgericht.de).

Gleiches gilt mit Blick auf andere Religionsgemeinschaften, die in vergleichbar schwerwiegender Weise betroffen sind, weil für sie die gemeinsame Zusammenkunft ihrer Gläubigen ebenfalls zentraler Bestandteil ihres Glaubens ist.“

 

III. Ergebnis

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg, da er zulässig aber unbegründet ist.

 

C. Fazit

Die durch den Coronavirus verursachte epidemische Lage von nationaler Tragweite (vgl. § 5 I IfSG) stellt alle Lebensbereiche vor große Herausforderungen. Auch das (Verfassungs-)Recht gerät an seine Grenzen und das Bundesverfassungsgericht hat schwierige Abwägungsentscheidungen zu treffen.

Wer auch in diesen Zeiten aber das Lächeln nicht verloren hat, mag in der Originalentscheidung nachlesen, welche Richter über den Fall zu Gottesdienstverboten an Ostern zu entscheiden hatten.

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