A. Sachverhalt
Während der Angeklagte in der Türnische eines Geschäfts mit der von ihm angesprochenen Hausangestellten H stand und es auf das in ihrer Handtasche vermutete Geld abgesehen hatte, bewirkte er plötzlich “mit einem etwas stärkeren Schlage” seiner Hand auf ihre bügellose Handtasche, dass diese zu Boden fiel. H hatte die Handtasche “nur einfach in der Hand” gehalten, “ohne sie besonders festzuhalten”. Als sie versuchte die Tasche wieder aufzuheben, kam ihr der Angeklagte zuvor, nahm die Tasche an sich und lief mit ihr davon. Als die Freundin von H den Angeklagten nach einigen Schritten am Rockärmel erfasste, riss er sich los.
B. Worum geht es?
Das Landgericht hat den Angeklagten (nur) wegen Diebstahls (§ 242 StGB), nicht wegen Raubes (§ 249 StGB) verurteilt:
„Entgegen dem Eröffnungsbeschluß, der dem Angeklagten insoweit schweren Raub (§§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 3 StGB) vorwirft, glaubt das Landgericht, ihn nur wegen Diebstahls (§ 242 StGB) verurteilen zu können, weil er gegen das Mädchen “zur Überwindung” des von ihr “auf die Tasche ausgeübten Drucks” keine größere Kraft haben anwenden müssen, als zur bloßen Wegnahme notwendig war. Es fehle daher, so meint es, an dem Tatbestandsmerkmal der Gewaltanwendung. Damit folgt das Landgericht jedenfalls im Ergebnis lediglich den in RGSt 46, 403 entwickelten rechtlichen Gedankengängen. Auch das Reichsgericht hat dort das überraschende Wegreißen einer Handtasche nur als Gewalt gegen eine Sache, nicht gegen eine Person beurteilt. Es komme nämlich, so legt es dar, wegen der Überraschung überhaupt nicht zu einem Willensentschluß der bestohlenen Person. Das Reichsgericht ist demnach dort der Ansicht, Gewalt gegen eine Person (§ 249 StGB) werde erst dann angewendet, wenn diese sich der Gefahr und ihres Willens zum Widerstandleisten bewußt geworden sei. Die Entscheidungen des Reichsgerichts zum Gewaltbegriff sind im übrigen nicht einheitlich, wie einerseits HGSt 58, 98; 72, 349, 351 (körperliche Kraftanwendung), anderseits 60, 157; 66, 353, 355; 73, 343, 345 (bloßes Einschließen, Schreckschüsse) zeigen.“
Die Staatsanwaltschaft hat das nicht überzeugt und Revision eingelegt. Der BGH hatte damit folgende Frage zu beantworten:
„Kann Gewalt gegen eine Person i.S.v. § 249 StGB verüben, wer jemandem überraschend eine Tasche aus der Hand schlägt, um sie an sich zu bringen, auch wenn dazu keine besondere Kraft gehört hat?“
C. Wie hat der BGH entschieden?
Der BGH hebt im Handtaschen-Fall (Urt. v. 19.04.1963 - 4 StR 92/63 (BGHSt 18, 329 ff.)) auf Revision der Staatsanwaltschaft das Urteil des Landgerichts auf. Wer jemandem überraschend eine Tasche aus der Hand schlägt, um sie an sich zu bringen, könne dadurch auch dann Gewalt gegen eine Person verüben, wenn dazu keine besondere Kraft gehört hat.
Zunächst definiert der BGH Gewalt:
„Gewalt (§ 249 StGB) ist die Einwirkung auf den Körper einer Person, die geeignet und dazu bestimmt ist, die Freiheit der Willensbildung oder Willensbetätigung aufzuheben (Leipziger Komm., 8. Aufl. § 249 Anm. 3 a, ebenso im Ergebnis BGHSt 1, 145).“
Wer einen nicht geradezu wertlosen Gegenstand in der Hand hält, sei nach der Erfahrung des täglichen Lebens in aller Regel bereits entschlossen, sich der beliebigen Wegnahme dieses Gegenstandes (z.B. einer Handtasche) zu widersetzen:
„Darüber muß er sich nicht dann erst klar werden, wenn er sich etwa bewußt wird, daß ihm der Gegenstand weggenommen wird oder weggenommen werden soll. Das weiß in aller Regel auch derjenige, der eine solche Tasche an sich bringen will. Von dieser Vorstellung aus ist sein planmässiges Vorgehen erst sinnvoll. Er greift überraschend zu, um den Träger der Tasche daran zu hindern, seiner von vornherein vorhandenen inneren Haltung entsprechend Widerstand zu leisten, nicht aber deswegen, wie das Reichsgericht meint, um der Entscheidung des Betroffenen darüber zuvorzukommen, ob er die Tasche widerstandslos herausgeben will oder nicht.“
Die Gewaltanwendung (§ 249 StGB) erfordere auch keine besondere Entfaltung körperlicher Kraft:
„Schon das Reichsgericht hat, wie aus RGSt 60, 157, 158; 66, 353, 355; 73, 343, 344, 345 zu entnehmen ist, für entscheidend gehalten, daß die vom Täter ausgehende Einwirkung auf sein Opfer nicht lediglich als ein seelischer, sondern zumindest auch als unmittelbarer körperlicher Zwang empfunden werde (RGSt 60, 158), als Einwirkung, die ihn auch körperlich trifft. Bei der Gewaltanwendung verursacht der Täter durch seine körperliche Handlung, daß der wirkliche oder erwartete Widerstand des Angegriffenen durch ein auf dessen Körper einwirkendes Mittel gebrochen oder verhindert wird, mag der Täter dazu größere oder nur geringere Körperkraft entfalten (BGHSt 1, 145, 147) [BGH 05.04.1951 - 4 StR 129/51]. Das trifft für ein Aus-der-Hand-Schlagen zu, mag dazu, wegen der Überraschungseinwirkung oder aus anderen Gründen, auch kein besonderer Kraftaufwand gehören und angewendet werden. Auch ein schwacher, alter Mensch, der keine große Abwehrkraft mehr aufbringt, kann auf die festgestellte Weise beraubt werden. Anscheinend meint die Strafkammer indessen, es komme darauf an, daß erhebliche Kraftentfaltung zur Wegnahme der Handtasche erforderlich war. Das träfe nicht zu. Es genügt, wenn der Täter Gewalt in dem dargelegten Sinne anwendet, weil er sie für geeignet hält, die Wegnahme zu ermöglichen. Maßgebend ist allein seine Vorstellung und sein Wille (BGHSt 4, 210, 211 [BGH 21.05.1953 - 4 StR 787/52] und 1, 145).“
D. Fazit
Der Gewaltbegriff ist Grundlage vieler Tatbestände und sollte daher beherrscht werden.
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