Gaszug-Fall

A. Sachverhalt

Der Kläger erwarb im Februar 1976 bei dem Autohaus L. in Pf. einen Pkw, der in dem beklagten Automobil-Konzern hergestellt wurde.

An diesem Fahrzeug funktionierte der Gaszug nicht einwandfrei. Nach Betätigung des Gaspedals bewegte sich dieses nicht immer wieder in die Ausgangsstellung zurück. Der Verkäufer versuchte am 12. Mai 1976 erfolglos eine Reparatur. Im Juni 1976 baute er, nachdem der Gaszug gerissen war, einen neuen, aber von ihm selbst gefertigten ein.

Am 5. Juli 1976 verursachte der Kläger mit dem Fahrzeug in B. einen Auffahrunfall, weil, wie er behauptet hat, der Wagen trotz Wegnahme des Fußes vom Gaspedal weiter beschleunigte. Damals wurde der Pkw an der Frontseite beschädigt. Nach dem Unfall ließ der Kläger den Wagen reparieren und einen neuen Originalgaszug einbauen. Wenige Wochen später stieß die damalige Verlobte (und jetzige Ehefrau) des Klägers mit dem Fahrzeug beim Rückwärtsfahren gegen einen Zaun. Auch in diesem Falle soll nach der Behauptung des Klägers eine von der Fahrzeugführerin unerwartete Beschleunigung durch Hängenbleiben des Gaszugs eingetreten sein. Der Pkw wurde nun an der Rückfront beschädigt. An Reparaturkosten für das eigene Fahrzeug wendete der Kläger nach den beiden Unfällen insgesamt 3 742,07 DM auf.

Der Kläger hat unter Hinweis auf zwei von ihm eingeholte Gutachten behauptet, der Gaszug bleibe deshalb häufig hängen, weil die Tastrolle, die die Kurvenscheibe abtaste, abgeflacht sei, die Scheibe sich darauf festsetze und dann nicht mehr durch die Rückholfeder zurückgeholt werden könne. Außerdem habe die Kurvenscheibe, die auf die Drosselklappenwelle am Ende aufgenietet sei, zu viel Spiel und rufe dadurch eine Verkantung hervor - mit der Folge, dass sich der Gaszug in der Gaszughülle verklemme.

Der Kläger hält die Beklagte ihm gegenüber für schadensersatzpflichtig, weil die Schäden seiner Meinung nach auf einen Fabrikationsfehler zurückgehen. Er hat von der Beklagten Ersatz der Reparaturkosten für den eigenen Wagen und den beschädigten Gartenzaun sowie der Kosten für die beiden Gutachten, insgesamt 4 443,20 DM, verlangt.

B. Worum geht es?

Im Mittelpunkt des Falles steht die Problematik des sogenannten Weiterfresserschadens (oder weiterfressenden Mangels): Wann können einem Käufer Ansprüche aus § 823 I BGB zustehen, wenn eine Sache schon bei Eigentumserwerb mangelhaft ist, der Sachmangel sich aber anschließend weiter in der Sache ausbreitet (und sich damit „weiterfrisst“)? Denn ein Anspruch aus § 823 I BGB setzt voraus, dass das Eigentum verletzt wurde. Nun könnte man argumentieren, dass der Käufer niemals mangelfreies Eigentum erworben hat, weswegen eine Eigentumsverletzung im Sinne von § 823 I BGB ausscheidet. Betroffen wäre dann nicht das –von § 823 I BGB geschützte – Integritätsinteresse des Käufers, sondern nur sein über den Kaufvertrag zu liquidierendes Äquivalenzinteresse.

Der VIII. Zivilsenat hat im Schwimmerschalter-Fall, in dem der Schwimmerschalter einer Reinigungsanlage wegen eines Defekts seine Sicherungsaufgabe nicht wahrnehmen konnte, sodass die Anlage wegen Überhitzung in Brand geriet, die Gewährung deliktischer Schadensersatzansprüche im Wesentlichen darauf gestützt, dass der mangelhafte Schalter funktionell begrenzt und sein Wert gegenüber dem Gesamtwert der Anlage nur geringfügig war. Der BGH hat es in jener Entscheidung indes ausdrücklich abgelehnt, weitere Abgrenzungskriterien zu definieren. Der BGH hatte damit die folgende Frage zu beantworten:

„Nach welchen Kriterien bestimmt sich im Fall eines Weiterfresserschadens die Abgrenzung zwischen Äquivalenz- und Integritätsinteresse?“

 

C. Wie hat der Bundesgerichtshof entschieden?

Der BGH bejaht im Gaszug-Fall (Urt. v. 18.1.1983 – VI ZR 310/79 (BGHZ 86, 256 ff.)) einen deliktischen Schadensersatzanspruch aus § 823 I BGB. Dem Käufer einer Sache können gegen deren Hersteller auch dann deliktische Schadensersatzansprüche aus Eigentumsverletzung zustehen, wenn diese Sache nach ihrem Erwerb infolge eines fehlerhaft konstruierten oder mit Herstellungsfehlern versehenen Einzelteils beschädigt wird. Für deliktische Schadensersatzansprüche ist jedoch kein Raum, wenn sich der geltend gemachte Schaden mit dem Unwert, welcher der Sache wegen ihrer Mangelhaftigkeit von Anfang an anhaftete, deckt.

 

Der BGH stellt zunächst dar, dass das Delikts- und Vertragsrecht unterschiedliche Schutzrichtungen verfolgen. Während das Vertragsrecht das Äquivalenzinteresse schütze, sei das Deliktsrecht darauf aus, das Integritätsinteresse zu schützen:

„Deliktische Verkehrspflichten haben freilich nicht - wie etwa die Gewährspflichten des Kaufrechts - zum Inhalt, auf den Erwerb einer mangelfreien Kaufsache gerichtete Vertragserwartungen, insbesondere Nutzungs- und Werterwartungen, zu schützen (das Nutzungs- und Äquivalenzinteresse; vgl. BGHZ 77,215,218 m. Nachw.; 80,186,188). Sie sind vielmehr auf das Interesse gerichtet, das der Rechtsverkehr daran hat, durch die von dem Hersteller in Verkehr gegebene Sache nicht in seinem Eigentum oder Besitz verletzt zu werden (das Integritätsinteresse). Deliktische Pflichten zum Schutz vor Beschädigung oder Zerstörung können dem Hersteller aber nicht nur in bezug auf durch Konstruktions- oder Herstellungsmängel gefährdete andere Sachen des Erwerbers, sondern auch zur Erhaltung der von ihm hergestellten Sache selbst aufgegeben sein. Grundsätzlich ist das Interesse des Erwerbers an der Bewahrung der erworbenen Sache vor ihrer Beschädigung oder Zerstörung nicht weniger schutzwürdig als sein Integritätsinteresse an seinen anderen, nicht von dem Hersteller stammenden Sachen; auch diesem Interesse hat der Hersteller deshalb grundsätzlich Rechnung zu tragen (vgl. auch Brüggemeier WM 1982,1294,1303). Voraussetzung für eine außervertragliche Haftung ist es daher nicht, daß das Inverkehrbringen der mit einem Teilmangel behafteten Sache auf jeden Fall auch andere Rechtsgüter des Produktbenutzers oder Dritter gefährdet (so aber Schlechtriem, Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, herausgegeben vom Bundesminister der Justiz, Bd. II S. 1591,1666). Verwirklicht sich in der Beschädigung oder Zerstörung der vom Hersteller geschaffenen Sache ein Schaden, den zu vermeiden ihm im Integritätsinteresse des Eigentümers oder Besitzers des Produkts durch eine deliktische Sorgfaltspflicht aufgegeben ist, dann kann der Hersteller deshalb ihm gegenüber aus Delikt schadensersatzpflichtig sein.“

 

Das Deliktsrecht greife daher in Fällen nicht ein, in denen es um einen Schaden geht, der lediglich den auf ihrer Mangelhaftigkeit beruhenden Unwert der Sache für das Nutzungs- und Äquivalenzinteresse des Erwerbers ausdrückt. Wo der Schaden mit der im Mangel verkörperten Entwertung der Sache für das Äquivalenz- und Nutzungsinteresse „stoffgleich“ ist, scheiden Ansprüche aus § 823 I BGB aus; sie kommen nur dort in Betracht, wo der Weiterfresserschaden nicht stoffgleich ist mit dem Mangel:

„Denn die deliktischen Verkehrspflichten sind, wie schon gesagt, grundsätzlich nicht darauf gerichtet, die Erwartung des Käufers zu schützen, Wert und Nutzungsmöglichkeit einer mangelfreien Sache zu erhalten; der Schutz dieser Erwartung ist - von hier nicht vorliegenden Sonderfällen vorsätzlicher Schädigung i.S. von § 826 BGB abgesehen - allein Aufgabe der Vertragsordnung. Es geht deshalb nicht an, mittels einer juristischen Konstruktion, die in dem Erwerb einer mangelhaften Sache eine Eigentumsverletzung sieht, den Schutz solcher Interessen der Deliktsordnung zuzuführen; es ist vielmehr allgemein anerkannt, daß ein solcher Schaden nicht deliktische Ersatzansprüche auslösen kann (so schon RG JW 1905,367,368; vgl. BGHZ 39,366; 55,392,398; 67,359,364; BGH Urteile vom 11. Januar 1978 - VIII ZR 1/77 - NJW 1978,1051; vom 5. Juli 1978 - VIII ZR 172/77 - NJW 1978,2241,2242). Deckt sich der geltend gemachte Schaden mit diesem Unwert, welcher der Sache wegen ihrer Mangelhaftigkeit von Anfang an schon bei ihrem Erwerb anhaftete, dann ist er allein auf enttäuschte Vertragserwartungen zurückzuführen, und es ist insoweit für deliktische Schadensersatzansprüche kein Raum (so schon Dunz/Kraus, Haftung für schädliche Ware 1969,66). Wo dagegen der Schaden nicht mit der im Mangel verkörperten Entwertung der Sache für das Äquivalenz- und Nutzungsinteresse »stoffgleich« ist, kann sich im Schaden (auch) das verletzte Integritätsinteresse des Eigentümers oder Besitzers, zu dessen Schutz der Hersteller nach den Umständen verpflichtet ist, niederschlagen; dieser kann dann grundsätzlich auch von der deliktischen Herstellerhaftung aufgefangen werden, selbst wenn mit dieser vertragliches Gewährleistungs- oder Ersatzrecht konkurriert (vgl. dazu Steffen in BGB-RGRK 12. Aufl. Rdnr. 39 vor § 823; MünchKomm/Mertens § 823 Rdnr. 86; Lang, Zur Haftung des Warenlieferanten bei »weiterfressenden« Mängeln im deutschen und anglo-amerikanischen Recht, 1981, S. 181; Schlechtriem aaO). Denn es ist ebenfalls anerkannt, daß insoweit die Deliktsordnung nicht von der Vertragsordnung verdrängt wird und umgekehrt. Grundsätzlich folgt jede Haftung den eigenen Regeln (BGHZ 67,359,362; St. Rspr.).

Zwar darf die Deliktshaftung nicht dazu führen, die Vertragsordnung aus den Angeln zu heben; bei richtiger Beschränkung der Deliktshaftung auf die Integritätsinteressen und gegebenenfalls deren wertender Ausgrenzung gegenüber den Nutzungs- und Äquivalenzinteressen des Betroffenen ist das aber hier nicht der Fall. Anderes folgt insbesondere auch nicht daraus, daß die Rechtsprechung wegen sogenannter Mangelfolgeschäden aufgrund positiver Vertragsverletzung eine Ersatzpflicht nur anerkennt, soweit der Käufer Schäden an anderen Schutzgütern als an der Kaufsache selbst erlitten hat (BGHZ 77,215,217; zum Werkvertrag entsprechend BGH Urteil vom 4. März 1971 - VII ZR 40/70 - NJW 1971,1131 - insoweit nicht in BGHZ 55,392 abgedruckt). Anliegen dieser Erweiterung der kaufrechtlichen Gewährleistung (§§ 459 ff BGB) durch die Rechtsprechung ist es, durch eine Haftung aus Sonderverbindungen den deliktischen Integritätsschutz zu verstärken, nicht ihn auszuschließen. Eine Deliktshaftung - sei es des Lieferanten, sei es des Herstellers - für Schäden, die auf Mängel der Kaufsache zurückzuführen sind, wird dadurch nicht verdrängt (anders offenbar Diederichsen NJW 1978,1281,1286; Vogt VersR 1979,896; Reinking/Eggert, Der Autokauf, 1979, S. 161).“

 

Der BGH erkennt, dass die Abgrenzung Schwierigkeiten machen muss, wann wegen „Stoffgleichheit“ des geltend gemachten Schadens mit einem der Sache von Anfang an anhaftenden Mangelunwert dessen Ausgleich allein nach Vertragsrecht überlassen bleiben muss und wann die Beschädigung oder Zerstörung der Sache ein über das Äquivalenzinteresse hinausgehendes und deshalb der Deliktshaftung zugängliches Integritätsinteresse ihres Eigentümers verletzt. Er meint, dass es hier vielfach auf eine „natürliche bzw. wirtschaftliche Betrachtungsweise“ ankomme:

„Fallgestaltungen, in denen der Mangel die Sache von vornherein derart ergreift, daß sie von Anfang an insgesamt wertlos ist und schon deshalb solche »Stoffgleichheit« bejaht werden muß, wenn der Mangel später in der Zerstörung oder »Beschädigung« der Sache offen zu Tage tritt (vgl. etwa die Fälle in RG JW 1905,367 und BGHZ 39,366), werden seltener sein; weit häufiger wird es um Fälle gehen, in denen der Mangel zunächst nur einem mehr oder weniger begrenzten Teil der Sache anhaftet. Doch müssen dafür Abgrenzungskriterien gefunden werden, die für die Praxis brauchbar sind (so mit Recht Schmidt-Salzer BB 1979,1,10).

Die Frage, ob »Stoffgleichheit« zwischen dem geltend gemachten Schaden und dem von Anfang an der Sache anhaftenden Mangelunwert besteht, kann vielfach schon durch eine natürliche bzw. wirtschaftliche Betrachtungsweise beantwortet werden (so offenbar auch Löwe BB 1978,1495,1496). Diese Frage muß danach z. B. in den Fällen bejaht werden, in denen das mit dem Fehler behaftete Einzelteil mit der Gesamtsache bzw. dem später beschädigten (zunächst aber einwandfreien) anderen Teil zu einer nur unter Inkaufnahme von erheblichen Beschädigungen trennbaren Einheit verbunden ist (BGH Urteil vom 24. Juni 1981 - VIII ZR 96/80 - NJW 1981,2248,2249), sowie in den Fällen, in denen der Mangel nicht in wirtschaftlich vertretbarer Weise behoben werden kann (eine Voraussetzung, die in dem vom VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes durch Urteil vom 25. Mai 1972 - VII ZR 165/70 - BauR 1972,379 entschiedenen Fall möglicherweise schon deshalb erfüllt war, weil die gesamte erweiterte Anlage zu schwach angelegt war). Etwa noch verbleibende Abgrenzungsschwierigkeiten müssen von Fall zu Fall nach Maßgabe der unter 1b dargelegten Grundsätze wertend gelöst werden, wobei Art und Ausmaß des geltend gemachten Schadens und des diesem zugrunde liegenden Mangels sowie dessen Bedeutung für die Erhaltung der Sache, sowie der Inhalt der Verkehrspflichten des Herstellers, die sich in diesen Faktoren widerspiegeln, berücksichtigt werden (vgl. Steffen aaO). Dabei kann es von Bedeutung sein, daß sich die an ihn zu stellenden Anforderungen - wie stets bei der deliktischen Herstellerhaftung - auch nach dem Verwendungszweck des Produkts und der Verbrauchererwartung, unter Umständen sogar nach dem Kaufpreis, richten (vgl. Schmidt-Salzer aaO S. 9 li. Sp.).“

 

 

D. Fazit

Nachdem der BGH im Schwimmerschalter-Fall einen Anspruch auf Ersatz eines Weiterfresserschadens aus § 823 I BGB unter Hinweis auf die „funktionelle Begrenztheit des Mangels“ bejaht hatte, stellt er nunmehr auf die fehlende Stoffgleichheit ab. Dieses Abgrenzungskriterium sollte für Studium und Examen bekannt sein.