Ingerenz-Fall

A. Sachverhalt

Der Angeklagte fuhr in der Nacht zum 1. Oktober 1971 nach Alkoholgenuss mit seinem Personenkraftwagen auf der B 26 bei nebeligem Wetter mit einer Geschwindigkeit von etwa 50 km/h den in gleicher Richtung gehenden, sein Fahrrad rechts neben sich herschiebenden, erheblich angetrunkenen Hans D. an und verletzte ihn schwer. Dass er irgendwie schuldhaft zu diesem Unfall beigetragen hat, ist nicht erwiesen, auch nicht, dass er fahruntüchtig war oder sich sonst vorschriftswidrig verhalten hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass D. “so kurz vor dem Angeklagten in dessen Fahrbahn hineinlief oder hineinschwankte, dass der Unfall für den Angeklagten bei den gegebenen Umständen unvermeidbar war” (UA 77). Der Angeklagte hielt an, lief etwa 25-30 m auf der Straße zurück und rief laut “Hallo”, als er niemanden sah. Da er keine Antwort erhielt, setzte er einige Minuten später seine Fahrt fort, obwohl er auch weiterhin damit rechnete, einen Menschen angefahren und so schwer verletzt zu haben, dass dieser möglicherweise hilflos auf der Fahrbahn lag und deshalb auf der stark befahrenen Straße durch andere Kraftfahrzeuge in erhebliche Gefahr geriet; damit, dass dieser Mensch tödlich verletzt werden könnte, rechnete er nach seiner insoweit unwiderlegten Einlassung nicht. D., der - zunächst bewusstlos - quer auf der rechten Fahrbahn lag und sich infolge seiner Verletzungen auch später nicht allein aus seiner hilflosen Lage befreien konnte, wurde einige Zeit danach, bevor Hilfsmaßnahmen anderer Kraftfahrer wirksam geworden waren, von einem Lastkraftwagen überfahren und tödlich verletzt.

 

B. Worum geht es?

Im Mittelpunkt des Falles steht die Frage der Strafbarkeit des Angeklagten wegen Aussetzung nach § 221 I Nr. 2 StGB.

Der Angeklagte hat D zwar in hilfloser Lage vorsätzlich verlassen (§ 221 I 2. Alt. StGB). Dieser konnte sich nach den Urteilsfeststellungen aus eigener Kraft nicht von der Fahrbahn fortbewegen und war schutzlos den ihm auf der stark befahrenen Bundesstraße drohenden Lebens- und Leibesgefahren preisgegeben, falls ihm nicht ein rettender Zufall zu Hilfe kam. Fraglich war jedoch, ob der Angeklagte - wie § 221 I 2. Alt. StGB außerdem voraussetzt - “für die Fortschaffung (D) zu sorgen” hatte. Es kam also darauf an, ob dem Angeklagten die nach allgemeiner Rechtsauffassung für eine Bestrafung nach dieser Vorschrift erforderliche Garantenstellung zukam. Diese konnte sich nur aus vorangegangenem Tun, nämlich dem Unfallgeschehen, unter dem Gesichtspunkt der sog. Ingerenz ergeben; allerdings hatte der Angeklagte den Unfall selbst nicht schuldhaft verursacht.

Der BGH hatte damit die folgende Frage zu beantworten:

„Kommt eine Garantenpflicht aus Ingerenz auch bei einem nicht pflichtwidrigen oder schuldhaften Vorverhalten in Betracht?”

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH hebt im Ingerenz-Fall (Urt. v. 19.7.1973 – 4 StR 284/73 (BGHSt 25, 218 ff.)) die Verurteilung des Angeklagten wegen Aussetzung auf und ändert insoweit den Schuldspruch ab (§ 354 I StPO analog); dem Angeklagten kam keine Garantenpflicht aus Ingerenz zu.

 

Zunächst stellt der BGH die bisherige Rechtsprechung dar:

„Das Reichsgericht (vgl. RGSt 24, 339; 74, 283, 285) und ihm folgend der Bundesgerichtshof (vgl. BGHSt 2, 279, 283; 11, 353, 355; 19, 152, 154; 23, 327; VRS 13, 120, 123) sind allerdings stets von dem Grundsatz ausgegangen, daß derjenige, der, ob schuldhaft oder schuldlos, durch sein Verhalten die Gefahr eines Schadens geschaffen oder mitgeschaffen hat, rechtlich verpflichtet sei, den Eintritt des Schadens nach seinen Kräften abzuwenden.“

 

Sodann verweist er auf die Literaturansicht:

„Die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall vorangegangenes Tun eine Garantenstellung begründen kann, wird im Schrifttum nicht einheitlich beurteilt. Die Rechtslehre verlangt überwiegend ein pflichtwidriges, wenn auch nicht unbedingt schuldhaftes Vorverhalten (vgl. u.a. Schönke/Schröder, 16. Aufl. Rdn. 119 ff vor § 1 StGB; Welzel, Das Deutsche Strafrecht 11. Aufl. S. 216; Jeschek, Lehrbuch Allg. Teil 2. Aufl. S. 473 ff; Mezger/Blei, Strafrecht Allg. Teil 14. Aufl. S. 89 ff; Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz 1966 S. 177 ff). Es wird aber auch die Auffassung vertreten, daß es auf die Pflichtwidrigkeit nicht ankomme und selbst der in Notwehr Handelnde Garant sei (vgl. u.a. Maurach, Deutsches Strafrecht Allg. Teil 4. Aufl. S. 608; Baumann, Strafrecht Allg. Teil 5. Aufl. S. 237; Herzberg JuS. 1971, 74; vgl. auch Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung 1968 S. 205 ff).“

Der BGH führt nun aus, dass nicht ausnahmslos jeder Beitrag zur Entstehung einer Gefahr eine Garantenpflicht hervorrufen müsse. Dies würde zu einer uferlosen Ausweitung dieser Pflicht und damit auch der strafrechtlichen Vorschriften führen. Weil sich der Angeklagte sozial üblich verhalten hat und ordnungsmäßig gefahren ist und auch nicht gegen sonstige, dem Schutz anderer Verkehrsteilnehmer dienende Regeln verstoßen, hat er in keiner irgendwie gearteten Weise schuldhaft zum Unfall beigetragen. Nichts in seinem Gesamtverhalten bis zum Unfall könnte also von der Allgemeinheit mißbilligt werden. Jedenfalls unter diesen Umständen hat er sich nicht der Aussetzung, sondern (nur) der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB schuldig gemacht. Eine Garantenpflicht könne sich nicht aus einem sozial üblichen und von der Allgemeinheit gebilligten Vorverhalten ergeben:

„Die Rechtsauffassung, daß ein sozial übliches und von der Allgemeinheit gebilligtes Vorverhalten regelmäßig nicht zu einer Garantenstellung führen kann, ist auch schon in anderen Entscheidungen, die das Verhältnis von Zechgenossen zueinander betreffen, zum Ausdruck gekommen (vgl. BGH NJW 1954, 1047; BayObLG NJW 1953, 556; OLG Oldenburg NJW 1961, 1938; OLG Düsseldorf NJW 1966, 1175). Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb sie nicht auch auf das Verhalten im Straßenverkehr Anwendung finden sollte. Zu den allgemein als sozial üblich gebilligten Verhaltensweisen gehört die Benutzung des Öffentlichen Verkehrsraums mit einem Kraftfahrzeug jedenfalls so lange, wie Fahrzeug und Fahrzeugführer nicht mit Mängeln behaftet sind, die andere Verkehrsteilnehmer über die ohnehin von einem in Bewegung befindlichen Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren hinaus gefährden, und solange das Fahrzeug in jeder Hinsicht verkehrsgerecht gehandhabt wird. Ein sich auf solche Weise rechtmäßig verhaltender Kraftfahrer kann billigerweise nicht zum Hüter eines Verkehrsteilnehmers bestellt werden, der, wie hier das Opfer, durch sein verkehrswidriges Verhalten allein schuldhaft die Ursache für den Verkehrsunfall und damit für die eigentliche Gefahr im Sinne des § 221 StGB gesetzt hat. Er müßte andernfalls bei entsprechender Vorstellung sogar wegen Mordes bestraft werden (vgl. auch BGH VRS 13, 120; BGHSt 11, 353, 355). Der andere Verkehrsteilnehmer ist damit keineswegs schutzlos gestellt. Der durch § 330c StGB [a.F., § 323c StGB n.F.] strafbewehrte allgemeine Anspruch auf Hilfeleistung verbleibt ihm (so wie hier oder jedenfalls im Ergebnis auch OLG Celle TOS 41, 98; Schönke/Schröder a.a.O. Rdn. 120 b; Welzel a.a.O. und in JZ 1958, 494; LK 9. Aufl. § 222 StGB Rdn. 6; Mezger/Blei a.a.O.; Rudolphi a.a.O.). Den vom Schwurgericht für seine gegenteilige Auffassung angeführten Entscheidungen BGHSt 7, 287 und TOS 13, 120 liegt ein pflichtwidriges Vorverhalten zugrunde. Die Entscheidung BGHSt 11, 353, 355 betrifft eine andere Rechtsfrage.“

D. Fazit

Unterlassungsdelikte und Garantenpflichten gehören zum Standardwissen des Allgemeinen Teils. Der Ingerenz-Fall sollte daher zum Anlass genommen werden, sich damit erneut oder erstmals vertieft zu befassen.

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