BGH: Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort auch bei Verlassen des Ortes erst nach der letzten feststellungsberechtigten Person?

A. Sachverhalt (leicht vereinfacht)

A und S befuhren am 19. Mai 2016 in den frühen Abendstunden mit ihren Pkw die in beiden Fahrtrichtungen doppelspurig ausgebaute F-Straße in H. Beide missachteten die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. S war in Eile, nachdem ihn seine Ehefrau telefonisch gebeten hatte, schnell nach Hause zu kommen, da der gemeinsame Sohn dringend ärztlicher Hilfe bedürfe.

Nach Durchfahren einer Rechtskurve fuhren A und S mit einer Geschwindigkeit von jeweils mindestens 80 km/h in den nachfolgenden geraden Straßenverlauf ein. S befuhr die linke, A die rechte der beiden Fahrspuren.

Zum Zeitpunkt der Kurvenausfahrt beider fuhr die Z mit ihrem Pkw aus einer am rechten Fahrbahnrand der F-Straße gelegenen Parkbucht in Fahrtrichtung von A und S in den rechten Fahrstreifen ein. A, der bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit sein Fahrzeug noch vor Z zum Stehen hätte bringen können, wich zur Vermeidung einer Kollision auf die linke Fahrspur aus, auf der sich der S leicht versetzt hinter ihm befand.

Dieses Ausweichmanöver veranlasste S zu einer Schreckreaktion. Er verriss das Lenkrad nach links in Richtung der Gegenfahrbahn und betätigte die Bremse. Auf der Gegenfahrbahn kam es zu einer streifenden Kollision mit einem entgegenkommenden Pkw, die er bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch die eingeleitete Bremsung hätte vermeiden können. Anschließend kollidierte sein Fahrzeug frontal mit einem weiteren Pkw. Sowohl S als auch die vier Insassen der beiden anderen am Unfall beteiligten Fahrzeuge wurden durch die Kollisionen verletzt, zum Teil schwer.

A stellte das von ihm geführte Fahrzeug am Straßenrand ab und kehrte zu Fuß zu der Unfallstelle zurück. Dort gab er sich bewusst nicht als Unfallbeteiligter zu erkennen, sondern schilderte den zwischenzeitlich erschienenen Polizeibeamten, er habe den Unfall als am Fahrbahnrand befindlicher Fußgänger beobachtet. Er machte Angaben zum Unfallhergang, wobei er allerdings in seiner Schilderung des Geschehens seine eigene Unfallbeteiligung durch die eines vermeintlich unbekannten Fahrers ersetzte.

Schließlich verließ A den Unfallort zu Fuß. Ob dies zu einem Zeitpunkt geschah, als noch Polizeibeamte vor Ort waren, oder ob er das Ende des Einsatzes abwartete und erst fortging, als keine andere Person mehr anwesend war, lässt sich nicht feststellen. Jedenfalls hatte er bis zu diesem Zeitpunkt niemandem etwas von seiner Unfallbeteiligung mitgeteilt.

 

Strafbarkeit des A wegen § 142 StGB?

 

B. Die Entscheidung des BGH (Beschl. v. 11.4.2018 – 4 StR 583/17)

Strafbarkeit wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 142 I Nr. 1 StGB

Indem A den Unfallort zu Fuß verließ, könnte er sich wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 142 I Nr. 1 StGB strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

Gemäß § 142 I Nr. 1 StGB müsste sich A nach einem Unfall im Straßenverkehr als Unfallbeteiligter vom Unfallort entfernt haben, bevor er zugunsten der anderen Unfallbeteiligten und der Geschädigten die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die Angabe, dass er an dem Unfall beteiligt ist, ermöglicht hat. Diese Voraussetzungen liegen vor.

Ob der Tatbestand aber auch dann erfüllt ist, wenn sich der Unfallbeteiligte als Letzter vom Unfallort entfernt, ist bislang in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt worden.

Zunächst stellt der BGH den Meinungsstand dar:

„Nach der vom Oberlandesgericht Hamm – allerdings bislang nicht tragend entschieden – und dem ganz überwiegenden Schrifttum vertretenen Auffassung ist der Tatbestand des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB auch dann erfüllt, wenn der Täter den Unfallort erst nach der feststellungsberechtigten Person verlässt, sofern er zuvor seine Vorstellungspflicht verletzt hat (vgl. OLG Hamm, NJW 1979, 438; Fischer, StGB, 65. Aufl., § 142 Rn. 31a; Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., § 142 Rn. 18; MüKo-StGB/Zopfs, 3. Aufl., § 142 Rn. 62; MüKo-StVR/ Schwerdtfeger, § 142 StGB Rn. 61; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 29. Aufl., § 142 Rn. 43; Rengier, Strafrecht BT II, 19. Aufl., § 46 Rn. 20; Bernsmann, NZV 1989, 49, 53; Berz, DAR 1975, 309, 311; Horn/Hoyer, JZ 1987, 965, 971; Janiszewski, JR 1983, 506, 507 f.; Küper, GA 1994, 49, 68; ders., JuS 1988, 286, 288 f.).

bb) Nach der Gegenansicht, die insbesondere vom Bayerischen Obersten Landesgericht vertreten wurde, scheidet in einer solchen Fallkonstellation eine Strafbarkeit nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB aus.

Das Bayerische Oberste Landesgericht hat hierzu ausgeführt: Nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB sei das Verlassen der Unfallstelle nur strafbar, wenn sich der Unfallbeteiligte vom Unfallort entferne, solange es ihm noch möglich sei, seine Vorstellungspflicht gegenüber (anwesenden) feststellungsbereiten Personen zu erfüllen. Die Vorstellungspflicht sei sinnlos, wenn der feststellungsberechtigte Unfallgegner nicht mehr am Unfallort zugegen sei; ein Sich Entfernen durch den Unfallbeteiligten zu diesem Zeitpunkt könne keine Feststellungen mehr vereiteln und sei nicht geeignet, die Interessen der feststellungsberechtigten Person weiter zu beeinträchtigen. Es führe daher nicht zu einer Strafbarkeit nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB, wenn der Täter die Unfallstelle erst nach den feststellungsbereiten Personen verlasse. Sonst müsste ein Unfallbeteiligter in einem solchen Fall – gegebenenfalls zeitlich unbegrenzt – am Unfallort verharren, um sich nicht strafbar zu machen. Allerdings könne sich noch eine Strafbarkeit gemäß § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB ergeben, sollten die gebotenen Feststellungen durch den Unfallbeteiligten nicht unverzüglich nachträglich ermöglicht werden (BayObLG, NJW 1983, 2039, 2040; NJW 1984, 66, 67; NJW 1984, 1365, 1366).

Dieser Auffassung haben sich das Oberlandesgericht Frankfurt am Main sowie einzelne Autoren im Schrifttum angeschlossen (vgl. OLG Frankfurt, NJW 1990, 1189, 1190; SK-StGB/Rudolphi/Stein, 8. Aufl., § 142 Rn. 29; BeckOK-StGB/Kudlich, Stand: 1. Februar 2018, § 142 Rn. 25; Bauer, NStZ 1985, 301, 302).“

Der BGH stellt zunächst auf den Wortlaut ab, wonach es genüge, dass der Täter sich entferne, „bevor“ er die gebotenen Feststellungen ermöglicht hat. In welcher Reihenfolge, die Unfallbeteiligten den Unfallort verlassen, sei danach irrelevant:

„aa) Der Wortlaut des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt nicht voraus, dass der Feststellungsberechtigte noch am Unfallort anwesend ist, wenn sich der Täter von dort entfernt. Erforderlich ist nach dem Wortlaut nur, dass sich der Täter entfernt, „bevor“ er die gebotenen Feststellungen ermöglicht hat. Da der Tatbestand gerade an die Verletzung der Vorstellungspflicht anknüpft, ist das Merkmal „bevor“ so zu verstehen, dass der Täter den Unfallort verlassen haben muss, ohne zuvor die gebotenen Feststellungen ermöglicht zu haben (vgl. MüKo-StGB/Zopfs, 3. Aufl., § 142 Rn. 62; Rengier, Strafrecht BT II, 19. Aufl., § 46 Rn. 20; Küper, JuS 1988, 286, 289; ders., GA 1994, 49, 68 f.). Damit setzt die Vorschrift des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB ihrem Wortlaut nach eine Verletzung der Vorstellungsplicht voraus, zu der – faktisch – ein Sich-Entfernen hinzukommen muss (vgl. Küper, GA 1994, 49, 68 f.). Hierfür ist es jedoch ohne Bedeutung, in welcher Reihenfolge die Unfallbeteiligten den Unfallort verlassen und ob der Täter im Zeitpunkt seines Sich-Entfernens die Pflicht noch gegenüber einer anwesenden Person hätte erfüllen können.“

 

Die Erfassung auch desjenigen als Täter, der sich als Letzter vom Unfallort entfernt, entspreche dem Willen des Gesetzgebers bei Einführung des § 142 I Nr. 1 StGB durch das 13. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13. Juni 1975:

„Danach sollten solche Verhaltensweisen pönalisiert werden, bei denen der Schädiger „zwar pflichtgemäß gewartet, sich aber nicht als Unfallbeteiligter zu erkennen gegeben hat“ (BT-Drucks. 7/2434, S. 7). Dies ist jedoch auch der Fall, wenn der Täter so lange am Unfallort wartet, bis sich ein zunächst anwesender feststellungsberechtigter Unfallgegner entfernt hat. Zudem stellt die Gesetzesbegründung ausdrücklich klar, dass sich der Unfall-beteiligte – ausnahmsweise – dann entfernen darf, wenn sich der Unfallgegner selbst durch Unfallflucht der Aufnahme des Unfalls entzogen hat (vgl. BT-Drucks. 7/2434, S. 7); dieser Klarstellung hätte es nicht bedurft, wenn mit dem Verlassen des Unfallorts durch den Unfallgegner stets eine Strafbarkeit ausgeschlossen wäre.“

 

Auch gesetzessystematische Erwägungen würden dafür sprechen, dass § 142 I Nr. 1 StGB auch denjenigen Unfallbeteiligten erfasst, der nach Verletzung seiner Vorstellungspflicht den Unfallort als Letzter verlässt:

„Ein solches Verhalten wäre – eine Straffreiheit nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB unterstellt – nämlich von keiner anderen Tatbestandsvariante des § 142 StGB erfasst. Anders als teilweise angenommen wurde (vgl. BayObLG, NJW 1984, 1365, 1366), unterfiele diese Fallgestaltung insbesondere nicht der Vorschrift des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Denn die letztgenannte Tatbestandsvariante setzt voraus, dass sich der Täter „berechtigt“ oder „entschuldigt“ vom Unfall-ort entfernt hat. Ein solcher Fall liegt – insbesondere mangels Eingreifens eines Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrundes (vgl. zu den Anwendungsfällen des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB im Einzelnen MüKo-StGB/Zopfs, 3. Aufl., § 142 Rn. 98 ff.; SSW-StGB/Ernemann, 3. Aufl., § 142 Rn. 38 ff.) – aber nicht vor, wenn sich ein Unfallbeteiligter nach Verletzung seiner Vorstellungspflicht schlicht als Letzter vom Unfallort entfernt. Einer Anwendung des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB auf solche Fälle steht das Analogieverbot entgegen (vgl. zum un-vorsätzlichen Entfernen vom Unfallort BGH, Beschluss vom 15. November 2010 – 4 StR 413/10, NStZ 2011, 209, 210 im Anschluss an BVerfG, NJW 2007, 1666).

Es bestünde aber ein erheblicher Wertungswiderspruch, wenn sich ein Unfallbeteiligter, der sich nach Ablauf der Wartepflicht (§ 142 Abs. 2 Nr. 1 StGB) bzw. berechtigt oder entschuldigt (§ 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB) vom Unfall-ort entfernt hat, bei nicht unverzüglicher nachträglicher Ermöglichung der Feststellungen strafbar machte, hingegen ein Unfallbeteiligter, der sich nach Verletzung seiner Vorstellungspflicht als Letzter vom Unfallort entfernt, endgültig straffrei bliebe.“

 

Schließlich könne es auch nach Sinn und Zweck der Vorschrift des § 142 I Nr. 1 StGB keinen Unterschied machen, in welcher Reihenfolge sich die Unfallbeteiligten vom Unfallort entfernen:

„Das Schutzgut des § 142 StGB besteht in der Sicherung bzw. Abwehr der durch einen Unfall entstandenen zivilrechtlichen Ansprüche (vgl. BT-Drucks. 7/2434, S. 4 f.; BGH, Urteil vom 17. September 1958 – 4 StR 165/58, BGHSt 12, 253, 258; LK-StGB/Geppert, 12. Aufl., § 142 Rn. 1; MüKo-StGB/Zopfs, 3. Aufl., § 142 Rn. 2; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 29. Aufl., § 142 Rn. 1a). Dieses Schutzgut ist auch dann betroffen, wenn sich der Täter erst nach der feststellungsberechtigten Person vom Unfallort entfernt, sofern er zuvor seine Vorstellungspflicht verletzt hat. Gerade die Nichterfüllung der Vorstellungspflicht führt typischerweise dazu, dass sich der Feststellungsberechtigte entfernt, obwohl noch ein – ihm in dieser Eigenschaft allerdings nicht bekannter – anderer Unfallbeteiligter vor Ort ist.

Der als letzter am Unfallort verbleibende Unfallbeteiligte wäre schließlich auch nicht gezwungen, zeitlich unbegrenzt am Unfallort zu verharren, um sich nicht strafbar zu machen. Ihm verbleibt vielmehr ohne Weiteres die Möglichkeit, feststellungsbereite Personen – insbesondere die Polizei – zum Unfallort herbeizurufen, um sich mittels nachgeholter Erfüllung seiner Vorstellungspflicht straffrei vom Unfallort entfernen zu können.“

A handelte auch vorsätzlich. Der Tatbestand des § 142 I Nr. 1 StGB ist damit erfüllt.

II. Rechtswidrigkeit und Schuld

A handelte rechtswidrig und schuldhaft.

 

III. Ergebnis

A hat sich wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 142 I Nr. 1 StGB strafbar gemacht.

 

C. Fazit

Der BGH entscheidet, dass der Tatbestand des § 142 I Nr. 1 StGB auch dann erfüllt sei, wenn der Täter den Unfallort erst nach der letzten feststellungsberechtigten Person verlässt, sofern er zuvor seine Vorstellungspflicht verletzt hat. Damit entscheidet er zugleich eine praxis- und ausbildungsrelevante Frage.

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