Welche Bedeutung hat ein Stirnrunzeln eines Studenten in der 7. Sitzreihe?
Um sich die Bedeutung und Grenzen der Religionsfreiheit erneut in das Gedächtnis zu rufen, lohnt sich in diesen Tagen ein Blick in den selbsternannten echten Norden – nach Kiel. An der Kieler Universität sorgt eine muslimische Studentin aktuell für Aufsehen. Grund: Ihre Niqab. Zum Missfallen eines Professors trug sie das traditionelle Kleidungsstück, bei dem ausschließlich die Augenpartie sichtbar bleibt, auch während der Vorlesungen. Der Professor beschwerte sich, woraufhin die Uni das Tragen einer Niqab in Lehrveranstaltungen durch eine Richtlinie verbieten ließ.
Worum geht es?
Zur Begründung führt die Uni aus, dass die Mindestvoraussetzungen für die zur Erfüllung universitärer Aufgaben erforderliche Kommunikation in Forschung, Lehre und Verwaltung sicherzustellen seien – dazu gehöre auch die offene Kommunikation, welche nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern auch auf Mimik und Gestik beruhe.
Problematisch an der Richtlinie ist aber, dass im Hochschulgesetz von Schleswig-Holstein eine gesetzliche Regelung fehlt, mit der eine Uni eine Vollverschleierung in Lehrveranstaltungen untersagen kann. Die Kieler Uni hat den Fall deshalb an das Land mit der Bitte um Klarstellung verwiesen. Ob sich eine klare Regelung finden lässt, ist mehr als fraglich. Zum einen sind die Parteien des Landtags über das Thema stark zerstritten: Die FDP und die Union fordern über Kiel hinaus ein generelles Niqab-Verbot an Universitäten, die Grünen verweigern die Zustimmung. Und zum anderen ist die rechtliche Problematik komplex – wie sieht es verfassungsrechtlich aus?
Niqab als Ausdruck individueller Glaubensfreiheit
Unproblematisch lässt sich zunächst festhalten, dass wir uns hier mit der Frage nach der Religions- bzw. Glaubensfreiheit und ihrer Ausübung beschäftigen müssen. Art. 4 I, II GG ist in personeller Hinsicht ein „Jedermanngrundrecht“ und steht somit allen natürlichen Personen – also auch Studenten – zu. In sachlicher Hinsicht enthält der Artikel ein umfassend schützendes Grundrecht. Es wird – in positiver und negativer Hinsicht – die Freiheit garantiert, sich einen Glauben zu bilden und zu haben und diesen auch zu äußern und danach zu handeln. Klar ist auch, dass nicht jedes beliebige Verhalten in den Schutzbereich fallen kann, nur weil eine Person es subjektiv als religiös einstuft. Maßgeblich ist deshalb, ob sich das in Frage stehende Verhalten der Religionsgemeinschaft plausibel zuordnen lässt.
Dies ist beim Tragen religiöser Kleidung anzunehmen – und somit auch bei der Niqab. Die Niqab ist ein Ausdruck der individuellen Glaubensfreiheit und wird durch Art. 4 I, II GG geschützt.
Demokratieprinzip als verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Verbots der Gesichtsverschleierung?
Ein generelles Niqab-Verbot an Universitäten stellt somit zunächst einen Eingriff dar. Auch wenn das Verbot der Kieler Universität „nur“ für die Lehrveranstaltungen gelten soll und somit nicht für die Zeit dazwischen, ist von einem solchen auszugehen.
Zur Erinnerung: Ein Eingriff ist jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht (sog. moderner Eingriffsbegriff).
Um verfassungsgemäß zu sein, muss ein Eingriff in Grundrechte gerechtfertigt sein. Anders als bei vielen anderen Grundrechten, sieht die Religionsfreiheit keinen Gesetzesvorbehalt vor. Es kommen nur verfassungsimmanente Grenzen in Betracht, also die Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter.
Wobei dieses Thema umstritten ist und hierzu mehrere Ansichten vertreten werden. Das Problem zu den Schranken der Glaubensfreiheit kannst Du Dir hier anschauen.
Dabei muss in solchen Konstellationen einzelfallbezogen die verfassungsrechtlich geschützten Güter herausgearbeitet und dann – im Kollisionsfall – gegeneinander abgewogen werden. Man spricht dann von der „Herstellung praktischer Konkordanz“.
Der Verfassungsrechtler Prof. Andreas von Arnaud sieht das Verbot der Kieler Universität kritisch:
„Ein bloßes Unbehagen aufgrund einer Gesichtsverschleierung begründet noch keinen Rechtsanspruch auf ein Verbot. Ich sehe da keine Verhältnismäßigkeit, das sehr weitreichende Grundrecht freier Religionsausübung entsprechend zu beschneiden.“
Die Universität begründet ihr Verbot mit dem Erfordernis einer offenen Kommunikation, was aus universitärer Sicht mit einer Niqab unvereinbar scheint. Zu einer freiheitlichen Gesellschaft gehöre, dass man sich gegenseitig in das Gesicht schauen kann. Dies müsse insb. an einer Hochschule gelten, an der eine offene Kommunikation unerlässlich sei. In diese Richtung geht auch eine – wenn auch recht wenig – verbreitete Meinung in der Literatur. Diese sieht im Demokratieprinzip aus Art. 20 I GG einen Anknüpfungspunkt für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Verbots der Gesichtsverschleierung.
Das Tragen einer Niqab sei nicht vereinbar mit „der für ein demokratisches Gemeinwesen grundlegenden Kultur eines offenen Dialogs“. Diese Auffassung stößt sich aber an der Rechtsprechung des BVerfG, wonach eine Einschränkung der Religionsfreiheit nicht formelhaft mit allgemeinen Zielen gerechtfertigt werden könne. Es müsste weiter grundsätzlich erstmal dargelegt werden, dass eine Verschleierung des Gesichts einen offenen Dialog tatsächlich ausschließt.
Kein Vergleich zur Regelung in Niedersachsen oder Bayern
Im universitären Kontext muss deshalb beachtet werden, dass die Frage der Mimik und Gestik im Vergleich zu Schulen eine ganz andere Rolle spielt: Im Gegensatz zu der Schulform gibt es an der Universität zunächst keine mündliche Noten. Deshalb darf beispielsweise nicht mit Niedersachsen als Vergleich argumentiert werden. Niedersachsen hat 2017 eine Vollverschleierung an Schulen verboten. Im niedersächsischen Gesetz heißt es nun, Schüler dürfen mit ihrem Verhalten oder ihrer Kleidung nicht die Kommunikation im Schulleben erschweren. Eine aus religiösen Gründen getragene Vollverschleierung könne eine Erschwerung sein.
Ähnlich im Süden, in Bayern: Der Bayrische Verwaltungsgerichtshof hat entschieden, dass ein Verbot gesichtsverhüllender Schleier während des Unterrichts an einer Berufsoberschule einen zulässigen Eingriff in die Religionsfreiheit darstelle. Die Rechtfertigung resultiert aus dem staatlichen Bestimmungsrecht aus Art. 7 I GG, das den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag umfasse; hierzu gehöre auch die Auswahl der Unterrichtsmethode, etwa in Form der offenen Kommunikation. Die Gründe aus den (Berufs-)Schulen Bayerns und Niedersachsen können aber nicht auf die (Kieler-)Universität übertragen werden. An der Universität steht der Professor zumeist einer Vielzahl an Studenten gegenüber. Der Aspekt der Masse berechtigt zur – wenn auch überspitzten – Frage, welche Bedeutung ein Stirnrunzeln eines Studenten in der 7. Sitzreihe für die Lehrveranstaltung mit sich bringt.
Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es natürlich auch Lehrveranstaltungen in relativ kleinen Gruppen gibt, in denen die Mimik- und Gestikproblematik stärkere Relevanz mit sich bringt. Dennoch ist kritisch zu betrachten, warum unter diesem Aspekt nicht differenziert werden kann.
Es ist zuletzt anzuerkennen, dass die Universität sich durch das Verbot gleichzeitig gegen die Unterdrückung der Frau einzusetzen versucht. Aber welche (Neben-) Wirkung hat ein Zutrittsverbot in Bildungseinrichtungen wirklich? Ist nicht gerade die Universität einer der Orte, in dem Menschen aus Ideologien entwachsen können?
Wie geht es weiter?
Der Kieler Landtag startete Anfang April eine enorm große Anhörung bzgl. der Niqab- Thematik. Bis Mitte Juni sollen sich Experten von über 100 Einrichtungen, Vereinen oder Einzelpersonen diesbezüglich äußern. Die Universität hofft dabei auf eine Änderung des Hochschulgesetzes, damit ihr Verbot gesetzlich gestützt wird. Bis heute wird das Verbot offenbar von der Studentin, die nach eigener Aussage bis vor das Bundesverfassungsgericht gehen würde, ignoriert. Sie setzt bisweilen ihr Studium fort: Niqab- tragend.
Auch interessant: Der aktuelle Niqab-Fall erinnert ein wenig an einen anderen Fall, in dem Symbolik an Universitäten eine Rolle spielte. In Greifswald wurde einem Jura-Professor das Tragen von Thor-Steinar-Klamotten verboten. Seiner Aussage nach trug er die Klamotten aber nur aus rein praktischen Gründen. Heute ist der ehemalige Jura-Professor Abgeordneter der AfD.
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