Tatbestand (+), Rechtswidrigkeit (+), Schuld (-): Trotzdem “weggesperrt”?
Um im Strafverfahren die Frage der Schuld zu erforschen, greift das Gericht oft auf psychiatrische Sachverständige zurück, die Gutachten zur Schuldfähigkeit des Angeklagten erstellen sollen. Die Wertungen des Sachverständigen sind erforderlich, um – bildlich gesprochen – dem Angeklagten in den Kopf und in die Seele zu blicken. Doch welche Aufgaben, Rechte und Pflichten hat ein psychiatrischer Sachverständiger im Strafprozess eigentlich?
Worum geht es?
In einem Strafverfahren wird die Schuld des Betroffenen festgestellt – oder eben nicht. Um die Frage der Schuld zu erforschen, kann auf persönliche Beweismittel zurückgegriffen werden, unter anderem auf die Einschaltung eines psychiatrischen Sachverständigen. Seine Wertung ist erforderlich, um – bildlich gesprochen – dem Angeklagten in den Kopf und in die Seele zu blicken. Notfalls auch ohne mit ihm zu sprechen – nur durch die Augen oder durch die Akten. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das Gericht letztendlich über den Betroffenen entscheidet. Der Gutachter fungiert dabei als eine Art Gehilfe des Gerichts, dessen Wertung einen hohen Stellenwert hat.
Die Rechte und Pflichten des Sachverständigen in einem Strafprozess sind in §§ 72 ff. StPO geregelt. In der Regel wird der Sachverständige durch das Gericht beauftragt. Die Einschaltung eines Sachverständigen im Ermittlungsverfahren (also durch die Staatsanwaltschaft) ist eher selten. Nach § 244 II StPO entscheidet das Gericht, ob und wann es tätig wird – es muss auf Tatsachen ankommen, die nicht ohne einen Sachverständigen festgestellt werden können. Dazu gehören unter anderem die Schuldfähigkeit des Angeklagten oder die Glaubwürdigkeit von Zeugen. Wenn der Sachverständige vom Gericht berufen wurde, teilt der Staatsanwalt bzw. Richter ihm die sog. Anknüpfungstatsachen mit, auf die sich das Gutachten als Ausgangslage stützt.
*** 80 StPO:***
(1) Dem Sachverständigen kann auf sein Verlangen zur Vorbereitung des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft werden.
(2) Zu demselben Zweck kann ihm gestattet werden, die Akten einzusehen, der Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an die unmittelbaren Fragen zu stellen.
Was der Sachverständige dann feststellt, wird in einem Gutachten zusammengefasst, das in der Hauptverhandlung als Beweismittel eingeführt wird. Es wird in der Verhandlung mündlich vorgetragen und kann dadurch Grundlage für die Entscheidung des Gerichts werden. Der Nebeneffekt des mündlichen Vortrags besteht darin, dass Verfahrensbeteiligte Fragen an den Sachverständigen stellen können. Strafverteidiger nutzen die Chance, um das erstellte Gutachten über ihren Mandanten zu rütteln und den Sachverständigen ins Wanken zu bringen.
Entscheidet der Sachverständige also über die Schuld?
Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ ist eines der wesentlichen Gerechtigkeitsprinzipien, die die Grundlagen für unsere Rechtsordnung bilden. Es kann nur derjenige für eine Tat bestraft werden, dem diese vorwerfbar ist – der also schuldhaft gehandelt hat.
Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht entscheiden hätte können.
Nach § 20 StGB entfällt bei demjenigen die Schuld, der wegen einer seelischen Störung oder ähnlichem unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Die Entscheidung des Richters, ob dies der Fall ist, besteht in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung i.S.d. § 20 StGB vorliegt – festgestellt vom psychiatrischen Sachverständigen. Daraufhin sind weitere Untersuchungen anzustellen, wie bspw. die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters. Die Frage der Erheblichkeit aber, inwieweit eine etwaige Beeinträchtigung die Handlung beeinflusst hat, ist eine Rechtsfrage und wird nur durch das Gericht beantwortet – nicht durch den Sachverständigen.
Der Richter hat die Schuldfähigkeiten des Angeklagten ohne Bindung an die Einschätzung des Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beurteilen.
Henning Saß – prominent unter den Psychologen
Einer der bekanntesten forensischen Psychiater in Deutschland ist Henning Saß. Der 74-jährige beobachtet und analysiert seit mehr als 30 Jahren Angeklagte in Strafprozessen, hat weit mehr als 1.500 Gutachten verfasst. Sein Votum wird in ganz Deutschland geschätzt. Nicht umsonst kann man ihn der „Prominenz in der Psychologen-Branche“ zuordnen. Die meisten seiner Fälle hatten große mediale Aufmerksamkeit: So begutachtete er zum Beispiel 2005 den Mörder des deutschen Modedesigners Rudolph Moshammer. Oder den ehemaligen Pfleger Niels Högel: Der Serienmörder wurde wegen 85-fachen Mordes vom LG Oldenburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Högel lehnt aber ein direktes Gespräch mit Saß ab. An dieser Stelle ist zu sagen: Psychiatrische Sachverständige sind Mediziner, deren Schweigepflicht beschränkt ist. Der Betroffene muss darüber aufgeklärt werden, dass der Gutachter dem Gericht gegenüber nicht der Schweigepflicht unterliegt. Deshalb beschließt manch Angeklagter – unter anderem Niels Högel -, lieber nicht mit einem Sachverständigen zu reden, obwohl ein Gespräch sich natürlich auch positiv für einen Prozess auswirken könnte. Nicht selten trifft der Angeklagte diese Entscheidung auf Anraten seiner strafrechtlichen Verteidigung.
Das wahre Gesicht von Beate Zschäpe
Sein bekanntestes Gutachten wird das über Beate Zschäpe sein. Auch sie lehnte eine Untersuchung durch Saß ab. Die deutsche Rechtsextremistin ist ehemaliges Mitglied der Terrorgruppe NSU. Die Hauptangeklagte im NSU-Prozess wurde im Sommer 2018 wegen des Mordes an zehn Menschen und anderer Taten zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein sehr relevanter Teil des Mammutprozesses von 2013 bis 2018 war das Gutachten vom Psychiater Saß.
Beeindruckend ist das klare Bild, dass in seinem Gutachten von der Angeklagten entsteht, obwohl ihm nur die Aktenlage und die Beobachtung des Prozesses übrig blieb, um sich mit der Schuldfähigkeit von Zschäpe auseinanderzusetzen. Der Psychiater erkannte bei der Angeklagten einen Hang zu kriminellen Handlungen. Es sei nicht auszuschließen, dass sie zu den Menschen gehöre, in deren Persönlichkeit der Drang zu Straftaten tief verwurzelt ist, verkündete Saß im Prozess. Er sah bei Zschäpe durchgehend psychopathische Persönlichkeitszüge und stark dominantes, manipulatives Verhalten – also ganz andere Verhaltenszüge, mit denen sie das Gericht von ihrer Unschuld überzeugen wollte. Insgesamt
sei sie eine Frau mit wenig Einfühlungsvermögen, bei der mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden müsse, dass bei „entsprechenden Möglichkeiten eine Fortführung ähnlicher Verhaltensweisen angestrebt wird.“ Kritisch bewertete Saß auch das lange Zusammenleben mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund. In den 13 Jahren wuchsen die drei derart zusammen, was nun tief in ihrer Persönlichkeit verankert sei – und das könnte Zschäpe eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft erschweren.
Es verwundert daher nicht, dass das psychiatrische Gutachten von Saß von der Verteidigung Zschäpes angegriffen wurde. Durch die Einschaltung eigener Sachverständiger wollte man sein Gutachten entblößen; ihm wurde zum Teil unwissenschaftliches Arbeiten vorgeworfen, Saß habe viele Begriffe nicht richtig erklärt und Methoden falsch angewandt. Saß ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen und konnte das Gericht davon überzeugen, dass er der einzig relevante Sachverständige für den Prozess sei.
Tatbestand (+), Rechtswidrigkeit (+), Schuld (-): Trotzdem wegsperren?
In den Fällen Högel und Zschäpe kam der psychiatrische Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Schuldfähigkeit vorhanden ist. Die Angeklagten wurden schuldig gesprochen und für ihre Taten verurteilt. Anders läge der Fall, wenn Henning Saß eine psychische Störung festgestellt hätte – dann – wenn der Richter diese Einschätzung teilt – dürfte der Angeklagte nicht verurteilt werden – keine Strafe ohne Schuld. Aber was passiert dann? Wie geht es dann weiter? § 63 StGB bestimmt, dass derjenige, der eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat, auf Anordnung des Gerichts in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden kann – wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass er potentiell für die Allgemeinheit gefährlich ist. Dabei handelt es sich um keine Bestrafung der ja dennoch vorhandenen rechtswidrigen Tat. Die Unterbringung dient der Therapie.
Das wichtigste ist der Mensch
Wir Psychiater können nur Hypothesen entwickeln, denn keiner von uns weiß, wie es wirklich war.
Im Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen gibt es auf der letzten Seite oft kein eindeutiges schwarz oder weiß, wenn die Frage nach der Schuldfähigkeit bzw. Schuldunfähigkeit nicht eindeutig beantwortet werden kann. Nicht selten kommt es vor, dass der Gutachter nicht ausschließen kann, dass der Angeklagte zur Tatzeit möglicherweise in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt war. Und dann: in dubio pro reo. Sine dubio: Ein Konstrukt wie die menschliche Psyche zu deuten und interpretieren und die Erkenntnisse davon in einem Strafprozess punktgenau klarstellen zu können, ist eine Kunst, die nur wenige perfekt beherrschen. Der Spalt zwischen Recht und Unrecht ist dünn und die Krux in einem Strafprozess ist der Mensch selbst. Deswegen ist es so immens wichtig, erfahrene Fachleute wie Henning Saß als einen Teil des Strafprozesses wissen zu können.
Sachverständiger ist, wer über Sachkunde auf besonderen Gebieten des Wissens und der menschlichen Tätigkeit verfügt.
Wird diese von der Rechtsprechung entwickelte Definition über den Sachverständigen seiner (wahren) Bedeutung für den Strafprozess wirklich gerecht?
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