70 Jahre Grundgesetz - Vergessene Artikel mit aktueller Brisanz

70 Jahre Grundgesetz - Vergessene Artikel mit aktueller Brisanz

Fast vergessen, aber dennoch höchstbrisant

Artikel 15 unseres Grundgesetzes ist wohl – trotz seiner Stellung am Beginn des Grundgesetzes und direkt nach dem sehr wichtigen und extrem prüfungsrelevanten Art. 14 GG - einer der unscheinbarsten Artikel im ganzen Grundgesetz. Als Resultat wird wohl kaum ein Studierender auf Anhieb sagen können, was Art. 15 GG eigentlich regelt. Im Folgenden wollen wir uns ein wenig mit diesem „vergessenen“ Artikel beschäftigen und besonders der Frage auf den Grund gehen, warum die FDP den Artikel seit Jahren abschaffen möchte und welche aktuelle Debatte bzw. Forderung auf Art. 15 GG gestützt wird. Aktuell spielt Art. 15 GG nämlich eine wichtige Rolle innerhalb einer höchstbrisanten und emotionsgeladenen Debatte.

 

Worum geht es?

„Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“

Um Art. 15 GG zu verstehen, muss er zunächst in einen historischen Kontext gesetzt werden: Als das Grundgesetz entstand, war die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands noch ungewiss. Erst im Laufe der Jahre entwickelte sich unsere Wirtschafsordnung im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft. Das Grundgesetz schreibt allerdings keine bestimmte Wirtschaftsverfassung vor. Wichtig ist nur, – und so bestätigte es auch das Bundesverfassungsgericht – dass sich die vom Gesetzgeber festgelegte Wirtschaftsordnung in den Grenzen unseres Grundgesetzes bewegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg favorisierte insbesondere die SPD den Sozialismus, dessen Umsetzung der Art. 15 ermöglichte. Zudem ebnete Art. 15 GG den Weg dafür, die Ruhrindustrie in Zeiten der Besatzung durch eine Vergesellschaftung in deutschen Händen zu halten. Aus diesen Gründen sprachen sich die CDU (insbesondere der CDU-Politiker Konrad Adenauer) und die SPD für Artikel 15 GG aus, der nach einigen Debatten seinen Wortlaut fand.

 

Verfassungsrechtliche Einordnung des Art. 15 GG

Art. 15 GG steht im engen Zusammenhang mit der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG und beschränkt diese. Wegen dieses Zusammenhanges und des Verweises auf Art. 14 III 3 und 4 GG wird er auch oft als vierter Absatz von Art. 14 GG bezeichnet. Art. 15 GG ermöglicht es juristisch – im Gegenteil zu Art. 14 GG – ganze Wirtschaftszweige zu vergesellschaften. Genau wie bei einer Enteignung nach Art. 14 GG ist eine Enteignung jedoch nicht ohne Entschädigung möglich. Art. 15 GG wird unter einem qualifizierenden Gesetzesvorbehalt gewährt. Dies bedeutet konkret, dass das einschränkende Gesetz nicht „nur“ verfassungskonform sein, sondern darüber hinaus auch Art und Ausmaß der Entschädigung regeln muss.

 

Aktuelle Brisanz in emotionsgeladenen Debatten

Obwohl von Art. 15 GG in der Geschichte noch kein Gebrauch gemacht wurde und er auch in der Rechtsprechung nur selten erwähnt wird, gewinnt der Artikel kürzlich an Aufmerksamkeit: Anlass ist der Wohnungsmangel in Berlin, weshalb dort teilweise die Vergesellschaftung ganzer privater Immobilienkonzerne gefordert wird, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Laut Informationen auf der Homepage des Berliner Volksbegehrens sollen Konzerne mit mehr als 3000 Wohnungen nach „Artikel 15 Grundgesetz enteignet und ihre Bestände in Gemeineigentum überführt werden“. Ob eine Enteignung jedoch im konkreten Fall das mildeste Mittel darstellt, könnte diskutiert werden. Und auch die Höhe einer möglichen Entschädigung wirft Fragen auf: Orientiert sich diese an dem Verkehrswert der Immobilien oder an Art. 14 III GG?

Letzteres erscheint zumindest juristisch haltbarer. In der höchstbrisanten und emotionsgeladenen Debatte sind sich viele jedoch in einem Punkt einig: Eine Vergesellschaftung ganzer Immobilienkonzerne stellt unsere Wirtschaftsordnung – zumindest partiell – gehörig auf den Kopf, weshalb für die liberale FDP feststeht:

Artikel 15 muss ersatzlos aus unserem Grundgesetz gestrichen werden, da er nur ein Überbleibsel aus vergangenen, wirtschaftlich unklaren Zeiten darstellt.

Der FDP-Politiker Marco Buschmann besorgt zudem in einem Interview mit Lto, dass der Artikel juristisch zumindest die Tür dafür öffne, auch neben der Immobilienbranche andere Wirtschaftszweige wie zum Beispiel Banken oder Dienstleistungsunternehmen zu enteignen – schließlich dürfte die Frage, ob nur „klassische“ Produktionsmittel vom Wortlaut des Art. 15 GG umfasst seien, eine juristische Debatte eröffnen. „Es ist besser, diese Tür ganz zu schließen, als weiter zu diskutieren, wie weit sie geöffnet werden kann.“, kommentiert er in diesem Zusammenhang zu der juristischen Auslegung und mögliche Grenzen des Artikels. Die FDP hat deshalb nun beschlossen, dass sie noch in diesem Jahr einen Gesetzesentwurf ausarbeiten wolle, der die Streichung des Artikels vorsieht. Dies hat die Fraktion in der Vergangenheit allerdings schon zweimal (2001 und 2006) vergeblich versucht. Ob es mit dem neuen Entwurf gelingt, bleibt abzuwarten.