Sollte das Alter für Strafmündigkeit heruntergesetzt werden?
Ein verstörender Fall in Mülheim an der Ruhr sorgt derzeit für emotionale Diskussionen und bringt die Frage nach dem Strafmündigkeitsalter von Kindern in die rechtspolitische Debatte – drei 14- und zwei 12-jährige Jungen sollen eine Frau in ein Gebüsch gezerrt und sie dort vergewaltigt haben. Während ein 14-Jähriger wegen Wiederholungsgefahr verhaftet wurde, befinden sich die anderen Jungen bei ihren Familien, da sie zum Teil noch strafunmündig sind. Sollte das Alter für die Strafmündigkeit gesenkt werden?
Worum geht es?
Kinder sind unsere Zukunft – und in was für einer Zukunft würden wir leben, in der bereits 12-Jährige im schlimmsten Fall im Gefängnis landen? Ein befremdlicher Gedanke, der aber bei den aktuellen Geschehnissen in Mülheim bei vielen Menschen als gerecht und fair empfunden werden dürfte. Warum sollten durch Kinder verübte rechtswidrige Taten ohne Folgen bleiben? Die Mehrheit an Experten und Fachleuten aus den Gebieten der Psychologie, der Justiz und der Kriminologie ist sich aber einig, dass eine Strafbarkeit ab dem vollendeten 12. Lebensjahr nicht der richtige Weg und die Diskussion darüber schlicht nicht zielführend sei – für niemanden. Aber der Reihe nach:
Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.
Die Schuldunfähigkeit des Kindes ist in § 19 StGB normiert. § 1 JGG regelt ergänzend den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Jugendgerichtsgesetzes. Wenn man eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters erzielen möchte, gilt es diese beiden Normen zu reformieren. Da § 19 StGB ein Schuldausschließungsgrund ist, darf ein Kind, welches rechtswidrig eine Straftat begeht, nicht belangt werden. Die Tat ist dem Kind aufgrund des jungen Alters nicht im strafrechtlichen Sinne vorwerfbar. § 19 StGB lässt sich materiell und formell betrachten: Im materiellen Kontext stellt die Norm eine Schuldlosigkeitsvermutung dar – das Gesetz unterstellt unwiderlegbar, dass unter 14 Jahren niemand die geistige und sittliche Reife für die Einsicht in das Unrecht der von ihm begangenen Tat hat. In formeller Hinsicht handelt es sich um ein Prozesshindernis: Ein anhängiges Verfahren gegen den Strafunmündigen muss nach § 170 II StPO eingestellt werden.
Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft fordert Herabsetzung – aber kein Gefängnis
Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft fordert schon seit Jahren, dass das Alter für die Strafmündigkeit in Deutschland auf zwölf Jahre herabgesetzt werden sollte. Er führt seine Forderung wie folgt aus:
Es geht nicht darum, Kinder in den Knast zu stecken, sondern darum, die Möglichkeiten von Richtern zu nutzen – Auflagen erteilen, ermahnen und verwarnen.
Nach Ansicht des Gewerkschaft-Chefs seien die Jugendbehörden zu schwach aufgestellt, als dass diese allein die Aufgabe bewerkstelligen könnten, die Kinder im Alter von 12 – 13 zu maßregeln. Es müsse vielmehr mit anderen Maßnahmen gearbeitet werden, die aber erste durch das Gericht angeordnet werden können – deshalb sei die Senkung des Strafmündigkeitsalters nötig, wenngleich hier auch die Ansicht vertreten wird, dass 14- und 15-Jährige nicht ins Gefängnis gehören.
Der Großteil der Experten auf diesem Gebiet lehnt aber eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters ab, denn:
Die Gleichung ‚Mehr Strafrecht gleich weniger Kriminalität‘ geht bei den Jugendlichen nicht auf.
So begründet der Deutsche Richterbund seine ablehnende Position. Eine Senkung des Grenzalters der Strafmündigkeit führe nicht gleichzeitig zur Senkung der Kriminalität – vielmehr liege anhand der erfassten Kriminalitätsdaten der Beweis vor, dass das Jugendstrafrecht sich durchaus bewährt habe. Der im Jugendstrafrecht niedergelegte Erziehungsauftrag führe zu einem deutlichen Rückgang der Jugendkriminalität.
Ein Blick auf die Statistik ist in der Tat interessant – es darf aber nicht vergessen werden, dass strafrechtlich relevante Handlungen von Kindern oft nicht angezeigt werden, da viele sich über die Straflosigkeit im Klaren sind. Nichtsdestotrotz geht die Kriminalitätsrate von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden runter: Die Zahl der Verdächtigen unter 14 Jahren sank im vergangenen Jahrzehnt unter 42 Prozent. Ebenfalls geht die Zahl der bzgl. der Vergewaltigung verdächtigen Kinder zurück: Im Jahr 2018 waren es 64 Kinder. Das sind noch immer 64 zu viel, aber es zeigt, dass es sich bei solchen Taten um absolute Ausnahmefälle handelt. Ein Blick in andere Länder bestätigt: Auch dort, wo das Strafmündigkeitsalter erschreckend gering ist (z.B. USA und Großbritannien: strafrechtliche Verfolgung ist hier ab sechs bzw. zehn Jahren möglich), kommt es zu solch extremen Fälle, wie dem in Mülheim an der Ruhr.
Die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters in Deutschland hätte daher den Effekt, dass die Kriminalitätsrate steigen würde – denn Delikte, die eher zu einem Kind passen, würden erfasst werden können. Ein Kind könnte wegen jeder Sachbeschädigung oder einem Ladendiebstahl angezeigt und verurteilt werden – die Strafmündigkeit ab 12 Jahren könne nach Expertenmeinung eben nicht nur für die „Intensivtäter“ eingeführt werden. Zumal bei einer Strafmündigkeit ab 12 Jahren eine enorme Belastung für die Justiz entstehen würde, wie etwa Ermittlungen wegen eines Diebstahls im Spielwarengeschäft oder am Süßigkeitenregal.
Gibt es andere Mittel und Wege?
An den Stammtischen wird in den letzten Tagen häufiger der Satz zu hören sein, dass unsere Justiz und Regierung die Kinder aus Mülheim „einfach so davonkommen lässt“. Dem ist aber nicht so – trotz Strafunmündigkeit gibt es Mittel und Wege für den Staat, entsprechend zu handeln. Es greifen das Familien- und Jugendhilferecht, pädagogische Maßnahmen können von den Jugendämtern an und mit den Familien der Täter vollzogen werden. Die Jugendämter können eng am Kind arbeiten – dies erscheint auch viel plausibler, als der Gedanke, das Kind wegzusperren. Allerdings kann die Arbeit der Jugendhilfe schwierig werden, wenn die Eltern nicht am selben Strang ziehen. Als letzte Maßnahme bestünde hier aber auch die Möglichkeit, den Eltern über das Familiengericht das Sorgerecht zu entziehen. So könnte das Kind in eine für ihn völlig neue Umgebung integriert werden, in der dann die pädagogischen Maßnahmen angewendet werden können.
Taten wie in Mülheim machen fassungslos. Es darf aber nicht ignoriert werden, dass im Vordergrund die Erziehung zum Besseren steht. Am Ende der Diskussion lohnt es sich deshalb, sich die grundlegende Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1952 bzgl. der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in Erinnerung zu rufen:
Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig, sich für das Recht hätte entscheiden können.
Die entscheidende Frage ist: Können Kinder das?
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