A. Sachverhalt
Durch Gesetz Nr. 1643 vom 6. Dezember 1962 hat die Italienische Republik die Erzeugung und Verteilung elektrischen Stroms verstaatlicht und die juristische Person E.N.E.L. gegründet; ihr sind die Betriebsanlagen der Elektrizitätsunternehmen übereignet worden.
In einem Rechtsstreit um eine Stromrechnung, der zwischen dem E.N.E.L. und einem Rechtsanwalt Costa vor dem Friedensgericht Mailand anhängig ist, hat dieser Rechtsanwalt Costa als Stromverbraucher und als Aktionär der von der Verstaatlichung betroffenen Aktiengesellschaft Edisonvolta incidenter beantragt, das Friedensgericht möge Artikel 177 EWG-Vertrag [jetzt: Art. 267 AEUV] anwenden, um eine Auslegung der Artikel 102, 93, 53 und 37 herbeizuführen; diese Artikel sind nach Ansicht des Antragstellers durch das genannte Gesetz vom 6. Dezember 1962 verletzt.
Das italienische Friedensgericht hat dem Antrag mit folgendem Beschluss vom 16. Januar 1964 stattgegeben:
„[Es] wird gemäß Artikel 177 des Vertrages zur Gründung der EWG vom 25. März 1957, in die italienische Rechtsordnung aufgenommen mit Gesetz Nr. 1203 vom 14. Oktober 1957, auf die Rüge der Unvereinbarkeit des Gesetzes Nr. 1643 vom 6. Dezember 1962 und der auf ihm beruhenden Dekrete des Präsidenten der Republik Nr. 1670 vom 15. Dezember 1962, Nr. 36 vom 4. Februar 1963, Nr. 138 vom 25. Februar 1963 und Nr. 219 vom 14. März 1963 mit den Artikeln 102, 93, 53 und 37 des genannten Vertrages das Verfahren ausgesetzt und die Übersendung einer Ausfertigung der Akten an den Gerichtshof der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Luxemburg angeordnet. Die Geschäftsstelle hat diesem Gerichtshof eine Ausfertigung dieses Beschlusses gemäß Artikel 20 des dem EWG-Vertrag als Anlage beigefügten Protokolls vom 17. April 1957 über die Satzung des Gerichtshofes der EWG durch die Post zu übermitteln.“
B. Worum geht es?
Die italienische Regierung hielt das Ersuchen des Friedensgerichts für „absolut unzulässig“, weil das staatliche Gericht innerstaatliches Recht anzuwenden habe und daher nicht nach Artikel 177 EWG-Vertrag [jetzt: Art. 267 AEUV] vorgehen und ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten könne. Die italienische Regierung rügt, das Friedensgericht habe den Gerichtshof nicht nur um Auslegung des Vertrages, sondern um Entscheidung darüber ersucht, ob das umstrittene italienische Gesetz mit dem Vertrag vereinbar sei. Deshalb sei der Vorabentscheidungsantrag unzulässig. Die innerstaatlichen Gerichte könnten das Vorabentscheidungsverfahren nicht einleiten, wenn sie bei der Entscheidung eines Rechtsstreits nicht den Vertrag, sondern lediglich ein innerstaatliches Gesetz anzuwenden haben.
Der EuGH hatte damit die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis das nationale (hier: italienische) Recht zum Gemeinschaftsrecht steht.
C. Wie hat der EuGH entschieden?
Der EuGH bestätigt in dem Urteil Costa ./. ENEL (Urt. v. 15.7.1964 – Rechtssache C-6/64 (NJW 1964, 2371)) die Entscheidung in der Rechtssache van Gend & Loos aus dem Jahr 1963 und den dort statuierten Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Die Vorlage des italienischen Gerichts sei daher zulässig.
Für sein weites Verständnis des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts, das nicht ausdrücklich kodifiziert ist, beruft sich der EuGH auf die Eigenständigkeit der unionalen Rechtsordnung, der kein „gewöhnlicher” internationaler Vertrag zu Grunde liege. Vielmehr sei dadurch eine eigene Rechtsordnung geschaffen worden:
„Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.
Diese Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, daß es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung, nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. Solche Maßnahmen stehen der Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung daher nicht entgegen. Denn es würde eine Gefahr für die Verwirklichung der in Artikel 5 Absatz 2 aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten und dem Verbot des Artikels 7 widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum ändern verschiedene Geltung haben könnte. …
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird auch durch Artikel 189 bestätigt. Ihm zufolge ist die Verordnung „verbindlich“ und „gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“. Diese Bestimmung, die durch nichts eingeschränkt wird, wäre ohne Bedeutung, wenn die Mitgliedstaaten sie durch Gesetzgebungsakte, die den gemeinschaftsrechtlichen Normen vorgingen, einseitig ihrer Wirksamkeit berauben könnten.“
Daraus folge eine selbstauferlegte Beschränkung der Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten, weswegen innerstaatliche Rechtsakte sich an dem Gemeinschaftsrecht messen lassen müssen:
„Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.
Die Staaten haben somit dadurch, daß sie nach Maßgabe der Bestimmungen des Vertrages Rechte und Pflichten, die bis dahin ihren inneren Rechtsordnungen unterworfen waren, der Regelung durch die Gemeinschaftsrechtsordnung vorbehalten haben, eine endgültige Beschränkung ihrer Hoheitsrechte bewirkt, die durch spätere einseitige, mit dem Gemeinschaftsbegriff unvereinbare Maßnahmen nicht rückgängig gemacht werden kann. Infolgedessen ist Artikel 177 ohne Rücksicht auf innerstaatliche Gesetze anzuwenden, wenn sich die Auslegung des Vertrages betreffende Fragen stellen.“
D. Fazit
Das Urteil Costa ./. ENEL ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem weiten Verständnis vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Die Ausführungen des EuGH bedurften indes noch einer Konkretisierung, der wir in den kommenden Wochen nachgehen werden.
Du möchtest weiterlesen?
Dieser Beitrag steht exklusiv Kunden von Jura Online zur Verfügung.
Paket auswählen