Benetton-Entscheidung I

A. Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin, ein Presseunternehmen, wendet sich mit den Verfassungsbeschwerden gegen zwei Urteile des Bundesgerichtshofs, durch die ihr die Veröffentlichung von Werbeanzeigen der Firma Benetton wegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb; im Folgenden: UWG) untersagt wird.

In der von der Beschwerdeführerin herausgegebenen Illustrierten “Stern” wurden drei Anzeigen der Firma Benetton veröffentlicht, die weltweit Textilien vertreibt. Eine Anzeige zeigt eine auf einem Ölteppich schwimmende ölverschmutzte Ente. Auf einer weiteren sind schwer arbeitende Kinder verschiedener Altersstufen in der Dritten Welt abgebildet. Die dritte besteht aus dem Foto eines nackten menschlichen Gesäßes, auf das die Worte “H.I.V. POSITIVE” aufgestempelt sind. Am Bildrand befindet sich jeweils auf grünem Feld der Schriftzug “United Colors of Benetton”. Die beiden zuerst genannten Anzeigen sind Gegenstand der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1787/95, die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1762/95 betrifft die dritte Anzeige.

Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V. forderte die Beschwerdeführerin auf, die Veröffentlichung dieser Anzeigen zu unterlassen, und rief, als diese ablehnte, die Gerichte an. Das Landgericht gab den Klagen statt. Die Sprungrevisionen der Beschwerdeführerin blieben beim Bundesgerichtshof ohne Erfolg. Die Firma Benetton selbst hatte sich gegen eine entsprechende Abmahnung ebenfalls vergeblich vor den Zivilgerichten gewehrt (vgl. BGHZ 130, 196), hat aber keine Verfassungsbeschwerde eingelegt.

 

B. Worum geht es?

Nach § 1 UWG a.F. konnte auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden, „wer im geschäftlichen Verkehre zu Zwecken des Wettbewerbes Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen“. Auf dieser Grundlage wurde der Presseverlag, bei dem es sich um Gruner + Jahr handelt, zur Unterlassung verurteilt.

**Das BVerfG hatte nun folgende Frage zu beantworten:**„Ist die Pressefreiheit eines Zeitschriftenverlegers verletzt, wenn ihm die Veröffentlichung von Werbeanzeigen untersagt wird, für die der Werbende den Schutz der Meinungsfreiheit genießt?

C. Wie hat das BVerfG entschieden?

Das BVerfG hält in der Benetton-Entscheidung I (Urt. v. 12.12.2000 – 1 BvR 1762/95 u.a. (BVerfGE 102, 347 ff.)) die Verfassungsbeschwerde für begründet. Die beiden von der Beschwerdeführerin angegriffenen Urteile des Bundesgerichtshofs verletzten sie in ihrer durch Art. 5 I 2 Alt. 1 GG gewährleisteten Pressefreiheit.

Zunächst stellt der Senat den Schutzbereich der Pressefreiheit dar:

„Der Schutzbereich der Pressefreiheit umfasst den gesamten Inhalt eines Presseorgans, darunter auch Werbeanzeigen (vgl. BVerfGE 21, 271 <278 f.>; 64, 108 <114>). Soweit Meinungsäußerungen Dritter, die den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG genießen, in einem Presseorgan veröffentlicht werden, schließt die Pressefreiheit diesen Schutz mit ein: Einem Presseorgan darf die Veröffentlichung einer fremden Meinungsäußerung nicht verboten werden, wenn dem Meinungsträger selbst ihre Äußerung und Verbreitung zu gestatten ist. In diesem Umfang kann sich das Presseunternehmen auf eine Verletzung der Meinungsfreiheit Dritter in einer gerichtlichen Auseinandersetzung berufen. Das gilt auch in einem Zivilrechtsstreit über wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche.

Der - hier in den Schutz der Pressefreiheit eingebettete - Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erstreckt sich auch auf kommerzielle Meinungsäußerungen sowie reine Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat (vgl. BVerfGE 71, 162 <175>). Soweit eine Meinungsäußerung - eine Ansicht, ein Werturteil oder eine bestimmte Anschauung - in einem Bild zum Ausdruck kommt, fällt auch dieses in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 30, 336 <352>; 71, 162 <175>).“

Die streitgegenständlichen Werbefotos unterfielen diesen Anforderungen. Das BVerfG betont, dass auch reine Imagewerbung vom Schutzbereich erfasst sei:

„Sie veranschaulichen allgemeine Missstände (Umweltverschmutzung, Kinderarbeit, Ausgrenzung von H.I.V.-Infizierten) und enthalten damit zugleich ein (Un-)Werturteil zu gesellschaftlich und politisch relevanten Fragen. Es sind sprechende Bilder mit meinungsbildendem Inhalt. Davon gehen auch die angegriffenen Urteile aus, wenn in ihnen ausgeführt wird, die Anzeigen prangerten das Elend der Welt an. Meinungsäußerungen, die dies bezwecken und damit die Aufmerksamkeit des Bürgers auf allgemeine Missstände lenken, genießen den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG in besonderem Maße (vgl. BVerfGE 28, 191 <202>).

Daran ändert es nichts, dass die Firma Benetton die genannten Themen im Rahmen einer reinen Imagewerbung aufgreift, auf jeden Kommentar verzichtet und sich nur durch das Firmenlogo zu erkennen gibt. Dadurch kann zwar der Eindruck entstehen, dass es dem werbenden Unternehmen nicht um einen Beitrag zur Meinungsbildung, sondern nur darum geht, sich ins Gespräch zu bringen. Eine solche Deutung, durch die eine subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt der Aussage in Frage gestellt wird, ist jedoch nicht die einzig mögliche, ja nicht einmal besonders nahe liegend. In der öffentlichen Wahrnehmung werden die von den Anzeigen ausgehenden Botschaften durchaus der Firma Benetton als eigene zugerechnet, und auch die Gerichte haben in dieser Hinsicht keine Zweifel geäußert. Auch nach Ansicht des Fotografen Oliviero Toscani, der die Anzeigen gestaltet hat, benutzt Benetton sie als “Vehikel, um eine antirassistische kosmopolitische und tabulose Geisteshaltung” zu verbreiten (Oliviero Toscani, Die Werbung ist ein lächelndes Aas, 3. Aufl. 2000, S. 44).“

Das in den angegriffenen Urteilen bestätigte Verbot, die umstrittenen Anzeigen der Firma Benetton in der illustrierten Wochenzeitschrift “Stern” erneut abzudrucken, sei ein Eingriff in die Pressefreiheit der Beschwerdeführerin. Da das Verbot mit der Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 500.000 DM - ersatzweise Ordnungshaft - oder Ordnungshaft von sechs Monaten für den Fall eines Verstoßes verbunden ist, sei sie faktisch an einer künftigen Veröffentlichung dieser Anzeigen gehindert.

Dieses Verbot sei verfassungsrechtlich aber nicht gerechtfertigt. Der Bundesgerichtshof habe bei seiner wettbewerbsrechtlichen Bewertung der Anzeigen Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt.

Zunächst stellt der Senat die Anforderungen an die Auslegung zivilrechtlicher Normen dar, wenn die Meinungsfreiheit berührt sei. Zugleich betont es seinen beschränkten Prüfungsspielraum:

„Berührt eine zivilrechtliche Entscheidung die Meinungsfreiheit, so fordert Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, dass die Gerichte der Bedeutung dieses Grundrechts bei der Auslegung und Anwendung des Privatrechts Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 7, 198 <206 ff.>; 86, 122 <128 f.>; stRspr). Die angegriffenen Urteile beruhen auf § 1 UWG, einer Vorschrift des bürgerlichen Rechts. Dessen Auslegung und Anwendung auf den einzelnen Fall ist Sache der Zivilgerichte. Das Bundesverfassungsgericht kann nur eingreifen, wenn Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; stRspr). …

Einschränkungen des für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierenden Rechts der freien Meinungsäußerung (vgl. BVerfGE 20, 56 <97>; stRspr) bedürfen grundsätzlich einer Rechtfertigung durch hinreichend gewichtige Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Rechte und Interessen Dritter. Das gilt für kritische Meinungsäußerungen zu gesellschaftlichen oder politischen Fragen in besonderem Maße. Dazu geben die angegriffenen Urteile jedoch keine Hinweise. Auch sonst ist dazu nichts ersichtlich.“

Nach Auffassung des BGH untersagt § 1 UWG ein Werbeverhalten, das mit der Darstellung schweren Leids von Menschen und Tieren Gefühle des Mitleids erweckt und diese Gefühle ohne sachliche Veranlassung zu Wettbewerbszwecken ausnutzt, indem der Werbende sich dabei als gleichermaßen betroffen darstellt und damit eine Solidarisierung der Verbraucher mit seinem Namen und seiner Geschäftstätigkeit herbeiführt.

Dieses vom BGH in Auslegung des § 1 UWG formulierte Sittenwidrigkeitsurteil sei als Anstandsregel durchaus billigenswert und dürfte als solche von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert werden. Dahinter stecke der Wunsch, in einer Gesellschaft zu leben, in der auf Leid nicht mit gefühllosem Gewinnstreben, sondern mit Empathie und Abhilfemaßnahmen, also in einer primär auf das Leid bezogenen Weise reagiert wird. Ob damit zugleich hinreichend gewichtige öffentliche oder private Belange geschützt werden, sei jedoch nicht ohne weiteres erkennbar.

Zunächst stellt der Senat dar, dass von den Anzeigen keine nennenswerte Belästigung des Publikums ausgehen könne:

„bbb) Dass von den Anzeigen eine nennenswerte Belästigung des Publikums ausgehen könnte, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens meint, nimmt der Bundesgerichtshof selbst wohl nicht an. Verletzungen des guten Geschmacks oder eine schockierende Gestaltung von Anzeigen hält er nicht für sittenwidrig im Sinne von § 1 UWG. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Eine belästigende Wirkung, die grundrechtsbeschränkende Regelungen rechtfertigen könnte, kann nicht schon darin liegen, dass das Publikum auch außerhalb des redaktionellen Teils der Medien durch Bilder mit unangenehmen oder mitleiderregenden Realitäten konfrontiert wird. Das gilt auch, wenn man mit der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht eine allgemeine Zunahme derartiger Werbung durch einen Nachahmungseffekt in Rechnung stellt. Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf. Anders kann es zu beurteilen sein, wenn ekelerregende, furchteinflößende oder jugendgefährdende Bilder gezeigt werden.

Soweit der Kläger des Ausgangsverfahrens die Anzeigen als zudringlich und belästigend einstuft, weil sie mit suggestiver Kraft an Gefühle der Verbraucher appellieren, die mit den Produkten des werbenden Unternehmens oder seiner Geschäftstätigkeit in keinem Zusammenhang stehen, kann dem nicht gefolgt werden. Ein Großteil der heutigen Werbung ist durch das Bestreben gekennzeichnet, durch gefühlsbetonte Motive Aufmerksamkeit zu erregen und Sympathie zu gewinnen. Kommerzielle Werbung mit Bildern, die mit suggestiver Kraft libidinöse Wünsche wecken, den Drang nach Freiheit und Ungebundenheit beschwören oder den Glanz gesellschaftlicher Prominenz verheißen, ist allgegenwärtig. Es mag zutreffen, dass der Verbraucher diesen Motiven gegenüber “abgehärtet” ist, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens vorträgt. Ein solcher Gewöhnungseffekt rechtfertigt es jedoch nicht, einem Appell an das bisher weniger strapazierte Gefühl des Mitleids belästigende Wirkungen zuzuschreiben.“

Um den Schutz der abgebildeten Personen könne es allenfalls bei der Anzeige zur “Kinderarbeit” gehen. Eine Rechtsbetroffenheit sei aber hier nicht erkennbar:

„Deshalb geht auch der Bundesgerichtshof darauf nicht ein. Die abgebildeten Kinder sind nicht individualisierbar. Abgesehen davon werden sie in einer zwar mitleiderregenden, aber keineswegs abfälligen oder sonst wie negativen Sicht dargestellt. Der Werbekontext als solcher reicht für eine Verletzung menschlicher Achtungsansprüche nicht aus.“

Auch seien Gemeinwohlbelange nicht betroffen:

„Der Umweltschutz, der durch Art. 20 a GG in den Rang eines Staatsziels erhoben worden ist, wird durch die dieses Thema betreffende Anzeige (ölverschmutzte Ente) offensichtlich nicht beeinträchtigt. Dass kommerzielle Werbung, die inhumane Zustände anprangert (Kinderarbeit, Abstempelung von H.I.V.-Infizierten), Verrohungs- oder Abstumpfungstendenzen in unserer Gesellschaft fördern und einer Kultur der Mitmenschlichkeit im Umgang mit Leid abträglich sein könnte, lässt sich jedenfalls mit Bezug auf die streitigen Anzeigen nicht feststellen.“

Der BGH hatte die in dem Verfahren 1 BvR 1762/95 zugrunde liegende Anzeige „H.I.V. POSITIVE“ auch deshalb für wettbewerbswidrig gehalten, weil sie in grober Weise gegen die Grundsätze der Wahrung der Menschenwürde verstoße, indem sie den AIDS-Kranken als “abgestempelt” und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt darstelle.

Dieser Begründung pflichtet das BVerfG im Ausgangspunkt bei:

„Eine Auslegung des § 1 UWG dahin, dass eine Bildwerbung sittenwidrig ist, die die Menschenwürde abgebildeter Personen verletzt, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie trägt einem Schutzgut Rechnung, das Beschränkungen der Meinungsfreiheit auch in dem besonders sensiblen Bereich gesellschaftlicher und politischer Kritik rechtfertigt. Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, alle Menschen gegen Angriffe auf die Menschenwürde wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. zu schützen (vgl. BVerfGE 1, 97 <104>). Werbeanzeigen, die einzelne Personen oder Personengruppen in einer die Menschenwürde verletzenden Weise ausgrenzen, verächtlich machen, verspotten oder sonst wie herabwürdigen, können daher grundsätzlich auch dann wettbewerbsrechtlich untersagt werden, wenn sie den Schutz der Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 GG oder anderweitigen Grundrechtsschutz genießen.“

Die Anwendung dieser Grundsätze auf die diesbezügliche Anzeige (H.I.V. POSITIVE) halte jedoch einer Prüfung am Maßstab des Art. 5 I 1 GG nicht stand, wobei das BVerfG zunächst darlegt, ob und inwieweit es selbst mehrdeutige Äußerungen auslegen dürfe:

„Grundsätzlich unterliegt die Deutung von Äußerungen, die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt sind, nur insofern der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, als es die Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen zu gewährleisten hat. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, den Sinn einer umstrittenen Äußerung abschließend zu bestimmen oder eine unter Beachtung der grundrechtlichen Anforderungen erfolgte Deutung durch eine andere zu ersetzen, die es für treffender hält. Zu den grundrechtlichen Anforderungen gehört aber, dass die Äußerung unter Einbeziehung ihres Kontextes ausgelegt und ihr kein Sinn zugeschrieben wird, den sie objektiv nicht haben kann. Bei mehrdeutigen Äußerungen müssen die Gerichte sich im Bewusstsein der Mehrdeutigkeit mit den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten auseinander setzen und für die gefundene Lösung nachvollziehbare Gründe angeben (vgl. BVerfGE 94, 1 <10 f.>).“

Der Bundesgerichtshof deutet die “H.I.V. POSITIVE”-Anzeige dahin, dass sie den AIDS-Kranken als “abgestempelt” und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt darstelle. An anderer Stelle heißt es, die Anzeige stigmatisiere den AIDS-Kranken in seinem Leid und grenze ihn gesellschaftlich aus. Einer aufkeimenden Mentalität des “Abstempelns” bestimmter Mitglieder der Gesellschaft sei entgegenzuwirken. Zumindest von H.I.V.-Infizierten selbst müsse die Anzeige als grob anstößig und ihre Menschenwürde verletzend angesehen werden. Dieser Wirkung könnten sich aber auch andere Betrachter nicht entziehen.

Dieser Deutung tritt das BVerfG jedoch entgegen:

„In diesem Sinne eindeutig ist die Anzeige jedoch nicht. Sie zeigt kommentarlos einen Menschen, der als “H.I.V. POSITIVE” abgestempelt erscheint. Dass damit der skandalöse, aber nicht realitätsferne Befund einer gesellschaftlichen Diskriminierung und Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter bekräftigt, verstärkt oder auch nur verharmlost wird, drängt sich nicht auf. Mindestens ebenso nahe liegend ist die Deutung, dass auf einen kritikwürdigen Zustand - die Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter - in anklagender Tendenz hingewiesen werden soll. Mit dem Foto könnte, wie die Beschwerdeführerin zutreffend anmerkt, auch für einen AIDS-Kongress geworben werden.

Die Bildsprache ist zwar reißerisch und in einem konventionellen Sinne ungehörig. Von dem abgebildeten Menschen sieht man nichts als die obere Hälfte des nackten Gesäßes, auf dem in schwarzen Großbuchstaben die Abkürzung “H.I.V.” und darunter, schräg versetzt, das Wort “POSITIVE” wie aufgestempelt erscheinen. Allein daraus lässt sich aber weder Zynismus noch eine affirmative Tendenz ablesen. Die Darstellung ist, dem Medium einer Werbeanzeige entsprechend, darauf angelegt, die Aufmerksamkeit des Betrachters zu fesseln.

Eine Deutung der Anzeige im Sinne eines kritischen Aufrufs wird auch durch den Werbekontext nicht in Frage gestellt. Dass ein Unternehmen der Textilbranche Imagewerbung mit ernsthaften gesellschaftspolitischen Themen betreibt, ist ungewohnt und steht in auffallendem Kontrast zur branchenüblichen Selbstdarstellung der Wettbewerber. Dies mag Zweifel an der Ernsthaftigkeit der kritischen Absicht nähren und im Sinne des vom Bundesgerichtshof formulierten Lauterkeitsgebots als anstößig empfunden werden. Der Eindruck indes, dass die Anzeige ihrerseits die H.I.V.-Infizierten stigmatisiere oder ausgrenze, wird auch durch den Werbekontext nicht hervorgerufen. Ihre kritische Tendenz, ihre aufrüttelnde Wirkung bleiben unübersehbar. Anders wäre es vielleicht, wenn mit der Anzeige für ein konkretes Produkt geworben würde; in der Verknüpfung mit bestimmten Gebrauchsgegenständen und Dienstleistungen könnte eine lächerlichmachende oder verharmlosende Wirkung entstehen. Der Schriftzug “United Colors of Benetton” allein erzeugt eine solche Wirkung jedoch nicht. Die Deutung der Anzeige durch den Bundesgerichtshof, nach der diese die Menschenwürde AIDS-kranker Menschen verletzt, erscheint demgegenüber wesentlich weniger nahe liegend, jedenfalls ist sie nicht die einzig mögliche. Das zeigt auch die Aussage des Fotografen Oliviero Toscani über diese Werbung: “Mit diesem Plakat wollte ich signalisieren, daß Benetton weiter an seiner Bereitschaft zur Einmischung festhält, indem wir uns gegen die Ausgrenzung von Aidskranken mit der gleichen Kraft wie gegen den Rassismus einsetzen” (a.a.O., S. 78).“

 

D. Fazit

Die erste Benetton-Entscheidung ist nicht nur wegen ihrer eindeutigen Aussagen zum Schutz der Meinungsfreiheit von großer Bedeutung, wenngleich sie auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung liegt und ihr damit wohl im Wettbewerbsrecht eine größere Bedeutung als im Verfassungsrecht zukommen dürfte. Das BVerfG hatte wenige Jahre später Gelegenheit, sich erneut mit dem Fall zu befassen, nachdem der BGH (in einem zweiten Anlauf) den beklagten Verlag zur Unterlassung der Anzeige “HIV POSITIVE” verurteilte und dieser daraufhin erneut Verfassungsbeschwerde erhob. Darauf werden wir zurückkommen.

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