BGH zur Reichweite der Widerspruchslösung

A. Sachverhalt (leicht abgewandelt)

Nach den Feststellungen des Landgerichts bewohnte der Angeklagte unangemeldet eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Hamburg. Diese diente als Lagerstätte und Umschlagplatz für umfangreichen Drogenhandel. Nach Bestellung von Betäubungsmitteln wie Marihuana, Haschisch, MDMA, Amphetamin und Kokain im „Darknet“ portionierte der Angeklagte gemäß einer ihm von einem unbekannten Mittäter verschlüsselt überlassenen Liste die Drogen aus dem in der Wohnung vorgehaltenen Vorrat, verpackte sie luftdicht und machte sie versandfertig. Hierfür erhielt er eine Entlohnung in unbekannter Höhe. Bei einer Durchsuchung wurden in der Wohnung ca. 3,7 kg Marihuana (365,3 g THC), ca. 266 g Haschisch (35,21 g THC), ca. 1,8 kg MDMA (1,151 kg MDMA-Base), ca. 8,4 kg Amphetamine (794 g Amphetamin-Base) und ca. 3 g Kokain gefunden. An der Wohnungstür im Flur stand ein Schuhschrank, auf dem sich in einer Schale offen sichtbar eine Dose Pfefferspray befand. Dieses diente - wie der Angeklagte wusste - der Sicherung der illegal gelagerten Betäubungsmittel.

Die Wohnungsdurchsuchung erfolgte zunächst aufgrund eines gegen den gemeldeten Wohnungsinhaber F. wegen Betrugsvorwürfen richterlich angeordneten Durchsuchungsbeschlusses. Nachdem die Polizei durch eine offenstehende Tür die Wohnung betreten, niemanden angetroffen, aber zufällig Rauschgift gefunden und teilweise sichergestellt hatte, wechselte sie das Schloss aus und wartete. Als der Angeklagte die Wohnung betreten wollte, wurde er festgenommen. Am nächsten Tag setzten die Polizeibeamten die Durchsuchung fort und stellten weitere Betäubungsmittel sicher.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „unerlaubten bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge“ zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Verwertung der bei der Durchsuchung sichergestellten Beweismittel hatte der Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht widersprochen.

Der Angeklagte richtet sich mit der Revision gegen die Verurteilung und macht geltend, dass die Durchsuchung rechtswidrig gewesen sei und die gefundenen Betäubungsmittel einem Beweisverwertungsverbot unterliegen würden.
Ist die Revision begründet?

B. Die Entscheidung des BGH (Beschl. v. 9.5.2018 – 5 StR 17/18)

Die Revision ist begründet, soweit das Urteil auf einer Verletzung des Rechts beruht (§ 337 StPO), wobei das Urteil bei einem Rechtsfehler im Sinne von § 338 StPO stets als auf der Gesetzesverletzung beruhend anzusehen ist (sogenannter absoluter Revisionsgrund).

In Betracht kommt hier ein Verstoß gegen ein Beweisverwertungsverbot im Hinblick auf die bei den Durchsuchungen aufgefundenen Beweismittel.

I. Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften

Es könnte ein Verstoß gegen § 105 StPO vorliegen. Am Tag der Fortsetzung der Durchsuchung wussten die Ermittlungsbehörden, dass der Angeklagte der wahre Wohnungsinhaber war. Eine gegen den Angeklagten gerichtete richterliche Durchsuchungsanordnung lag indes nicht vor (§ 105 StPO, Art. 13 II GG). In Anbetracht der Festnahme des Angeklagten drohte bei einem Zuwarten auf eine richterliche Entscheidung kein Beweismittelverlust und damit lag auch keine Gefahr in Verzug vor. Damit liegt ein Verstoß gegen den Richtervorbehalt nach § 105 StPO vor.

II. Abwägung der widerstreitenden Interessen

Nach der Rechtsprechung des BGH folgt nicht aus jedem Verstoß gegen eine Beweiserhebungsvorschrift ein Verbot, die daraus gewonnen Beweise im Strafverfahren zu verwerten.  Dem Strafverfahrensrecht sei ein allgemein geltender Grundsatz, dass jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich ziehe, fremd. Vielmehr sei in jedem Einzelfall eine Abwägung der widerstreitenden Interessen (Strafverfolgungsinteresse des Staates vs. Rechte des Beschuldigten) vorzunehmen (sogenannte Abwägungslehre). Das hat der BGH im Jahr 2007 wie folgt zusammengefasst:

„Die Frage, unter welchen Voraussetzungen bei Missachtung des sich aus Art. 13 Abs. 2 GG, § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO ergebenden Richtervorbehalts ein Verwertungsverbot hinsichtlich der aus der Wohnung zu Tage geförderten Beweismittel anzunehmen ist, hat der Gesetzgeber nicht entschieden (vgl. Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl. Einl. Abschn. L Rdn. 16). So ist - wie auch bei der Prüfung eines Verwertungsverbots bei Verstößen gegen andere Erhebungsvorschriften - davon auszugehen, dass dem Strafverfahrensrecht ein allgemein geltender Grundsatz, dass jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, fremd ist (BGHSt 44, 243, 249). Vielmehr ist diese Frage nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung jeweils nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden (BGHSt aaO m.w.N.).

 

Dabei muss beachtet werden, dass die Annahme eines Verwertungsverbots, auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung “um jeden Preis” gerichtet ist, eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist (BGHSt aaO m.w.N.). Maßgeblich mit beeinflusst wird das Ergebnis der demnach vorzunehmenden Abwägung vom Gewicht des infrage stehenden Verfahrensverstoßes (BGHSt aaO m.w.N.). Dieses wird seinerseits wesentlich von der Bedeutung der im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter bestimmt (BGHSt aaO).“ (Urt. v. 18.4.2007 – 5 StR 546/06)

 

Im Rahmen der danach gebotenen Abwägung ist in einem ersten Schritt zu fragen, ob die verletzte Verfahrensvorschrift dem Schutz des Beschuldigten dient (sogenannte Rechtskreistheorie). Ist das nicht der Fall, scheidet ein Verwertungsverbot aus, weil die Annahme von Beweisverwertungsverboten dem Schutz der der Rechte des Beschuldigten dient, nicht aber der Sanktionierung rechtswidriger Ermittlungsmaßnahmen. In einem zweiten Schritt ist das Gewicht des Verfahrensverstoßes nach dem Wert der betroffenen Rechtsgüter und dem Grad der Verletzung (Willkürlicher Verstoß? Bloßer Subsumtionsfehler?) zu bestimmen und gegen das Strafverfolgungsinteresse des Staates (Bagatelldelikt? Schwerkriminalität?) abzuwägen. Dabei kann auch eine Rolle spielen, ob die Erkenntnisse auf rechtmäßige Weise hätten gewonnen werden können (sogenannter hypothetischer rechtmäßiger Ersatzeingriff).

 

Gegen ein Beweisverwertungsverbot könnte im vorliegenden Fall angeführt werden, dass es um den schwerwiegenden Vorwurf des unerlaubten bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge geht (Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren, § 30a II Nr. 2 StGB, soweit kein minder schwerer Fall i.S.v. § 30a III StGB vorliegt). Dafür könnte sprechen, dass hier der verfassungsrechtlich zwingende Richtervorbehalt nach Art. 13 II GG verletzt wurde. Das kann indes offenbleiben, wenn die weiteren Voraussetzungen für ein Beweisverwertungsverbot nicht erfüllt sind.

III. Widerspruch

Nach ständiger Rechtsprechung ist Voraussetzung eines Beweisverwertungsverbotes in vielen Fällen, dass der verteidigte Angeklagte der Verwertung ausdrücklich widersprochen hat (sogenannte Widerspruchslösung). Der Widerspruch muss innerhalb der Hauptverhandlung und dort spätestens im Anschluss an die jeweilige Beweiserhebung (§ 257 StPO) erfolgen. Bleibt der Widerspruch aus, sind die Beweismittel verwertbar:

„Beweisverwertungsverbote, die aus einem Verstoß gegen Verfahrensvorschriften bei der Beweisgewinnung abgeleitet werden, werden durch den jeweiligen Gesetzesverstoß begründet und sind in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten (BGH, Beschlüsse vom 1. Dezember 2016 - 3 StR 230/16, NJW 2017, 1828, 1829 mwN, und vom 22. Februar 2018 - StB 29/17, Rn. 24). Unterlässt es der verteidigte Angeklagte, in der Hauptverhandlung der Beweisverwertung zu widersprechen, führt dies für die Revision zur Rügepräklusion (BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2014 - 5 StR 176/14, BGHSt 60, 38, 43 f. mwN; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 27. September 2016 - 4 StR 263/16, und vom 9. November 2005 - 1 StR 447/05, BGHSt 50, 272). Das Recht, sich auf das Verwertungsverbot zu berufen, geht verloren, wenn der verteidigte (oder entsprechend belehrte) Angeklagte in der tatrichterlichen Verhandlung der Verwertung und der ihr vorangehenden Beweiserhebung nicht widersprochen hat (BGH, Beschluss vom 27. Februar 1992 - 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214, 226 mwN).“

 

Der Bundesgerichtshof hat bisher nicht entschieden, ob diese Widerspruchslösung auch für unselbständige Beweisverwertungsverbote wegen Fehlern bei der Durchsuchung oder Beschlagnahme gilt. In einem obiter dictum hat sich der 2. Strafsenat im Jahr 2016 dagegen ausgesprochen:

„Dagegen spricht, dass eine Dispositionsmacht der Verteidigung über den auf diese Weise erfassten Sachbeweis, anders als bezüglich der Äußerungen des Beschuldigten, die durch verfahrensfehlerhafte Vernehmungen (§§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2 StPO) oder durch Gesprächsüberwachungen (§§ 100a, 100f StPO; vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2006 - 1 StR 316/05, BGHSt 51, 1, 3) im Vorverfahren erlangt wurden, grundsätzlich nicht besteht. Seine früheren Angaben kann der Angeklagte aus seiner Erinnerung erläutern und erklären, er kann sie durch eine Sacheinlassung ersetzen oder dementieren; er kann auch aus seiner Sicht die Äußerungssituation, die zur staatlichen Informationsbeschaffung geführt hat, darstellen. Dann aber erscheint es nachvollziehbar, ihm ferner die Disposition über die Verwertbarkeit seiner früheren Angaben zu überlassen. Bei der staatlichen Erfassung von Sachbeweisen (Urkunden oder Augenscheinobjekten) bestehen keine vergleichbaren Dispositionsmöglichkeiten. Die Verteidigung darf dem staatlichen Strafverfahren sächliche Beweismittel grundsätzlich nicht entziehen, wenn sie verwertbar und dem hoheitlichen Zugriff ausgesetzt sind. Die Art und Weise der Erlangung solcher Sachbeweise durch die Ermittlungsbehörden, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss hat, ist deshalb vom Gericht von Amts wegen aufzuklären, soweit Verfahrensfehler bei diesem Vorgang in Betracht kommen. Auf einen Widerspruch gegen die Beweisverwertung kommt es dafür nicht an. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich - wie hier - auch ohne besonderen Hinweis der Verteidigung konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Ermittlungsmaßnahme nicht den gesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen entspricht. Versäumnisse der Verteidigung dürfen insoweit nicht dazu führen, dass an sich rechtswidrig erlangtes Beweismaterial ohne weiteres zur Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung des Angeklagten werden kann. Selbst wenn eine Dispositionsbefugnis der Verteidigung angenommen werden würde, weil sie - auch im Hinblick auf ihr günstige Erkenntnisse aus den verfahrensfehlerhaft erlangten Sachbeweisen - selbst entscheiden können soll, ob sie die Verwertung dieser Erkenntnisse wünscht (vgl. BGH aaO, BGHSt 51, 1, 3), würde dies nicht bedeuten, dass eine Entscheidung hierüber bis zu dem in § 257 Abs. 1 StPO genannten Zeitpunkt erfolgt sein muss. Es genügt jedenfalls, wenn der Angeklagte so rechtzeitig auf die mögliche Unverwertbarkeit von Erkenntnissen hinweist, dass das Tatgericht dies in der Beweisaufnahme prüfen kann. Eine (zwingende) Begründung dafür, warum ein Widerspruch unbedingt bis zu dem in § 257 Abs. 1 StPO genannten Zeitpunkt erklärt sein muss, findet sich nicht. § 257 Abs. 1 StPO ist vielmehr eine Schutzbestimmung zugunsten der Verfahrensbeteiligten, wonach ihnen zu den Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung jeweils das rechtliche Gehör zu gewähren ist. Die Änderung des Normgehalts in eine Befristung für eine Prozesserklärung zur Herbeiführung eines Beweisverwertungsverbots, das mangels rechtzeitigen Widerspruchs im gesamten weiteren Instanzenzug präkludiert ist, ergibt sich daraus nicht. Auch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Disponibilität möglicher Rechtsverstöße ist es nicht geboten, eine frühzeitige Festlegung der Verteidigung zu fordern. Würde man statt eines Widerspruchs eine Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO gegen die Anordnung der Beweiserhebung durch den Vorsitzenden fordern (vgl. BGH aaO, BGHSt 51, 1, 4), wäre eine solche Beanstandung auch an keine Frist gebunden (vgl. KK/Schneider, StPO, 7. Aufl., § 238 Rn. 17).“

Dem tritt der 5.Strafsenat nun entgegen:

„Die Erhebung eines Widerspruchs ist auch bei Beweisverwertungsverboten, die aus Fehlern bei einer Wohnungsdurchsuchung resultieren sollen, Voraussetzung einer entsprechenden Revisionsrüge. Soweit der 2. Strafsenat - in diesem Punkt nicht tragend - die gegenteilige Auffassung vertreten hat (vgl. BGH, Urteil vom 6. Oktober 2016 - 2 StR 46/15, BGHSt 61, 266 = NStZ 2017, 367 m. Anm. Basdorf; offen gelassen von BGH, Urteil vom 18. April 2007 - 5 StR 546/06, BGHSt 51, 285, 296 f.), vermag der Senat dem nicht zu folgen. …

Sinn und Zweck der Widerspruchsobliegenheit ist es, auf den Einwand des Betroffenen hin dem Tatgericht in der Hauptverhandlung die Möglichkeit und Veranlassung zu geben, dem gerügten Verfahrensfehler freibeweislich im Einzelnen nachzugehen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. September 2007 - 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38, 42 f.). Dem verteidigten Angeklagten (und den sonst von einem Beweisverwertungsverbot Betroffenen) wird im Interesse der Schonung von Justizressourcen - orientiert am Subsidiaritätsgedanken - die frühestmögliche zumutbare Geltendmachung einer Rechtsverletzung abverlangt, um in der Hauptverhandlung vor dem Tatgericht die Frage des Verwertungsverbots eingehend prüfen und gegebenenfalls Abhilfe schaffen zu können (vgl. ausführlich dazu Basdorf, StV 2010, 414, 416; Mosbacher, FS Rissing-van Saan, 2011, S. 357 ff. mwN). Dementsprechend folgt die Begründung des Widerspruchserfordernisses nicht aus der Dispositionsbefugnis des Angeklagten, sondern aus dem Gedanken subsidiären Rechtsschutzes. Eine Differenzierung des Widerspruchserfordernisses innerhalb unselbständiger Beweisverwertungsverbote überzeugt deshalb nicht (Basdorf, NStZ 2017, 370, 371).“

 

IV. Ergebnis

Damit besteht kein Beweisverwertungsverbot. Die Revision ist unbegründet.

 

C. Fazit

Beweisverwertungsverbote im Strafrecht sind im ersten Examen beliebte Themen für Zusatzfragen in Examensklausuren und für mündliche Prüfungsgespräche. Die enorme Bedeutung von Beweisverwertungsverboten im Assessorexamen (in allen strafrechtlichen Klausurtypen) muss nicht besonders betont werden. Merken sollte man sich die Widerspruchslösung und die Abwägungslehre.

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