BVerwG zu den Anforderungen an die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit von prüfungsrechtlichen Sanktionen

BVerwG zu den Anforderungen an die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit von prüfungsrechtlichen Sanktionen

Verspätete Examenskandidatin hätte nicht durchfallen dürfen

Weil sie den (Wieder-)Beginn ihrer mündlichen Prüfung um wenige Minuten verpasste, sollte eine Examenskandidatin in ihrem letzten Versuch durchfallen - entschied nicht nur das LJPA, sondern auch das VG Minden und das OVG Münster. Das BVerwG hat nun über prüfungsrechtliche Grundsätze und die Zukunft der Bielefelder Jurastudentin entschieden: Sie hätte nicht durchfallen dürfen.

 

Worum geht es?

Eine Jurastudentin aus Bielefeld war zu ihrem Termin für die mündliche Prüfung im Rahmen der staatlichen Pflichtfachprüfung zunächst pünktlich erschienen und hatte den als Prüfungsleistung zu erbringenden Vortrag absolviert. Nach einer Pause war sie jedoch unentschuldigt nicht rechtzeitig zum Beginn des Prüfungsgesprächs zurückgekehrt, da sie für das um 11:30 Uhr angesetzte Prüfungsgespräch fälschlicherweise von 12:30 Uhr als Zeitpunkt des Wiederbeginns der Prüfung ausging. Als die Kandidatin um 11:50 Uhr - aus ihrer Sicht somit durchaus pünktlich - wieder vor dem Prüfungsraum stand, waren die Türen bereits verschlossen. Ihr wurde die Teilnahme an dem seit nunmehr fünf Minuten laufenden Prüfungsgespräch verweigert. Auch nach einer weiteren Pause durfte sie nicht mehr an dem weiteren Prüfungsgespräch teilnehmen. Das Justizprüfungsamt erklärte die staatliche Pflichtfachprüfung unter Verweis auf § 20 I Nr. 3 Alt. 3 des nordrhein-westfälischen Juristenausbildungsgesetzes (JAG NRW) für nicht bestanden. Diese Vorschrift sieht eine solche Sanktion vor, wenn ein Prüfling ohne genügende Entschuldigung den Termin für die mündliche Prüfung nicht bis zum Ende der Prüfung wahrnimmt. Die von der Studentin erhobene Klage ist vor dem VG Minden und dem OVG Münster ohne Erfolg geblieben.  

Vorinstanzen: einzelne Prüfungsgespräche seien “untrennbare Einheit”

Beide Gerichte hatten eine “untrennbare Einheit” der einzelnen Abschnitte des Prüfungsgesprächs angenommen - dies solle sich aus § 18 III 2 JAG NRW ergeben - sodass man der Kandidatin zu Recht den Wiedereinstieg in die nachfolgenden Prüfungsabschnitte habe verwehren und die gesamte staatliche Pflichtfachprüfung für nicht bestanden erklären dürfen. Auch die “wohl durch Aufregung entstandene Fehlvorstellung über die Prüfungszeit” habe keine genügende Entschuldigung dargestellt, zumal von einer Hochschulabsolventin erwartet werden könne, ihr mitgeteilte Termine einzuhalten - das endgültige Nichtbestehen gemäß § 20 I Nr. 3 JAG NRW sei daher auch unter Berücksichtigung der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG nicht unverhältnismäßig.

Das sieht das BVerwG allerdings anders: Auf die Revision der Studentin haben die Leipziger Richter die vorinstanzlichen Urteile geändert und den angegriffenen Bescheid des Justizprüfungsamts aufgehoben. Landesrechtliche Vorschriften, die im Rahmen von berufsbezogenen Prüfungen Sanktionen vorsehen, unterliegen nach dem Maßstab des Art. 12 I GG strengen Anforderungen in Bezug auf ihre Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit.  

**  20 I Nr. 3 Alt. 3 JAG NRW - eine sanktionsrechtliche Generalklausel?**

Nach der für das BVerwG bindenden Auslegung der landesrechtlichen Vorschrift des § 20 I Nr. 3 Alt. 3 JAG NRW durch das OVG könne deren Tatbestand nicht nur dadurch verwirklicht werden, dass ein Prüfling den Termin für die mündliche Prüfung ohne genügende Entschuldigung aus eigenem Entschluss verlässt. Erfasst werden vielmehr auch Fälle, in denen einem Prüfling die weitere Teilnahme an dem Termin wegen eines vorwerfbaren Verhaltens zu Recht verweigert wird. Die Rechtsfolge bestehe nach dem Verständnis des OVG im Regelfall entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift darin, dass die gesamte staatliche Pflichtfachprüfung für nicht bestanden zu erklären sei.

Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit komme im Einzelfall aber stattdessen vielmehr in Betracht,  den versäumten Prüfungsteil mit 0 Punkten zu bewerten. Nach dem prüfungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot müssen Sanktionsnormen nach ihrem Tatbestand und nach der vorgesehenen Rechtsfolge dem Prüfling ermöglichen, sich so zu verhalten, dass er jede Gefahr einer Sanktion vermeidet, so die Leipziger Richter. Diesen Anforderungen werde § 20 I Nr. 3 Alt. 3 JAG NRW nach Auslegung durch das OVG aber nicht gerecht, da seine Anwendung für die Prüflinge so nicht vorhersehbar sei. Die Norm gewinne dadurch tatbestandlich den Charakter einer sanktionsrechtlichen Generalklausel und könne Rechtsfolgen nach sich ziehen, die in ihrem Wortlaut in keiner Weise aufscheinen.  

Verfassungskonforme Auslegung

Zudem verstoße die Vorschrift des § 20 I Nr. 3 Alt. 3 JAG NRW in ihrer Auslegung durch das OVG gegen den bundesverfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da sie eine Sanktion nicht nur in Fällen ermögliche würde, in denen ein Prüfling die laufende mündliche Prüfung abbricht, um in einem neuen Termin seine Erfolgschancen zu erhöhen, sondern erfasse auch Fälle, in denen sich der Prüfling geringfügig verspätet und an der Prüfung teilnehmen will. In dieser Konstellation wiegen die von dem OVG für möglich gehaltenen Sanktionen zu schwer.

Das BVerwG hat § 20 I Nr. 3 Alt. 3 JAG NRW verfassungskonform dahingehend ausgelegt, dass die Norm nach ihrem Tatbestand nur diejenigen Fälle erfasst, in denen ein Prüfling aus der begonnenen mündlichen Prüfung aus eigenem Entschluss aussteigt, und hieran die ausdrücklich vorgesehene Rechtsfolge des Nichtbestehens der staatlichen Pflichtfachprüfung geknüpft wird. Mit diesem Kerngehalt genügt die Vorschrift nicht nur dem prüfungsspezifischen Bestimmtheitsgebot, sondern steht, da sie dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit dient, auch mit dem an Art. 12 Abs. 1 GG ausgerichteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang. Der Fall der Studentin wird von diesem verfassungsrechtlich unbedenklichen Regelungsgehalt jedoch nicht erfasst.

“Meine Mandantin neigt nach aktuellem Stand dazu, die neue Chance, die ihr das Urteil aus Leipzig verschafft, zu nutzen”, sagt der Anwalt der klagenden Kandidatin, Jan-Christian Hochmann.

- Urt. v. 27.02.2019, Az. 6 C 3.18 -

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